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Abgeordnetenhaus von Berlin
Aktuelle Stunde: "50 Jahre nach dem 17. Juni 1953 - Berlin gedenkt der Ereignisse"
Antrag der SPD und der PDS
Berlin, 12. Juni 2003
Protokoll der Sitzung (Teil 1):
Vizepräsidentin Michels: Mit der Aussprache in der ersten Rederunde beginnt der Abgeordnete Herr Hilse von der Fraktion der SPD. - Bitte sehr!
Hilse (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In fünf Tagen jährt sich der Aufstand vom 17. Juni 1953 zum 50. Mal. Ich bin dankbar, dass sich die Mehrheit dieses Hauses entschieden hat, diesem Ereignis die Aktuelle Stunde zu widmen. Bei allen Problemen, die vor uns liegen und die noch zu lösen sind, ist es eine Frage der politischen Kultur, ob wir diesem Jubiläum im Parlament Raum einräumen oder über dieses mit Tagesthemen hinweggehen.
[Beifall bei der SPD und der PDS]
Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war in beiden deutschen Staaten geschichtlich verankert. In der Bundesrepublik war er wohl in die politische Erinnerungskultur eingebettet - als Tag, auf den alle Deutschen hätten stolz sein können, war er jedoch nur spärlich wahrgenommen worden. Eine historisch umfassende Würdigung blieb ihm versagt. Im Osten wurde er komplett umgedeutet. Aus dem Volksaufstand wurde ein konterrevolutionärer Putsch, zurück- und niedergeschlagen durch den wachsamen und geschlossenen Kampf der Arbeiterklasse. Wer auch immer die Erinnerung an den 17. Juni jenseits des offiziellen Sprachgebrauches wach hielt, lief im Osten Gefahr, mit Sanktionen belegt zu werden. Noch schlimmer: Er musste sich gefallen lassen, in die Traditionslinie faschistischer Umtriebe gestellt zu werden. Dieses Tabu, mit dem der 17. Juni 1953 versehen wurde, erklärt auch, warum im Osten Deutschlands viele junge Menschen mit diesem Datum so wenig anzufangen wussten.
Wenn wir heute dieses Jubiläums gemeinsam gedenken, so dürfen wir stolz feststellen, dass die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie auch im unfreien Teil Deutschlands nie aufgegeben wurde. Wenngleich der Beginn des Volksaufstandes hier in Berlin seine Ursachen in den schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen hatte, so nahm er vor dem Hintergrund verhasster stalinistischer Strukturen schnell revolutionäre Züge an. Bis zum Mittag des 17. Juni griff der Protest auf über 560 Orte über - es können auch mehr gewesen sein, hier sind die Quellen nicht eindeutig -, über eine Million Menschen beteiligten sich durch Demonstrationen und Streiks an dem Versuch, das verhasste System abzuschütteln. Neben Berlin wuchsen weitere Zentren des Widerstandes. Allein in Hennigsdorf streikten 10.000 Stahl- und Walzwerkarbeiter. In Magdeburg, Halle, Bitterfeld, aber auch in kleineren Orten wie in Jena gingen Zehntausende Menschen auf die Straße. In Görlitz waren es 30.000 Menschen, die auf dem Marktplatz den Bürgermeister für abgesetzt erklärten und die politische Verwaltung in die Hände eines gebildeten Stadtkomitees legten. In vielen Städten wurden die verhassten Symbole der SED-Diktatur gestürmt und politische Gefangene befreit.
Am späten Nachmittag des 17. Juni beherrschten Forderungen nach freien Wahlen, der Wiedervereinigung Deutschlands und Rücktrittsforderungen an die Regierung das Geschehen. Vielerorts ging man davon aus, die SED-Diktatur, deren Protagonisten abgetaucht waren, dauerhaft überwinden zu können. Erst Panzer und der Einsatz militärischer Gewalt konnten diese Hoffnung zurückdrängen. Auslöschen konnten sie diese Hoffnung freilich nicht. Nach 36 Jahren wurde die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie wieder übermächtig. Und wieder hielt die Menschen die Angst vor militärischer Gewalt nicht ab, erneut für ihre Grundrechte und die Einigung Deutschlands einzutreten. Die Panzer rollten nicht mehr, das System hatte sich überlebt. So wurde vollendet, was 1953 brutal niedergeschlagen wurde.
Der Versuch, als erster Ostblockstaat das SED- und stalinistische System abzuschütteln, forderte in der Bevölkerung große Opfer. Bis zu 80 Demonstranten kamen während der Proteste ums Leben, 20 Menschen wurden standrechtlich hingerichtet, Tausende verhaftet, Hunderttausende Menschen flohen in den Westteil Deutschlands. Um diesen nüchternen Zahlen einen menschlichen Bezug zu geben, möchte ich stellvertretend für viele Schicksale einen öffentlichen Aushang aus diesen Tagen in Erinnerung rufen:
"Bekanntmachung des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin, 18. Juni 1953:
Hiermit wird bekannt gegeben, dass Willy Göttling, Bewohner von Westberlin, der im Auftrag eines ausländischen Aufklärungsdienstes handelte und einer der aktiven Organisatoren der Provokationen und der Unruhen war ..., zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Das Urteil wurde vollstreckt."
Ich selbst habe den Volksaufstand vom 17. Juni nicht erlebt. Ich wurde zwei Jahre später geboren. Es waren vornehmlich die Eltern und Freunde der Familie, die mir aus eigenem Erleben die Hoffnungen und die Tragik dieser Tage weitergaben. Ich selbst, der ich später in der Jungen Gemeinde noch einige Erfahrungen mit dem Katalog der Repressalien der DDR-Diktatur machen musste, war stolz auf diesen Tag. Warum? - Weil wir Ostdeutschen es versucht hatten. Wir hatten es wenigstens versucht, das nicht selbst gewählte System abzustreifen. Oder, wie es Frau Birthler gestern Abend hier in diesem Raum sagte: "Wir haben gezeigt, dass man uns nicht am Nasenring durch die Geschichte führen konnte."
