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Erklärung von Rudolf Herrnstadt an die Zentrale Parteikontrollkommission der SED, Merseburg, 31. August 1953
Vorbemerkung der Herausgeber:
Die folgende Erklärung an die zentrale Parteikontrollkomission der SED schrieb Rudolf Herrnstadt im August 1953 bereits in seinem Verbannungsort Merseburg, als er nach dem Aufstand des 17. Juni Arbeit und Ämter verloren hatte und Berlin mit der Familie hatte verlassen müssen. Die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) hatte ihn dazu aufgefordert, alles, was ihm seit dem 15. Plenum des ZK der SED vorgeworfen worden war, anzuerkennen und sich für schuldig zu erklären.
Dieses "Schuldbekenntnis" vom 31. August 1953 hat Rudolf Herrnstadt drei Monate später in einer Erklärung vom 1. Dezember 1953 widerrufen.
In Aufzeichnungen, die 1956 entstanden und 1990 veröffentlicht wurden, beleuchtete Rudolf Herrnstadt die Hintergründe seiner "Erklärung":
"In dieser Zeit des ersten Höhepunktes der Verleumdungskampagne hatte ich die Erklärung abzufassen, die nunmehr der ZPKK zuzustellen war. (…) Ich habe an dieser Erklärung Wochen gesessen. Vor Augen stand mir, daß niemand in der Partei bleiben kann, der nicht die Beschlüsse der Partei vollinhaltlich billigt, daß ich also so oder anders zur vollinhaltlichen Billigung des gegen mich gefaßten Beschlusses kommen mußte. Vor Augen stand mir vor allem der Satz: ‚Du kannst doch nicht klüger sein wollen als das ganze ZK.’ Ich versuchte also alles zuzugeben, was ich mir irgendwie als Fehler begreiflich machen konnte, und vor allem, nicht Phrasen zu schreiben, sondern der Partei und mir selbst den Prozeß zu erklären, wie ich zu meiner Schuld und zur Einsicht in meine Schuld gekommen sei. […] Dabei muss ich an die unwahren Selbstbezichtigungen geglaubt haben.
[…]
Heute [im Jahr 1956, d. Hg.] muss ich mich fragen, ob ich mich für sie [die Erklärung, d. Hg.] zu schämen habe. Es gelingt mir nicht. Wenn ich mich dafür schämen soll, daß ich um keinen Preis gegen die Partei recht haben wollte – wie müssen sich diejenigen schämen, die Menschen in solche Lagen und Zustände, wie die hier geschilderten, bringen!
Heute wird oft gesagt, Geständnisse dürften nicht als ausreichendes Material für eine Verurteilung angesehen werden, weil sie durch körperliche Zwangsmaßnahmen erzwungen sein könnten. Es bedarf gegenüber einem Kommunisten, für den der Begriff Parteidisziplin keine Phrase ist, keiner körperlichen Zwangsmaßnahmen. Er wird der Partei, wenn es hart auf hart geht, immer recht geben. […]"
[Quelle: Rudolf Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt, Reinbek 1990, S. 192-194.]
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An die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros zur Information
Abschrift
Merseburg, den 31. August 1953
Werter Genosse Matern,
anbei übersende ich meine Erklärung sowie für die ZPKK eine Schildung meiner Beziehungen zu den Genossen Zaisser, Jendretzky, Ackermann und Elli Schmidt, dazu die beiden Originale der Vorlage für die 2. Kommissionssitzung.
Meine Übersiedlung, die Aufnahme der neuen Arbeit und technische Schwierigkeiten verzögerten die Übersendung.
Mit sozialistischem Gruß
gez. Rudolf Herrnstadt
Erklärung
Ich erkläre hiermit, daß ich die Entschließung des 15. Plenums des ZK, insbesondere die auf mich bezüglichen Stellen, in vollem Umfang als richtig anerkenne.
