Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam
Abteilung Potsdam
Aktenzeichen Ma./wr.

Potsdam, den 13.6.1953

An den
Stellv. des Chefs der Deutschen Volkspolizei
Genossen Chefinspekteur Grünstein
B e r l i n

Betr.: Protestversammlung vor dem Kreisgericht Brandenburg/Havel am 12.6.1953

Am 12.6.1953 gegen 17.15 Uhr erhielt das VPKA Brandenburg Mitteilung, daß vor dem Kreisgericht Brandenburg/Havel sich ca. 5 - 6 betrunkene Arbeiter der Speditionsfirma "Taege" befinden, die versuchten mit Gewalt ihren im Kreisgerichtsgefängnis einsitzenden Chef (Kurt Taege) zu befreien. Von Seiten des VPKA wurden sofort 4 Offiziere zum Schutze der im Kreisgerichtsgebäude befindlichen Haftanstalt entsandt. Inzwischen hatte sich bereits eine größere Menschenmenge in der Steinstraße eingefunden, die bis um ca. 18.00 Uhr sich auf nahezu 2.000 Menschen belief.

1. Welche Ursachen führten zu diesem Vorkommnis?

Durch den Staatsanwalt wurden im Verlaufe des 12. Juni 1953 eine Reihe von Haftentlassungen aufgrund der Direktive des Ministerrates durchgeführt.

Unter den zu Entlassenden befand sich auch der o.g. Kurt Taege. Es ist anzunehmen, daß durch Angestellte der Staatsanwaltschaft bzw. des Kreisgerichtes der Termin der Entlassung an die Angehörigen des T. bekanntgegeben wurden.

Die Frau des T. erschien in den Vormittagsstunden des 12.6. in der Geschäftsstelle des Kreisgerichtes und erbat einen Sprecherlaubnisschein. Dieser wurde abgelehnt, der Frau wurde jedoch erklärt, daß sie einen Sprecherlaubnisschein für Sonnabend, den 13.6.1953 haben könne, da an diesem Tage ihr Mann Geburtstag habe.

Während also vorher durch Angestellte der Justiz der Frau gesagt wurde, ihr Mann wäre zum Geburtstag zu Hause, entnahm sie aus der Tatsache, daß ihr ein Sprecherlaubnisschein für Sonnabend ausgehändigt wurde, daß eine Entlassung nicht stattfindet. Es wird angenommen, daß sie aus diesem Grunde die in dem ehemaligen Betrieb ihres Mannes beschäftigen Arbeiter aufgefordert hat, ihren Chef abzuholen - außerdem wird angenommen, daß durch die Frau des T. an die Arbeiter Geld bzw. Schnaps usw. spendiert wurde, um sie so zu willigen Werkzeugen zu mißbrauchen.

2. Kurze Schilderung des Vorfalles:

Die 6 Arbeiter begaben sich gegen 16.15 Uhr in völlig betrunkenem Zustand zum Kreisgericht und forderten kategorisch die Freilassung des Taege.

Der Staatsanwalt versuchte die Arbeiter zu beruhigen, wurde dabei jedoch tätlich angegriffen. In dieser Situation überlegte der Staatsanwalt nicht klar genug und drängte mit Hilfe weiterer hinzukommenden Angestellten der Justiz die Arbeiter statt auf den Innenhof der Haftanstalt auf die Steinstraße ab und verschloß die Tür des Kreisgerichts. Das hatte zur Folge, daß die 6 betrunkenen Arbeiter zu dem ebenfalls in der Steinstraße liegenden Gebäude ihrer Firma zurückgingen und sich dort ein Transparent holten.

Es handelte sich um ein Transparent, welches bei der Mai-Demonstration mitgeführt wurde mit der ungefähren Aufschrift: "60 Jahre Fa. Taege".

Mit diesem Transparent zogen sie erneut vor das Gebäude des Kreisgerichts. In der sehr belebten Steinstraße sammelte sich sofort eine große Menschenmenge an, die sich zwischen 17.00 und 18.00 Uhr auf ca. 2.000 erhöhte.

Während bisher die ganze Sache mehr oder weniger spontanen Charakter trug, konnte nun beobachtet werden, daß durch Anhänger der Jungen Gemeinde direkt eine Protestdemonstration organisiert wurde. So wurden in Form von Sprechchören Forderungen auf die Entlassung des T. gestellt sowie Hetzreden gegen die Organe der Justiz usw. geführt.

Aufgrund der großen Menschenansammlung kam es in der Steinstraße zu solchen Verkehrsstockungen, daß selbst die Straßenbahn nicht mehr verkehren konnte.

Gegen 19.00 Uhr waren aufgrund des Einsatzes von Agitatoren der größte Teil der Menschen weggegangen und es bleiben ca. 7-800 übrig.

3. Eingeleitete Maßnahmen:

Nach Bekanntwerden des Vorfalles wurde von Seiten des Amtsleiters, Gen. Oberrat Dohnau, mit der Kreisleitung der Partei, Genossen Frick, Rücksprache genommen. Es kamen sofort Agitatoren (ca. 80 - 90) aus den Großbetrieben zum Einsatz, mit deren Hilfe es zunächst gelang, die größte Menge zum Weitergehen zu veranlassen.