Dieses Aufbegehren hatte für uns Ostdeutsche im Kontext anderer unterdrückter Völker Osteuropas übrigens auch eine emanzipatorische Dimension. Am 20. August 1968 - ich war damals 13 Jahre alt - rollten in meiner Heimatstadt Zittau nächtens die Panzer in Richtung Tschechoslowakei. Bei meinen Eltern wurden die Erinnerungen an den 17. Juni wieder wach; Eltern und Geschwister, die ganze Familie blieb wach. Sorgen und Hoffnung waren es, die uns nicht schlafen ließen; Hoffnung, es möge dem Nachbarvolk trotz Panzer gelingen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Sorgen, es könnte ebenso viele Opfer kosten wie im Juni 1953 in Ostdeutschland. So hat mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht nur ein emanzipatorischer Impuls weitergewirkt, er hat uns auch solidarisiert mit allen nachfolgenden Freiheitsbestrebungen im Ostblock: in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968, in Polen 1980/81. Dieses Mitbangen mit den Völkern, die um ihre Freiheit rangen, war durch eigenes Erleben gedeckt.
In Berlin wird in diesen Tagen in über 80 Veranstaltungen und Aktionen - ich vermute, es werden inzwischen bald mehr sein - des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gedacht. Dass der 17. Juni 1953 hierbei zunehmend in den Kontext der gesamtdeutschen Freiheitsgeschichte gesetzt wird, ist eine überfällige Sicht auf diesen Tag. Ich persönlich freue mich sehr darüber. Auch der Wunsch, dieses historische Datum im politischen Bewusstsein vor allem der jungen Menschen verankert zu sehen, ist in Berlin auf gutem Wege. Das Thema 17. Juni wurde verbindlich in die Rahmenpläne des regulären Unterrichts aufgenommen.
Der 17. Juni ist ein Tag, auf den alle Deutschen stolz sein können. 40 Jahre Trennung setzen die gemeinsame Geschichte eines Volkes nicht außer Kraft. Wir können dankbar feststellen, dass das demokratische Potential in beiden deutschen Teilen eine Heimat hatte. Diese Erfahrung verbindet, diese Erfahrung bringt uns der inneren Einheit ein Stück näher. Darüber sollten wir jedoch nicht vergessen, dass Demokratie nur durch tätiges Handeln entsteht und bewahrt werden kann. All jenen Frauen und Männern, die am 17. Juni und in den Folgetagen für das Eintreten für Freiheit und Demokratie ihr Leben lassen oder langjährige Haftstrafen antreten mussten, gilt heute unsere Hochachtung und unser Gedenken.
[Anhaltender Beifall]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Vielen Dank, Herr Kollege Hilse! - Für die CDU hat das Wort der Kollege Apelt. Bitte schön!
Apelt (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 zählt zu den herausragenden Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er war der erste Volksaufstand im sowjetischen Machtbereich nach dem 2. Weltkrieg, und er wurde genauso gewaltsam niedergeschlagen wie die Revolution in Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968 und die Solidarnosc-Bewegung 1980. Am Aufstand, der mit der Ausrufung des Generalstreiks am 16. Juni in Berlin begann, beteiligten sich in etwa 700 Städten und Gemeinden über 1,5 Millionen Menschen. Bis zu 15.000 Personen wurden in den Wochen danach verhaftet. 2.300 davon wurden von sowjetischen und ostdeutschen Gerichten verurteilt. Nicht wenige wurden standrechtlich erschossen, andere zum Tode verurteilt. Mindestens 80 Personen kamen bei den Demonstrationen ums Leben.
Neben diesen hier nur kurz dargestellten dramatischen Fakten - dahinter verbergen sich immer Einzelschicksale- steht die Nachricht über den Kenntnisstand der Deutschen eben über jenen 17. Juni, der lange Zeit ein Feiertag war. nach einer Umfrage von vorgestern wissen 55% der Deutschen nichts mit diesem Tag anzufangen. Nur 45% der Befragten sagt der 17. Juni etwas. Noch schrecklicher ist der Kenntnisstand der unter 29-Jährigen: 82% wissen nichts vom 17. Juni, und nur 18% haben eine Vorstellung davon, was am 17. Juni 1953 wirklich geschehen ist.
Allein diese Zahlen müssen uns alle aufrütteln, denn sie zeigen einmal mehr, wie nachlässig wir mit unserer Geschichte umgehen und wie schnell wir das vergessen, was eigentlich nicht zu vergessen ist, auch wenn es so bequem scheint. Es ist schon deshalb nicht zu vergessen, weil sich unser Selbstverständnis als Nation und unser Selbstverständnis als freiheitliche Demokratie durch Tage wie den 17. Juni 1953 definieren lassen. Das, was die Menschen damals gefordert haben, nämlich freie und geheime Wahlen, Aufhebung der Zonengrenzen, Friedensvertrag, Freiheit für alle politischen Gefangenen, Meinungsfreiheit, ist ein Wunschtraum dieser Menschen gewesen und heute mehr als selbstverständlich. Aber kann dies der Grund sein, so schnell zu vergessen und zu verdrängen?
Über die Ursachen des 17. Juni wurde viel gestritten. Die DDR hat sich immer bemüht, den Tag als "Putsch faschistischer Elemente" zu deklarieren und rühmte die klassenbewussten Arbeiter, die den Putsch Hand in Hand "mit den sowjetischen Genossen niedergeschlagen" hätten. Wir wissen heute, dass dies nicht so war, sondern dass der große Unmut der Bevölkerung gegen das SED-Regime sich spontan entlud, auch wenn die Normerhöhungen der äußere Anlass dieses Aufstandes waren. 36 Jahre wurde den Menschen der DDR das Märchen von dem faschistischen Putsch vorgesetzt. 36 Jahre wurden sie belogen und betrogen, 36 Jahre, in denen die Opfer allein durch diese Deklassierung ein weiteres Mal gedemütigt wurden.
Aber viel schlimmer als die Demütigung war der Terror, der der Niederschlagung folgte. Massenverhaftungen standen auf der Tagesordnung, die mit teilweise drastischen Strafen endeten. Darin hatte die Diktatur schließlich Übung. So reichte es aus, auf der Stalinallee mitgelaufen zu sein und später von Spitzeln denunziert zu werden, um fünf Jahre und mehr in den Gefängnissen der DDR zu verschwinden.