Diese Erkenntnis ist mir sehr schwer gefallen. Ich habe innerhalb kurzer Zeit hinsichtlich meiner Person vollständig umlernen müssen. Von der Überzeugung, daß ich den Feind nicht weniger hasse und bekämpfe wie jeder andere Genosse, habe ich zur Erkenntnis kommen müssen, daß ich zurückgewichen bin, von der Überzeugung, daß mir die Einheit der Partei und der Parteiführung ebenso hochsteht wie jedem anderen Genossen zu der Erkenntnis, daß ich eine gegen die Einheit der Partei und der Parteiführung gerichtete Linie vertreten habe.
Ich möchte die einzelnen Stellen der Entschließung anführen und darlegen, wann und wie ich die Erkenntnis, daß sie richtig sind, erworben habe.
Die Entschließung stellt fest:
"Das ZK verurteilt besonders die unrichtige, kapitulantenhafte Linie, die in einer Reihe Aufsätze des Organs des ZK, "Neues Deutschland" vertreten wurde, dessen Chefredakteur, Genosse Herrnstadt, in der Zeitung eine kapitulantenhafte, im Wesen sozialdemokratische Auffassung zum Ausdruck brachte".
Ich konnte die Richtigkeit dieser Feststellung zunächst nicht einsehen, weil ich in den erwähnten Artikeln einzelne Fehler sah, und weil die von mir geschriebenen Artikel keinen kapitulantenhaften Charakter trugen.
Heute verstehe ich, daß es nicht um einzelne Fehler geht und auch nicht darum, ob in diesem oder jenem Artikel die richtige Linie vertreten wurde, sondern darum, daß das Zentralorgan in einer entscheidenden Phase (vom 9. Juni ab) nicht die Position unserer Partei als einer revolutionären Kampfpartei klar und entschieden herausgearbeitet hat, was die Voraussetzung gewesen wäre, um die führende Rolle der Partei zu entwickeln, die vom Gegner angegriffenen Einheiten der Partei richtig zu orientieren und zu festigen, die faschistische Provokation in ihrer ganzen Tragweite zu erkennen und in ihren direkten und indirekten Erscheinungsformen wirksam zu bekämpfen. Da diese Orientierung fehlte, konnte es dazu kommen, daß in einer Reihe von Aufsätzen eine objektiv falsche und kapitulantenhafte Linie vertreten wurde, und daß dem Feind Versuche gelangen, die Zeitung auszunutzen (Fechner). Die Verantwortung hierfür trage ich, denn ich leitete die Redaktion vier Jahre lang, so daß Zeit genug gewesen wäre, sie im Geiste des unversöhnlichen Klassenkampfes zu erziehen. Wäre das geschehen, so hätte sie im Augenblick der Bewährungsprobe die nötige Reife und Wachsamkeit entfalten können. Da ich sie nicht so erzogen habe, bleibt nur die Erklärung, daß ich selber die richtige Orientierung nicht gehabt habe, das heißt, daß ich von der prinzipienfesten Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen abgeglitten bin auf eine andere Position. Eine andere Position aber kann nur eine unmarxistische Position sein, in der sozialdemokratische oder bürgerliche Auffassungen eine Rolle spielen. Weitere Fehler, die ich in der gleichen Zeit machte (und über die ich später spreche), zeigen, daß es tatsächlich so ist.
Die Entschließung stellt weiter fest:
"Im Politbüro des ZK machte sich bei einigen Genossen ein Zurückweichen vor der feindlichen Propaganda bemerkbar, die das Hauptfeuer gegen der Kern der Parteiführung richtete. Diese Genossen traten als parteifeindliche Fraktion mit einer defaitistischen, gegen die Einheit der Partei gerichteten Linie auf und vertreten eine die Partei verleumdende, auf die Spaltung der Parteiführung gerichtete Plattform (Genossen Zaisser und Herrnstadt)".