Weil damit zu rechnen war, daß nach Entlassung des T. derselbe evtl. von seinen Anhängern begeistert gefeiert und die Tatsache der Entlassung zu einer weiteren Ausbreitung des gesamten Vorfalles werden würde, wurde derselbe auf Veranlassung des Amtsleiters mit dem Gefangenentransportwagen außerhalb des Stadtgebietes von Brandenburg (Nähe Hohenstücken), wo T. ein Gartengrundstück hatte, gebracht. In Begleitung des T. befand sich dessen Frau sowie der Rechtsanwalt Dr. Persicke.

Von einem massierten Einsatz von VP-Kräften wurde Abstand genommen, um weitere Provokationen zu vermeiden.

Die VP führte im wesentlichen die Aufgaben der Sicherung der Haftanstalt und der Regelung des Verkehrs durch. Eine Einsatzreserve befand sich in der Nähe der Steinstraße, weitere Einsatzkräfte standen bei der KVP-Dienststelle Hohenstücken bereit.

Von Seiten der Kreisleitung wurde in Häusern der Steinstraße ein Beobachtungs- und Meldedienst organisiert, der ständig Situationsmeldungen an die Kreisleitung gab. Dadurch waren die Möglichkeiten eines richtigen und wirksamen Einsatzes aller Kräfte gegeben.

Bei der Festlegung der Maßnahmen gingen die verantwortlichen Genossen davon aus, es zu keinerlei Provokationen kommen zu lassen. Die Tatsache, daß die Volkspolizei nicht im größeren Maße in Erscheinung trat, wurde von einigen Genossen nicht richtig verstanden. Die Genossen wurden jedoch entsprechend aufgeklärt.

4. Weiterer Verlauf:

Nachdem die Anhänger der Jungen Gemeinde immer mehr organisiert in Erscheinung traten, konzentrierten sie sich in erster Linie auf die Isolierung der eingesetzten Agitatoren.

Wo ein Genosse festgestellt wurde, der versuchte die Bevölkerung aufzuklären, wurde er sofort von einer Gruppe von jeweils 6 - 8 Anhängern der Jungen Gemeinde (die teilweise das Kugelkreuz trugen) eingekreist und angerempelt. Dabei kam es vereinzelt zu kleineren Schlägereien. Die Gen. Agitatoren hielten jedoch in der Mehrzahl eine mustergültige Disziplin, so daß größere Schlägereien nicht entstehen konnten.

Gegen 20.00 Uhr wurde in der Nähe des Kreisgerichts der 1. Sekretär der FDJ niedergeschlagen und so verletzt, daß er von einem Genossen in das in der Steinstrasse gelegene Jugendclubhaus "Philipp Müller" gebracht werden mußte. Dies war der Anlaß dazu, daß die Anhänger der Jungen Gemeinde förmlich einen Sturm auf das Jugendclubhaus organisierten. Hier lag ein taktischer Fehler seitens der VP darin, daß man nicht rechtzeitig erkannte, daß die Junge Gemeinde zweiffellos mit Angriffen gegen die FDJ beginnen würde, so war das Jugendclubhaus nur ungenügend gesichert.

Vor dem Jugendclubhaus waren ca. 500 Personen versammelt. Kleinere Gruppen von 30-50 Personen befanden sich beim Kreisgericht und bei der Wohnung des Taege. Aus der Wohnung des Taege heraus wurde durch eine Schwägerin des T. auf die Menschen eingeredet, vermutlich wurde so versucht, weitere Zwischenfälle zu provozieren, zu denen es jedoch nicht kam. Ab 19.00 Uhr wurde veranlaßt, daß in der Steinstrasse ständig Lkw's der Großbetriebe und des Konsum im Pendelverkehr fuhren, so daß dadurch weitere größere Menschenansammlungen erschwert wurden.

Gegen 21.00 Uhr war die Steinstrasse bis auf kleinere Gruppen frei, die sich ebenfalls anschließend auflösten.