Glücklich diejenigen, denen die Flucht in den besseren Teil Deutschlands gelang. Für Hunderttausende, ja Millionen war der 17. Juni das Signal, das Land zu verlassen. Sie hinterließen ein Land, das sich weder ökonomisch erholte noch sich politisch zu legitimieren verstand. Die Diktatur verfeinerte zwar die Methoden und zog mit dem Mauerbau die Notbremse, um das Ende des Regimes aufzuhalten, doch den Niedergang des Systems hielten auch die brutalsten SED-Schergen und ihre Methoden nicht auf. Am Ende siegte der Freiheitswillen. Schon das sollte uns alle stolz machen.
Der Herbst 1989 machte dann endlich Schluss mit der SED-Diktatur und ihr den Garaus. Wieder waren es Hunderttausende, die - diesmal erfolgreich - auf den Straßen der ehemaligen DDR das Vermächtnis der Streikenden vom 17. Juni 1953 erfüllten. Sie erfüllten all die Sehnsüchte einer durch die Teilung gepeinigten Nation, indem sie den Weg frei machten nicht nur für das Ende der Diktatur, sondern auch für ein gesamteuropäisches Friedenssystem, für das Ende des Kalten Krieges den Fall des Eisernen Vorhangs und für die Hoffnung auf einen gesamteuropäischen Ausgleich. Die Demonstranten vom Herbst 1989 verbanden das Ende der DDR aber auch mit anderen Hoffnungen. Zwei davon sollten uns auch heute zum Nachdenken Anlass geben:
1. Im Bewusstsein aller Deutschen sollte jede Form von Widerstand gegen diktatorische Systeme Achtung und Anerkennung finden. Dies setzt voraus, dass auch wir Deutschen uns der schwierigen und schmerzhaften Geschichte des letzten Jahrhunderts bewusst werden, sie verinnerlichen oder zumindest kennen, was leider heute bei dem Wissensstand nicht immer gegeben ist. Deshalb sollte unsere Botschaft auch heute von hier aus sein: Thematisiert den 17. Juni 1953 und den November 1989 endlich angemessen in unseren Schulbüchern!
2. Gerechtigkeit für die Verfolgten und jene, die Zivilcourage gezeigt haben, darf sich nicht auf das Mitleid und die Gedenkworte zu den Jubiläumsfeierlichkeiten beschränken. Wir haben eine Verantwortung gerade gegenüber den Widerständigen von damals, denen wir bis heute nicht gerecht werden. Denn noch heute werden Menschen für ihre Zivilcourage bis hinein in das Rentenrecht bestraft. Der Satz "Widerstand lohnt sich nicht" ist in Deutschland immer noch bittere Realität. Wie sonst kann es sein, dass jene Inhaftierten von damals noch heute mit einem Abzug ihrer Rentenbezüge rechnen müssen, während auf der anderen Seite die SED-Nomenklatura oder Stasi-Offiziere mit hohen Nachzahlungen ihre monatlichen Renten aufgebessert haben?
Ein Land, das so mit seinen Helden umgeht, sollte sich nicht nur vor der Geschichte, sondern - solange diese Ungerechtigkeit fortbesteht - auch vor seiner Zukunft schämen. - Danke!
[Beifall bei der CDU]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Danke, Herr Kollege Apelt! - Jetzt erhält die PDS das Wort. Es spricht Herr Liebich. - Bitte schön!
Liebich (PDS): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In wenigen Tagen jährt sich der Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter und vieler weiterer DDR-Bürger im Jahr 1953 zum 50. Mal. Vor allem in Berlin, aber nicht nur hier, begehrten Menschen gegen die Regierung der DDR und ihre führende Partei auf. Sie taten dies aus unterschiedlichsten Gründen, aus sozialen, vor allem aber auch aus politischen Gründen.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin tut gut daran, dieser Ereignisse im Rahmen einer Aktuellen Stunde zu gedenken. Ich gehe davon aus, dass, anders als bei tagespolitischen Debatten, die Anerkennung des Aufstandes zwischen den Fraktionen nicht strittig sein dürfte.
Der Antrag, den alle Parteien gestellt haben, macht dieses deutlich. Um Missverständnissen entgegenzutreten, ist es ums wichtig, deutlich zu machen, dass das, was 1953 begonnen wurde, nie, auch nicht 1989 als beendet im Sinne von nicht mehr notwendig betrachtet werden sollte. Der Kampf um Demokratie und Bürgerrechte gehört immer auf die Tagesordnung.
[Beifall bei der PDS und der SPD]
Natürlich - wenn ich mich diesem Thema aus einer persönlichen Sicht nähere - ist klar, dass ich 1953 nicht dabei war. Ich teile die Auffassung meines Kollegen Carl Wechselberg, dass es ein falscher Weg wäre, Geschichte nur den Zeitzeugen zu überlassen. Ich will auch nicht über die DDR in ihrem vierten, sondern in ihrem 40. Jahr reden, das am Ende auch ihr letztes werden sollte.
Im Jahr 1989 war ich 16 Jahre alt. Ich habe die 10. Klasse einer Polytechnischen Oberschule in Berlin, Hauptstadt der DDR, in Marzahn, besucht. In der 10. Klasse standen in der DDR im Geschichtsunterricht die Gründungsjahre der DDR auf dem Unterrichtsplan. Die Ereignisse im Juni 1953 wurden dabei nicht ignoriert, sondern auf eine Weise behandelt, die mich heute, als ich noch einmal nachlas, erschüttern. Ich zitiere aus dem Geschichtsbuch Klasse 10:
"Das Kräfteverhältnis ließ es nicht mehr zu, den Sozialismus in der DDR zu beseitigen. Bereits ihr erstes Ziel, einen Generalstreik als Ausgangspunkt zu weiterführenden Aktionen, erreichte die Konterrevolution nicht. Die Bürger der DDR begriffen zunehmend, was sich tatsächlich abspielte. Die übergroße Mehrheit der Arbeiter und Angestellten legte die Arbeit nicht nieder. Die meisten Streikenden nahmen sie sofort wieder auf, als sie erkannten, dass es nicht um Normen und Preise, sondern um die Arbeiter- und Bauernregierung ging. Sie distanzierten sich von den Putschisten. Es zeugte vom Vertrauen in die Macht der Arbeiter und Bauern, dass in den meisten Betrieben die Provokateure auf energischen, von den Parteiorganisationen der SED geführten Widerstand der Belegschaft stießen. Vielerorts formierten sich Arbeiterwehren, aus denen die Partei die Kampfgruppen der Arbeiterklasse bildete. Vielfach vollbrachten Arbeitskollektive als Antwort auf die Streikparolen gerade in jenen Tage überdurchschnittliche Leistungen."