Ich gebe mir heute Rechenschaft davon, daß diese schweren Vorwürfe berechtigt sind, und daß ich infolge meiner falschen Grundhaltung ihre Berechtigung lange Zeit nicht einsah.
a) Zurückweichen vor der feindlichen Propaganda, die das Hauptfeuer gegen den Kern der Parteiführung richtete.
Anfang Juni beschloß das Politbüro den neuen Kurs. Ich erkannte zu diesem Zeitpunkt weder seine volle Tragweite, noch sah ich voraus, daß der Gegner unweigerlich zu Gegenschlägen ausholen würde, und wahrscheinlich sogar sehr schnell, noch zog ich die nationale und internationale Lage genügend in Rechnung. Statt dessen konzentrierte sich mein Hauptaugenmerk auf eine Formulierung im Moskauer Dokument auf die Kritik am nackten Administrieren. In dieser Formulierung sah ich eine Bestätigung meines eigenen Auftretens in dieser Frage während der vergangenen zwei Jahre. Ich dachte: wenn es jetzt nicht gelingt, einen entscheidenden Schlag gegen die Methode des nackten Administrierens auf allen Ebenen zu führen (worunter ich vielerlei verstand: Durchsetzung des kollektiven Arbeitens in den Parteileitungen, vor allem im Politbüro, Beendigung der bisherigen Arbeitsweise des Sekretariats des ZK, entschiedene Bekämpfung des Bürokratismus in den Gewerkschaften usw. usw.), dann ist nicht nur eine große Gelegenheit vertan, dann ist es auch nicht möglich, den neuen Kurs zum vollen Erfolg zu bringen. Schon diese Einstellung sehe ich heute als Ausgangspunkt der späteren Fehler. Denn während im Moskauer Dokument die Frage der Bekämpfung des nackten Administrierens eine von einer Reihe wichtiger Fragen ist, die im Rahmen des neuen Kurses gelöst werden müssen, wurde sie in meinem Kopf von Anfang an zum Hauptinhalt des neuen Kurses.
Einige Tage später setzte das Politbüro eine Kommission ein, die im Zusammenhang mit der Durchführung des neuen Kurses Vorschläge für die Verbesserung der Arbeitsmethoden und der Arbeitsorganisation in der Parteiführung ausarbeiten sollte. Meine Wahl in diese Kommission verhärtete meine falsche Einstellung. Ich sah in dieser Kommission den Hebel, der in der Lage sein würde, alle notwendigen Veränderungen durchzusetzen und war entschlossen, das in meinen Kräften Stehende dazu zu tun.
Auch wenn die faschistische Provokation des 17. Juni unterblieben wäre, hätte sich dieses Herangehen an die Durchführung des neuen Kurses als falsch erweisen müssen. Erstens weil ich den Inhalt des neuen Kurses auf eine Teilfrage reduzierte. Zweitens weil die erwähnte Kommission - selbst wenn man nur sie ins Auge faßt - weit mehr Gesichtspunkte berücksichtigen mußte, um zu richtigen Entschlüssen zu kommen, als nur die Bekämpfung des nackten Administrierens. Vor allem aber, weil ich meine Kritik von vornherein zu eng stellte, nämlich in Zuspitzung auf bestimmte Arbeitsmethoden des Genossen Ulbricht.
Anlage
I. Meine Beziehungen zu Genossen Zaisser.
Ich lernte Genossen Zaisser 1944 in Moskau bei den Zusammenkünften in der Wohnung des Genossen Pieck kennen. Wir traten damals beide gegen die Ackermann’schen Tendenzen auf, die später zum "besonderen deutschen Weg" führten. Daher entwickelte sich eine gewisse Sympathie zwischen uns. Außerdem brachte uns näher, daß wir beide lange Jahre außerhalb Deutschlands illegal gearbeitet hatten. (Die Kehrseite: daß wir infolgedessen die eigene Partei und Parteigeschichte wenig kannten und wenig Parteierfahrung hatten, sahen wir nicht.)