5. Einige Schlußfolgerungen:

  1. Aus geführten Diskussionen konnte entnommen werden, daß man beabsichtigt, am 13.6. mit ähnlichen Provokationen in Erscheinung zu treten. Außerdem wurde von einigen Elementen, die sich auf den Dächern von Häusern befanden, welche an die Haftanstalt grenzten, die Freilassung weiterer Häftlinge gefordert.
    Für Sonnabend, den 13.6., wurden folgende Maßnahmen getroffen:
    Durch die Kreisleitung der Partei wurde veranlaßt, daß in den Vormittagsstunden in allen Grossbetrieben Agitatoren bereitgestellt werden.
    Für den Nachmittag wurde organisiert, daß sich eine ständige stärkere Bereitschaft von Agitatoren im Gebäude der Kreisleitung befindet.
    Durch die VP wurde veranlaßt, daß an solchen Punkten, wo mit ähnlichen Provokationen zu rechnen ist, unmittelbar Einsatzreserven stationiert werden (Jugendclubhaus, Kreisgericht usw.).
    Weiterhin werden an übersichtlichen Stellen Beobachtungsposten (Angehörige der Abtlg. K) stationiert, die sofort die Situation einschätzen und entsprechende Meldungen geben können. Besonders wurde die Beobachtung des in den Vormittagsstunden stattfindenden Bauernmarktes angewiesen.
    Die einzelnen Beobachtungsposten wurden mit Fernsprechapparaten versehen.
    Durch die BDVP wurde eine zusätzliche Einsatzreserve von 35 Genossen der VP nach Brandenburg entsandt. Es ist vorgesehen, je nach der konkreten Situation evtl. kleinere Gruppen bereits im Keimzustand aufzulösen, um eine Ausbreitung zu verhindern.
    Besonderes Augenmerk wird auf die am 12.6.1953 offensichtlich in Erscheinung getretenen Meldefahrer (mit Westfahrrädern) gelegt.
    Weitere Sicherungsmaßnahmen wurden durch die Dienststelle MfS in Angriff genommen.
  2. Für die Staatsanwaltschaft ergibt sich aus diesem Vorfall die Schlußfolgerung, in keinem Falle Auskunft über Haftentlassungen zu geben. Weiterhin ist es notwendig, Haftentlassungen nicht während des Tages (Hauptverkehrszeiten), sondern entweder in den frühen Morgenstunden (3.00-4.00 Uhr) oder in den späten Abendstunden vorzunehmen. Das macht sich auch deshalb erforderlich, weil festgestellt wurde, daß bei Entlassungen die Häftlinge aus Privatwohnungen heraus fotographiert wurden.
  3. Mit den Kreisamtsleitern des Bezirkes Potsdam wird umgehend Rücksprache genommen, um ähnliche Vorkommnisse in anderen Kreisen zu vermeiden.


Anmerkung:

Der aus der Haft entlassene Taege wurde gegen Mitternacht des 12.6.1953 in seine Wohnung gebracht. Er wurde ernsthaft darauf hingewiesen, mit den Angehörigen seines Betriebes dahingehend zu sprechen, daß sie von derartigen Provokationen Abstand nehmen sollen, da die Organe der Staatsmacht einem solchen Treiben nicht untätig zusehen werden. Dies machte sich deshalb erforderlich, weil T. am 13.6.1953 Geburtstag hat und irgendwelche Begrüßungsaktionen zu erwarten sind.

Bei T. handelt es sich um einen alteingesessenen Brandenburger Fuhrunternehmer, der einen großen Bekanntenkreis hat.

Es wird vorgeschlagen, an die verantwortlichen Kirchenleitungen heranzutreten und sie ernsthaft auf solche Machenschaften der Jungen Gemeinde hinzuweisen, da sich bekanntlich die Kirchenleitung für die Junge Gemeinde intensiv eingesetzt hat und sie als einen Teil der Kirche betrachtet.

Stellv. des Chefs der BDVP Potsdam
für Polit-Arbeit
Marterer
VP.-Kommandeur


NS.:
Die Namen der Rädelsführer sind zum Teil bekannt. Festnahmen wurden jedoch nach Absprache der verantw. Funktionäre z.Zt. noch nicht vorgenommen. Sie sind evtl. für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen.

Anhang:

Ein weiteres Vorkommnis war am 12.6.1953 im Stadtgebiet Neuruppin zu verzeichnen.

In der Stadt tauchten Gerüchte auf, daß aufgrund der neuen Verordnungen des Ministerrates alle Häftlinge entlassen werden.

Am Nachmittag des 12.6.1953 gegen 15.00 Uhr versammelten sich ca. 500 Personen vor dem Gerichtsgefängnis (teilweise mit Blumensträussen), um die Häftlinge in Empfang zu nehmen. Im Einvernehmen mit der Kreisleitung der Partei gelangten Agitatoren zum Einsatz.

Aufgrund der Hinweise, es wären noch Formalitäten zu erledigen, so daß z.Zt. die Haftentlassungen nicht stattfinden, zerstreuten sich innerhalb von ca. zwei Stunden die versammelten Personen wieder.

In der Zwischenzeit waren die zur Entlassung stehenden Häftlinge durch den Hinterausgang der Haftanstalt entlassen worden.

Die Verbreitung des Gerüchtes ergab sich vermutlich auch hier aus der Tatsache, daß Angehörige der Justiz an Angehörige von zwei Häftlingen den Entlassungstermin bekanntgaben.

Zu Zwischenfällen ist es nicht gekommen.

In Absprache zwischen der Kreisleitung der Partei, der VP, MfS und der übrigen Verwaltungsorgane wurden ähnliche Maßnahmen wie in Brandenburg festgelegt.

Marterer VP.-Kommandeur

[Quelle: BArch, DO-1/11.01/304, Bl. 374-380.]