Das Fazit meines Geschichtsbuches, das im Jahr 1989 in erster Auflage herausgegeben wurde, lautete, dass weder der Generalstreik noch ein Volksaufstand stattgefunden haben.
Ebenfalls im Jahr 1989, allerdings in meiner Wahrnehmung viel später, erschien in der DDR ein Buch mit einer ganz anderen Widerspiegelung der gleichen Ereignisse. "Fünf Tage im Juni" hat es Stefan Heym genannt. 1965 hat Erich Honecker dessen Manuskript kritisiert, 1974 erschien es in der Bundesrepublik Deutschland und zum Ende der DDR auch dort. So las ich noch im gleichen Jahr mit wenigen Monaten Abstand, aber einem riesigen historischen Schritt später, was der SED-Genosse Witte, einer der Hauptfiguren des Buches, als sein Resümee über den 17. Juni sagte:
"Wir vereinfachen so gern die Arbeiter, unsere Menschen, die Jugend, die Klasse, als wären es lauter Schafherden, die man hierhin treiben kann oder dorthin. In Wirklichkeit sind das alles Menschen, Einzelwesen, im Falle der Arbeiterklasse geeint nur durch eines: ihre Stellung in der Gesellschaft im Arbeitsprozess. Aber das garantiert noch kein einheitliches Verhalten. Die einen haben heute gestreikt, andere nicht. Was wissen wir, wie viele Faktoren das Bewusstsein beeinflussen? Die Arbeiterklasse, sagen wir, sei die führende Klasse und die Partei die führende Kraft der Klasse. Offensichtlich muss es Menschen geben, die stellvertretend auftreten für die führende Klasse und deren führende Kraft. Aber wer verhindert, dass sie stellvertretend nur noch sich selbst vertreten? Mit der Macht darf nicht gespielt werden, hat neulich einer gesagt, ein führender Genosse."
Aber es wurde mit der Macht gespielt. Noch ehe die Streiks beendet waren, noch am 17. Juni wurde ein Flugblatt aus dem Politbüro gesandt. Als Ursache der Aufstände wurde ein westgesteuerter, faschistischer Putsch ausgemacht. Einen Tag später, als man im Politbüro intern beriet und tatsächlich offene Worte fand, konnte man sich auf die tatsächlichen Gründe nicht verständigen. Die Propaganda war also schneller als die Analyse. Als der Justizminister der DDR Max Fechner, im Neuen Deutschland am 2. Juli 1953 mit dem Hinweis zitiert wurde, dass das Streikrecht in der DDR verfassungsmäßig garantiert sei und Streikleitungen daher nicht bestraft werden dürften, half das vielen der Streikenden wenig und wurde ihm, dem Justizminister, zum Verhängnis. Noch im Juli wurde er wegen Sozialdemokratismus aus der Partei ausgeschlossen, seines Amtes enthoben, verhaftet und saß dann drei Jahre im Gefängnis.
Die offizielle DDR und die SED verweigerten sich einer offenen Auseinandersetzung um die Ursachen des Aufstandes. Sie bestraften kritische Stimmen und hielten bis zu ihrem Ende Akten unter Verschluss. Erst auf dem außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989 forderte der inzwischen leider verstorbene Professor Michael Schumann, unwiderruflich mit dem Stalinismus als System zu brechen und gerade deshalb alles aufzuklären, was es über den 17. Juni 1953 aufzuklären gibt. Die Archive waren endlich zugänglich. Die offizielle DDR-Geschichtsschreibung brach wie ein Kartenhaus zusammen.
Seitdem ist eine offensive Debatte möglich. Sie wird auch in der PDS geführt. Dass es für viele ein schmerzhafter Prozess ist, ist dabei kein Geheimnis. Wir leisten einen Beitrag zur weiteren Aufklärung. Ich konnte heute Vormittag ein Buch mit dem Titel "Die Klasse in Aufruhr" vorstellen. Zwei Berliner Historiker veröffentlichen darin Dokumente, die unter anderem deutlich machen, dass nicht eine kleine Minderheit aufbegehrte, sondern die Mehrheit der Ostberliner Arbeiterinnen und Arbeiter der Industriebetriebe gestreikt hat. Für uns von der PDS hat der 17. Juni gezeigt, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mit diktatorischen Mitteln nicht möglich ist. Menschenrechtsverletzungen im Namen des Sozialismus sind nicht entschuldbar. Für die Partei des demokratischen Sozialismus ist eines selbstverständlich: Sozialismus entsteht in und aus der Gesellschaft oder überhaupt nicht.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal Stefan Heym zitieren:
"Es wird viel von Schuld gesprochen werden in den nächsten Tagen, und manch einer wird sich verleiten lassen, die Schuld bei anderen zu suchen. Aber wie viele werden vortreten und erklären, es hat aber auch an mir gelegen, Genossen, und dann die Konsequenzen ziehen? Das Schlimmste wäre für das eigene Versagen, den Feind verantwortlich machen zu wollen. Wie mächtig wird dadurch der Feind. Doch ist die Schuld nicht nur von heute und gestern. Auch für die Arbeiterbewegung gilt, dass nur der sich der Zukunft zuwenden kann, der die Vergangenheit bewältigt hat."
Ich danke Ihnen!
[Beifall bei der PDS und der SPD]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Vielen Dank, Herr Kollege Liebich! - Für die FDP spricht der Kollege Hahn. - Bitte sehr, Sie haben das Wort!