Später sah ich Genossen Zaisser im Politbüro unserer Partei wieder. Ich freute mich darüber, da ich ihn für eines der weitsichtigsten und standhaftesten Mitglieder unserer Partei hielt. Nie bin ich auf den Gedanken gekommen, an seiner Parteitreue zu zweifeln, und nie hätte sich Beziehungen zu ihm oder irgend jemand aufrechterhalten, wenn mir ein solcher Zweifel gekommen wäre. Allerdings habe ich auch an meiner eigenen Parteitreue nie gezweifelt. Ich wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, daß Genosse Zaisser oder mir der Vorwurf des Kapitulantentums gemacht werden kann; ich bildete mir umgekehrt ein, daß Genosse Zaisser und ich besonders entschieden gegen jedes Kapitulantentum kämpften. (Heute erkenne ich darin die Tendenz zur Überheblichkeit sowohl bei Genossen Zaisser wie bei mir und unser unkritisches Herangehen an die eigene Person.)
Seit etwa anderthalb Jahren verengerte sich unser Verhältnis im Zusammenhang mit der inneren Diskussion über den Arbeitsstiel der Parteiführung. Nach meiner Auffassung (und der des Genossen Zaisser, wir sprachen öfter darüber) war bis zum Jahre 1948 die Hauptfrage für die Partei, die der Klärung bedurfte, die Frage des Verhältnisses zur Sowjetunion gewesen. Durch das Kommunique des Informbüros über Jugoslawien und das Septemberplenum unserer Partei im Jahre 1948 war diese Frage endgültig geklärt. Seitdem stand nach unserer Auffassung als ungelöste Hauptfrage vor unserer Partei (die die führende Partei im Staat geworden war) die Frage der Gewinnung der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, d.h. die Frage des bolschewistischen Herantretens an die werktätigen Massen überhaupt. Hier sahen wir große Schwächen, beginnend von oben, vom Arbeitsstiel der Parteiführung. Daher die zahlreichen Gespräche, die jeder von uns beiden mit Genossen Walter Ulbricht führte. Daher mein Auftreten auf einigen Plenartagungen (ich glaube, es war die t. und die 8.), das zu Konflikten führte, im Fall Lohagen, das gleichfalls zu Konflikten führte, die Vorlage des Genossen Zaisser im Politbüro über Veränderungen in den Arbeitsmethoden der Parteiführung, die auch zu Konflikten führte. In unserem Auftreten im Politbüro ergab sich - in dieser Frage, in anderen allerdings nicht - immer häufiger ein gleichartiges Auftreten und ein Unterstützen des einen durch den anderen. Dabei hielten wir uns für diejenigen, die in dieser Frage den allein richtigen Standpunkt vertreten und glaubten, daß es in hohem Maße von unserem persönlichen "Mut" abhängt (es war nie eine Kleinigkeit, gegen Auffassungen des Genossen Ulbricht hartnäckig aufzutreten), ob sich der von uns für richtig gehaltene Standpunkt durchsetzen wird.