Hahn (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn wir uns für die heutige Arbeitssitzung als Opposition eine andere Aktuelle Stunde gewünscht hätten, ist es gut und wichtig, dass wir als Berliner Parlament uns Rechenschaft über die Bedeutung des 17. Juni 1953 ablegen. Wir waren immer der Meinung, dass eine eigene Feierstunde dieses Abgeordnetenhauses dem Datum angemessen gewesen wäre, zumal der 17. Juni von Berlin ausgegangen und als positives Ereignis der Berliner Geschichte mit der deutschen Geschichte verknüpft ist. So viele Beispiele davon haben wir in der Berliner Geschichte wahrlich nicht. So müssen wir der Körber-Stiftung und der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen dankbar dafür sein, dass gestern Abend eine würdige und gute Veranstaltung in unserem Haus stattgefunden hat.
"Wir sind aus Geschichte gemacht", sagte Marianne Birthler gestern Abend. Wenn wir über Geschichte nicht nachdenken, können wir uns über uns selbst nicht klar werden. Das aber ist der Auftrag der Debatte heute. Was ist uns also der 17. Juni? Wie wird er erinnert, wie wird er erklärt? - Es betrübt uns, wie wenig präsent der Tag - die Ereignisse - im Osten und Westen unseres Landes heute sind. Zu den Überraschungen dieses 50. Jahrestages gehört aber auch, dass neben der Wiederentdeckung alten Wissens neue Erkenntnisse über den 17. Juni hinzugekommen sind. So bietet der Jahrestag Gelegenheit, mit alten Mythen, Uminterpretierungen und Verfemungen aufzuräumen. Das ist schon jetzt ein Erfolg.
Was war an diesem Tag wirklich? - Meine Vorredner haben es beschrieben. Zum gesicherten Wissen gehört der Erweis, dass es sich nicht um einen von Agenten angezettelten Putsch handelte. Wir wissen heute, dass die Geheimdienste im Westen ebenso überrascht wurden wir die im Osten. Der Westen war weitgehend passiv, sieht man davon ab, dass der RIAS die notwendige Kommunikation übernahm. Es gab sogar Appelle zur Beruhigung aus dem Westen.
[Henkel (CDU): Auch aus dem RIAS!]
Der 17. Juni war eine spontane Erhebung, er war ein Volksaufstand im echten Sinne. Er war nicht von Rädelsführern geplant, nicht von Intellektuellen herbei geschrieben worden. Ja schlimmer noch, die Intellektuellen hatten einen sehr geringen Anteil an den Ereignissen. Vielleicht ist es diesem Umstand zu verdanken, dass dieser Tag so wenig populär wurde in Deutschland. Er ist bis heute ein schwieriger Tag für Intellektuelle geblieben, was sich in so manchen befremdlichen Interpretationen zeigt. Weil er so schwierig ist, ist der 17. Juni auch schon früh denunziert worden - gerade von Intellektuellen. Bertolt Brecht fühlte sich noch am Abend des 16. Juni 1953 bemüßigt, zwei Briefe an Ulbricht und Grotewohl zu schreiben. Ich zitiere daraus:
"Die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ihren Respekt zollen ... . Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszusprechen. Ihr Brecht."
Die Briefe wurden wenig später im "Neuen Deutschland" abgedruckt. Brecht hatte sie aus eigener, tiefer Überzeugung geschrieben. Auch er hat dabei mitgeholfen, diesen Volksaufstand gegen die Unterdrückung in einen faschistischen Aufstand umzulügen. Zusammen mit anderen Intellektuellen nahm er eine wenig rühmliche Rolle wahr. Dieser Tag, die Erinnerung an die Opfer ist so von Intellektuellen beschmutzt wie die Freiheit verraten worden. Das gehört auch zur Wahrheit über den 17. Juni.
Bis heute wird ebenso kritisiert, es sei an jenem Tag nur um die Rücknahme von Normerhöhungen gegangen. Diese Kritik übersieht, dass jede Revolution eines Anlasses bedarf. Vergleichen wir den 17. Juni 1953 einmal mit dem 14. Juli 1789, dem Sturm auf die Bastille, so werden wir feststellen, dass der 17. Juni den Vergleich ganz würdig besteht. Auch damals, 1789, ging es um eine symbolische Handlung. In der Bastille war kein einziger politischer Gefangener mehr zu befreien, aber sie war ein Symbol des Despotismus. Auch den Franzosen hätten sich andere Tage des nationalen Gedenkens angeboten: Interessanterweise der 17. Juni 1789, der Tag, an dem sich die Generalstände zur Nationalversammlung erklärten - die eigentlich revolutionäre Handlung. Oder der 20. Juni 1789, als es zum berühmten Ballhausschwur kam, die Nationalversammlung sich darauf verständigte, nicht eher auseinander zu gehen, bis man sich eine Verfassung gegeben habe. Dennoch sind die Franzosen beim 14. Juli geblieben, weil es der Tag des Volkes war.
Uns hingegen ist ein Volksaufstand stets suspekt. Nach marxistischer Terminologie hat es ihn im Sozialismus nicht geben können. Aber auch im Westen fand sich wenig Begeisterung. Wir haben den 17. Juni im Westen zum "Tag der deutschen Einheit" erklärt, ihn damit zugleich aber auch ein wenig gezähmt. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Der 17. Juni war ein Tag der deutschen Einheit. Er brachte ein klares, eindeutiges und spontanes Bekenntnis zur Zusammengehörigkeit der Nation. Dieses kam aus dem Osten, aber es wurde auch im Westen verstanden.
[Beifall bei der FDP]
Von hier führt eine direkte Linie zu den Montagsdemonstrationen von Leipzig und anderen Orten der DDR. "Wir sind ein Volk" - mit diesem Satz kündigte sich 1953 wie 1989 das Ende der Legitimität der DDR an. So war richtig, dass dieser Tag zum Nationalfeiertag erklärt worden ist, auch wenn wir uns ihm im Westen später als wenig würdig erwiesen haben.
Zunächst aber gehört zur Würdigung des Volksaufstands die Tatsache, dass er an über 700 Orten stattfand - mit Demonstrationen und Streiks. Das sprengte den Anlass der Normerhöhung und wies über ihn hinaus. "Wir wollen freie Menschen sein", diese Forderung einte und elektrisierte alle. Der Ruf nach Freiheit macht diesen Tag auch heute so bedeutsam und aktuell. Welche Stellung nimmt denn "Freiheit" heute in unserem Wertesystem ein? - Wir haben Grund, ihren Wert wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken.
Wenn im Rahmen eines Wettbewerbs der Körber-Stiftung zum 17. Juni ein Student bei seiner empirischen Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, je jünger die Befragten seien, desto weniger Interesse bestehe an der Geschichte, dann haben wir allen Anlass, uns Sorgen zu machen. Können wir den 17. Juni für die Bildung des Bewusstseins nutzen? Ich glaube, wir haben den Aspekt des 17. Juni 1953 als ein "Tag der Freiheit" viel zu wenig gewürdigt in der Vergangenheit. Wir haben ihn oft übersehen. Selbst die Bürgerrechtler geben zu, dass sie ein gespaltenes oder kaum ein Verhältnis zum 17. Juni entwickelt haben, was auch an der Interpretation durch die Intellektuellen gelegen haben mag. Aber auch wir im Westen haben übersehen, dass es im Osten immer ein elementares Freiheitsgefühl gab, das einfacher, anarchischer und ungequälter war als das der Bürgerrechtler. Wir haben uns über die Zufriedenheit im Osten getäuscht.
Dieser Gedenktag muss daher Anlass sein, auch über Fehler und Versäumnisse unserer Deutschlandpolitik nachzudenken, er wäre sonst verschenkt. Alle Parteien - ich nehme dabei meine eigene nicht aus - auch die Intellektuellen müssen sich fragen lassen: Was haben wir aus diesem Datum, aus diesem Ereignis gemacht? - Wir haben es zugelassen - ich habe es erwähnt -, dass der 17. Juni zu einem Tag verordneter Betroffenheit gemacht und von vielen verlacht wurde. Wir haben das Ziel der Einheit der Nation aus den Augen verloren, haben uns getäuscht und uns betrügen lassen über die wahren Verhältnisse in der DDR.
An dieser Stelle ist jedoch zunächst ein Wort an die PDS zu richten. Meine Damen und Herren! Auch wenn ich anerkenne, dass es manchen von Ihnen ernst ist um die Aufarbeitung der Vergangenheit,
[Frau Dr. Schulze (PDS): Aber?]
auch wenn ich sehe, dass es viele hoch respektable Kolleginnen und Kollegen in Ihren Reihen gibt,
[Frau Dr. Schulze (PDS): So sagen Sie es doch!]
auch wenn ich einräume, dass es einen Platz links von der SPD geben mag, auch in Zukunft, muss ich an diesem Tag zuerst an die Verantwortung ihrer Partei für die Ereignisse des 17. Juni 1953 erinnern. Durch die Wahrung der organisatorischen Kontinuität zur SED haben Sie dieses Erbe mit übernommen. Deswegen kann ich Sie aus der Verantwortung dafür nicht entlassen.
[Beifall bei der FDP und der CDU]
An diesem Tag stellt sich so auch unweigerlich erneut die Frage der moralischen Legitimität des rot-roten Bündnisses hier in Berlin. Auch die Parteien der Bundesrepublik haben es offenbar schwer, sich an die geschichtliche Verantwortung zu erinnern.
Auch daran: Wir haben das Ziel der Einheit aus den Augen verloren - ich habe es schon gesagt. Auch die SPD hatte ihren Anteil daran. Sie ist in den 70er und 80er Jahren am weitesten dabei gegangen, wenn man das bilanziert, sich vom Ziel der Vereinigung zu verabschieden. Auch meine eigene Partei ist sehr weit gegangen. Auch wir haben früh damit begonnen, uns Forderungen der DDR anzupassen, uns zu gewöhnen an die Situation. Auch wir tragen unseren Teil der Verantwortung. Viele Dinge sind noch zu wenig aufgearbeitet.
Aber das betrifft ebenso die anderen Parteien. Auch die CDU trifft es, die sich zwar am längsten wehrte gegen die Aufweichung der Position, aber 1988 mit Reiner Geißler fing es dann doch an. Und als der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann eine Wiedervereinigungspolitik verlangte, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl dazu: "Blühender Unsinn!" - Die Grünen haben auch nicht an die deutschlandpolitischen Positionen Petra Kellys angeknüpft, sondern Dirk Schneider in ihren Reihen wirken lassen, wir alle hatten uns von dem Gedanken der Wiedervereinigung verabschiedet. Ich meine daher, dass wir uns von dem Mythos trennen sollten, unsere Deutschlandpolitik sei ein direkter Vorläufer der Wiedervereinigung gewesen. An einem solchen Gedenktag gehört es zur Wahrheit, daran zu erinnern, dass es anderes war.
Der 17. Juni hält viele überraschende Lehren bereit. Er sollte uns als Tag der Einheit so wertvoll sein wie als Tag der Freiheit. Was wir an der Nation haben, nehmen wir meist nur beiläufig war. Wenn wir von der Solidargemeinschaft sprechen, dann ist das die Nation. Wenn wir von Grundrechten, Freiheiten, demokratischer Kontrolle sprechen, dann werden sie vom Nationalstaat garantiert.
Und einen Tag der Freiheit, Sandra Maischberger fragte dies gestern, gibt es den? - Es gibt ihn nicht, aber wir haben ihn bitter nötig. Der 17. Juni sollte uns gerade deshalb wertvoll sein. Wir verschwenden Ressourcen, wenn wir diesen Tag nicht stärker ins Bewusstsein rufen. Kann Erinnerung gefördert werden? - Sie muss. Wozu sonst hätten wir Geschichtsunterricht.
Ich will hier ganz bewusst nicht auf andere Feiertage eingehen, aber - zum Schluss - die Frage stellen, ob wir in dem 17. Juni nicht- einen würdigen nationalen Gedenktag, um nicht zu sagen Feiertag, hätten, der uns allen in vielfältiger Weise - gut täte. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
[Beifall bei der FDP - Vereinzelter Beifall bei der CDU]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Danke schön, Herr Kollege Hahn! - Als letzter in der ersten Rederunde erhält das Wort der Abgeordnete Cramer von der Fraktion der Grünen - bitte sehr!