Die Verengerung unserer Beziehungen äusserte sich darin, daß wir uns gelegentlich besuchten, einige Male von Sitzungen gemeinsam nach Hause fuhren, einmal lud Genosse Zaisser mich und meine Familie über den Sonntag nach Wolletz ein, Dabei waren unsere Beziehungen zwar herzlich, aber stets gemessen. Genosse Zaisser ist ein sehr eigenwilliger Mensch, der in jedem privaten Gespräch - ähnlich wie es auch in den Sitzungen des Politbüros war - mit einer Reihe teils guter, teils abwegiger Gedanken kommt, in die er sich nicht hineinreden lässt. Was mir auffiel, war der Widerspruch zwischen der breiten (ich nannte sie Genossen Zaisser gegenüber "barynhaften") Lebenshaltung und der persönlichen Bescheidenheit von Zaisser selbst. Ich habe ihn beispielsweise einige Male gebeten, mir von Spanien und den Kämpfen im Jahre 1923 zu erzählen. Er hat das stets mit ein paar Sätzen abgetan und nie die Tendenz gezeigt, von sich etwas herzumachen. Den Hauptteil der Gespräche bildeten Fragen der politischen Lage und fast regelmäßig die Frage Arbeitsstiel des Politbüros, die wir jeweils an Hand der Vorgänge voller Hoffnung oder pessimistisch beurteilten. Im Lichte meiner heutigen Erkenntnis erscheinen mir diese Gespräche nicht nur deswegen falsch, weil sie der Nährboden unserer späteren Fehler waren, sondern weil wir nicht von den objektiven Bedürfnissen der Partei als ganzem ausgingen, sondern von dem Verhalten des einzelnen Genossen (nicht nur des Genossen Ulbricht) das wir lobten oder kritisierten.
Nach dem 9. Juni sah Genosse Zaisser ebenso wie ich im Beschluß des Politbüros, zur Durchführung des neuen Kurses auch die Arbeit der Parteiführung zu überprüfen, die große Möglichkeit, endlich die neue Arbeitsweise durchzusetzen. Wir glaubten beide, nun sei bewiesen, daß wir "recht gehabt" haben. Wir glaubten das umso mehr, als Genosse Ulbricht kurz nach dem 9. Juni eine ausführliche selbstkritische Stellungnahme verlas. Das war nach unserer Auffassung der entscheidende Durchbruch. Denn oft hatten wir festgestellt, daß Genosse Ulbricht zwar in Gesprächen zu zweit außerordentlich aufgeschlossen war und die Fragen auch vom Standpunkt der Auffassungen des Gesprächspartners aus sah, daß er jedoch zu einer selbstkritischen Äußerung im Politbüro nicht zu bewegen war. Nun war das geschehen. Daher hielten wir für möglich, daß diese Politbürositzung der Abschluß einer ganzen Phase gewesen sei und der Beginn der neuen, wahrhaft kollektiven Zusammenarbeit. Diesen Eindruck haben wohl mehr Genossen gehabt, denn in der Diskussion trat eine Reihe von ihnen (auch ich) auf, um Genossen Ulbricht zu danken; wir alle wussten, daß ihm die Abgabe einer solchen Erklärung nicht leicht gefallen war; umso mehr fühlten wir uns ihm verbunden. Entsprechend antworte ich auch auf eine Frage der Genossin Lotte Ulbricht: "Wenn Walter in seiner Rede auf dem Plenum einen ähnlichen Passus sagt, kommen wir alle zum richtigen Ausgangspunkt, nämlich unsererseits Selbstkritik zu üben und ihm für seine zu danken".
Auf der gleichen Linie lagen die Gespräche zwischen Genossen Zaisser und mir. Das war überhaupt zu jedem Zeitpunkt ein Kennzeichen unserer Gespräche: Wenn Genosse Ulbricht diktatorisch auftrat, waren wir wütend und der Meinung, man müsse ihn "zwingen", wenn Genosse Ulbricht dem Kollektiv entgegenkam, entdeckten wir unsere alte Liebe für ihn, stellten fest, daß wir in Wahrheit seine politisch sichersten Stützen seien (ich muss es so schreiben, obwohl mir heute die Unsinnigkeit und Überheblichkeit klar ist) und sahen ein herrliches Arbeiten im Politbüro voraus.