Cramer (Grüne): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni war zunächst ein klassischer Arbeiteraufstand, dem sich schnell weite Teile der Bevölkerung anschlossen. Er war der erste Aufstand im sowjetischen Machtbereich nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihm folgten die Revolution in Ungarn, der Prager Frühling in der Tschechoslowakei und die Solidarnosc-Bewegung in Polen. Sie alle wurden gewaltsam niedergeschlagen.
Über 2.000 Menschen sind von sowjetischen und ostdeutschen Gerichten verurteilt worden. Sowjetische Standgerichte erschossen 18 Menschen, 2 wurden von ostdeutschen Gerichten zum Tode verurteilt, mehr als 60 Personen kamen ums Leben. Wir gedenken dieser Opfer in solidarischer Anerkennung. Erwähnt werden muss auch, dass mehr als 10 SED-Funktionäre und Mitarbeiter der DDR-Polizei den Tod fanden.
Entzündet hatte sich der Aufstand an den von der Regierung beschlossenen Normerhöhungen. Die zentralen Forderungen aber waren hochpolitisch und für die Verhältnisse in der DDR revolutionär: freie und geheime Wahlen in ganz Deutschland, Aufhebung der Zonengrenzen und Friedensvertrag für ganz Deutschland, Freiheit für alle politischen Gefangenen.
Die Unzufriedenheit in der DDR hatte insbesondere nach der zweiten SED-Parteikonferenz vom Juli 1952 zugenommen, auf der der "Aufbau des Sozialismus" beschlossen wurde. Das bedeutete zum einen die Konzentration der finanziellen und ökonomischen Ressourcen auf die Schwerindustrie zu Lasten der alltäglichen Versorgung der Bevölkerung, zum anderen die aus ideologischen Gründen forcierte Übertragung des sowjetischen Systems auf die DDR.
Die Kollektivierung der Landwirtschaft, der Kirchenkampf und die Aktionen gegen selbstständige Unternehmer führten nicht nur zu einer starken Versorgungskrise, sondern auch zu einer wachsenden Zahl von politischen Häftlingen und einer vehement ansteigenden Fluchtbewegung. Die Situation in der DDR war so dramatisch, dass selbst die sowjetische Führung nach dem Tod Stalins im März 1953 die SED-Spitze aufforderte, den eingeschlagenen Weg nicht fortzusetzen.
Die Männer und Frauen des 17. Juni hatten schon früh Mut und Zivilcourage bewiesen und sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt. Einer von ihnen war Heinz Brandt. Der Kommunist und KZ-Häftling war 1953 SED-Sekretär der Ostberliner Bezirksleitung und unterstützte die streikenden Arbeiter von Bergmann-Borsig. Im August 1953 wurde er deshalb aller Parteiämter enthoben und floh 1958 in die Bundesrepublik. 1961 wurde er vom Staatssicherheitsdienst entführt und zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach internationalen Protesten wurde Heinz Brandt 1964 freigelassen und schrieb das Buch "Ein Traum, der nicht entführbar ist".
Aber auch in der Bundesrepublik zeigte er Zivilcourage und Engagement für Demokratie und Freiheit. Er nutzte seine internationalen Kontakte, um das nach dem britischen Nobelpreisträger benannte Russel-Tribunal gegen den von der sozial-liberalen Koalition und allen Ministerpräsidenten auf den Weg gebrachten "Radikalenerlass" in der Bundesrepublik Deutschland zu organisieren. Nicht nur Heinz Brandt, auch große Teile meiner Generation hatten sich damals unter "Mehr Demokratie wagen" etwas anderes als Berufsverbote vorgestellt.
In der Praxis der Berufsverbote sah 1978 nicht nur das Russel-Tribunal, sondern 1995 auch der Europäische Gerichtshof in Straßburg eine Verletzung der Menschenrechte. Aber Heinz Brandt, und deshalb erzähle ich dies, war nicht einäugig. Mit dem selben Engagement setzte er sein Kämpferherz auch für ein Russel-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der DDR ein. Leider hatte er damit keinen Erfolg. Mit Heinz Brandt und anderen bekommen die Unbekannten des 17. Juni einen Namen. Die Fraktion der Grünen unterstützt und begrüßt es ausdrücklich, dass in Pankow eine Straße nach Heinz Brandt benannt wird. Das ist ein guter Anfang. Weitere Personen müssen folgen.
[Beifall bei den Grünen - Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]
Den 17. Juni erlebte Wolfgang Leonhardt, der Autor des Buches "Die Revolution entlässt ihre Kinder", im blockfreien Jugoslawien, wo der Aufstand gegen Bürokratie, Diktatur und Verrat am Sozialismus von jubelnden Menschenmassen auf den Straßen gefeiert wurde. Für Leonhardt, einem profunden Kenner der Sowjetunion, war er die Ouvertüre vom Niedergang und Fall des sowjetischen Imperiums und weniger ein Tag der nationalen, denn der europäischen Einheit: Für ihn und auch für uns ist der 17. Juni 1953 ein Tag der Selbstbefreiung und der revolutionären Emanzipation.
In der DDR wurde der Aufstand am 17. Juni offiziell verleugnet. Er galt als faschistischer Putsch, der von westlichen Geheimdiensten langfristig organisiert und durchgeführt worden sei. Diese These konnte die SED niemals belegen.
Das hindert allerdings den Ehrenvorsitzenden der PDS Hans Modrow keineswegs den 17. Juni heute folgendermaßen einzuschätzen - im "Tagesspiegel" vom Dienstag wird er so zitiert:
"Westdeutsche und Westberliner Kräfte, darunter Medien, mischten sich völkerrechtswidrig in die damaligen inneren Auseinandersetzungen der DDR ein."
Außerdem rechtfertigt Modrow auch heute noch die Inhaftierungen und Verurteilungen der DDR-Gerichte. Das allerdings ist ein Skandal!
[Beifall bei den Grünen, der SPD, der CDU und der FDP]
Denn auch nachdem die Stasi-Akten zugänglich sind, wissen wir, dass es sich - ohne Unterstützung der Intelligenz - um einen spontanen Arbeiteraufstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung handelte, einen Aufstand nach dem klassischen Drehbuch sozialistischer Revolutionstheorie. Er überraschte die Geheimdienste nicht nur im Osten, sondern auch die im Westen.
Im Westen wurde der 17. Juni seit 1954 als Tag der deutschen Einheit begangen. Während in den ersten Jahren noch Hunderttausende dieses Tages gedachten, wurde er später überwiegend als willkommener Urlaubstag denn als Gedenktag genutzt. Außerdem passte er nicht in die Entspannungspolitik. Deshalb wurde, unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung, der 17. Juni mehr und mehr aus dem öffentlichen Gedenken zurückgedrängt.
Klaus Harpprecht, Journalist und Buchautor über den 17. Juni, nennt ihn den ersten Schritt auf dem langen Weg bis zum 9. November. Einen Zusammenhang, den Herbert Wehner am 1. Juli 1953 im Deutschen Bundestag bereits mit folgenden Worten voraussagte:
"Und das alles mündete in dieses glühende Bekenntnis, für das in Berlin an einem Tag ein fast hundertprozentiger Generalstreik war und für das in der Zone Hunderttausende unter Lebensgefahr gestreikt haben, in dieses glühende Bekenntnis Wir wollen nicht mehr in einem gespaltenem Deutschland leben. Wir wollen Wiedervereinigung. Das mag etwas sein, das uns berechtigt, mit einem Wort von Karl Marx zum Gedenken an die Juni-Kämpfer von Paris des Jahres 1848 zu sagen: Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt. Besiegt sind ganz andere. Das wird die Geschichte lehren."
Das Protokoll vermerkt: Lebhafter Beifall im ganzen Hause - außer bei der KPD.
50 Jahre später kennen wir die Lehren der Geschichte. Im Sinne von Sören Kierkegaard - "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden" - können wir heute sagen, dass sich das Vermächtnis des 17. Juni am 9. Oktober 1989 erfüllte, nämlich als in Leipzig in der entscheidenden Phase der friedlichen Revolution der Mut der Demonstranten größer war als die Angst vor der Staatsgewalt und sie zu Zehntausenden auf die Straße gingen. Diesem 9. Oktober folgte der 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer.
Wenn es für diesen Zusammenhang noch eines Beweises bedarf: Am 31. August 1989 hat kein Geringerer als Stasichef Erich Melke vor vertrauten Genossen ängstlich gefragt:
"Ist die Situation etwa so, dass ein zweiter 17. Juni bevorsteht?"
Ja, die Situation war so.
Heute, 50 Jahre danach, ist das Interesse an den Ereignissen vom 17. Juni riesengroß. Allein die Filme in der ARD und im ZDF wurden von mehr als neun Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern gesehen. In Berlin fanden und finden über 500 Veranstaltungen statt, und die Handreichung für den Unterricht, die das Berliner Landesinstitut für Schule und Medien zusammen mit, dem Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen herausgegeben hat, ist eine sehr gute Grundlage, um nicht nur die Defizite der Schüler, sondern auch die mancher Lehrer zu beheben. Der 17. Juni 1953 gehört zu den wenigen positiven Tagen in der deutschen Geschichte: die Märzrevolution von 1848, die Novemberrevolution von 1918, der Aufstand vom 17. Juni 1953, die Montagsdemonstrationen vom 9. Oktober 1989, ohne die es den 9. November nicht gegeben hätte. Mit der friedlichen Revolution in der DDR erfüllte sich das Versprechen des 17. Juni, und zu Recht wird kritisiert, dass dieser Feiertag zu Gunsten des 3. Oktober abgeschafft wurde. Damit wurde nicht nur das Datum 17. Juni durch den 3. Oktober ersetzt, sondern auch das Gedenken verlagert, nämlich weg von Mut und Freiheitsliebe Hunderttausender hin zu den paar Männern -es waren in der Tat nur Männer-, die glaubten, mit ihrer Unterschrift Geschichte gemacht zu haben.
Den 1. Mai allerdings für den 17. Juni einzutauschen, ist eine absurde Idee. Herr Lindner, zunächst etwas mehr Bescheidenheit. Schließlich war es die FDP, die als Regierungskoalition zusammen mit der CDU beschlossen hatte, den 17. Juni abzuschaffen. Wie wenig Sie sich zügeln können, zeigt sich auch daran, dass Sie selbst bei einem Ereignis wie dem 17. Juni offenbar nicht Ihren Hass auf die Gewerkschaften verbergen können. Bei Ihrem Vorschlag, den Tag der internationalen Arbeiterbewegung zu Gunsten des 17. Juni einzutauschen, würde sich ein Kämpfer wie Heinz Brandt im Grab herumdrehen. Das ist eine absurde Idee.
[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Herr Kollege, ich erinnere Sie an die Redezeit!
Cramer (Grüne): Eher ist dem Sachbuchautor über den 17. Juni, Ilko-Sascha Kowalczuk, zuzustimmen
"Man kann den 18. März, den 17. Juni, den 9. Oktober oder den 9. November zum Feiertag der demokratischen Emanzipation in Deutschland machen. Alle diese Daten sind besser als der 3. Oktober."
Die gemeinsame Erklärung zum 17. Juni 1953 war auch oder wegen des Abstands von 50 Jahren ein schwieriger Prozess. Der historischen Bedeutung wird diese Erklärung allemal gerecht. Ich bitte Sie, dieser Erklärung aller fünf Fraktionen zum 50. Jahrestag des 17. Juni zuzustimmen. - Herzlichen Dank!
[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS - Vereinzelter Beifall bei der CDU]
Vizepräsident Dr. Stölzl: Vielen Dank, Herr Kollege Cramer! - Für den Senat hat der Regierende Bürgermeister das Wort. - Bitte schön!
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[Quelle: Abgeordnetenhaus von Berlin - 15. Wahlperiode, 32. Sitzung vom 12. Juni 2003, S. 2481-2489.]
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