Gleichzeitig aber sagten wir uns nach der Selbstkritik im Politbüro: man muß jetzt zu organisatorischen Maßnahmen kommen, die eine beständige kollektive Zusammenarbeit sichern, sonst wird sie nach aller Erfahrung nicht von langer Dauer sein. Als entscheidende Maßnahme erschien uns die Auflösung des Sekretariats, das aus geeigneten Angehörigen des Politbüros besteht. Nach unserer ganzen damaligen Einstellung ist klar, daß wir unter "geeigneten Angehörigen" solche Genossen verstanden, die (außer anderen notwendigen Qualifikationen) in der Vergangenheit den Meinungskampf, wenn nötig, auch mit Genossen Ulbricht aufgenommen hatten. Daß Genosse Zaisser und ich einem solchen Sekretariat angehören würden, hielt ich nach dem Verlauf der Verhandlungen im Politbüro und in der Kommission für wahrscheinlich. Aber selbstverständlich wurde zwischen uns nicht darüber gesprochen, daß der eine den anderen vorschlagen solle. Ich meinerseits hätte allerdings Genossen Zaisser vorgeschlagen, wenn es zu einer entsprechenden Diskussion gekommen wäre. Aber bekanntlich kam es überhaupt nicht zu einer Diskussion über die Zusammensetzung eines solchen Sekretariats (bzw. der "Ständigen Kommission"), da die 2. Kommissionssitzung einen ganz anderen, unerwarteten Verlauf nahm.
Wir waren ferner beide der Meinung, daß es besser sei, wenn Genosse Ulbricht die Parteiorganisation nicht mehr direkt anleiten würde, sondern im Kollektiv und über das Kollektiv. Die Gründe dafür waren dieselben, wie sie später, in der Mittwoch-Nachtsitzung, von uns und anderen Genossen vorgebracht wurden.
Auf die Vorstellung, es könne uns später vorgeworfen werden, wir wollten die Parteiführung erobern und den proletarischen Führungskern verdrängen, wäre ich nie gekommen. Es widerstrebt mir, hier Darlegungen über die eigene Parteitreue zu machen. Nur soviel möchte ich sagen: solche Gedanken waren nie in meinem Kopf und konnten es nicht sein. Auch bei Genossen Zaisser habe ich solche Gedanken nie bemerkt. Genosse Zaisser ging im Gegenteil oft der Übernahme von Verantwortung aus dem Wege, weil er sich ihr körperlich nicht gewachsen fühlte. Da ich das sah und der Meinung war, er müsse dem Politbüro möglichst lange erhalten bleiben, habe ich ihm während des letzten Jahres mehrfach geraten, das Ministerium für Staatssicherheit abzugeben und nur als Mitglied des Politbüros zu arbeiten. Er erklärte, das sei ihm unangenehm, weil das Ministerium noch nicht einwandfrei arbeite. einmal setzte er hinzu: "Außerdem, was willst du, es hält doch gerade noch". Er meinte das Herz und die Gefahr eines Schlaganfalls. Von der Absicht, "die Macht zu erobern", war er nach meinem Eindruck so weit entfernt, wie ein Mensch davon nur entfernt sein kann.
II. Die Kommissionssitzungen
Die 1. Kommissionssitzung muss am 25. oder 26. Juni stattgefunden haben. Anwesend waren die Genossen Grotewohl, Ulbricht, Zaisser und ich. Die Genossen Oelssner und Jendretzky waren verhindert. Die Sitzung war kurz und verlief ohne jede strittige Auseinandersetzung. Jemand (ich weiss nicht mehr wer) machte den Vorschlag, die Bezeichnung Generalsekretär fallen zu lassen. Genosse Ulbricht antwortete: "Ist keine Frage". Alle waren sich einig, daß das Sekretariat in seiner bisherigen Form aufgelöst werden solle. Meinem Vorschlag, ein Sekretariat nur aus Angehörigen des Politbüros zu bilden, wurde im Prinzip zugestimmt. Genosse Ulbricht sagte: "Aber eine Stelle ist trotzdem notwendig, die für die Durchführung der Beschlüsse sorgt".
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[Quelle: SAPMO-BArch, DY 30/J/V2/2J/3]
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