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Gabriele Schnell
Der 17. Juni 1953 in Lauchhammer und Umgebung
Am Vormittag legen zahlreiche Arbeiter im Industrieschwerpunkt Lauchhammer die Arbeit nieder. Die Volkspolizei spricht von "lebhaften Streikbewegungen" und zählt 4.326 Streikende. Zentrum des Streiks sind die Baustellen in der Großkokerei "Matyas Rakosi". Von hier springt der Funke auf andere Großbetriebe über. In der Stadt Lauchhammer demonstrieren etwa 900 Menschen. Auch vor der Großkokerei findet eine Demonstration statt. Die aufgebrachten Arbeiter besetzen Teile des Werkes. Der Volkspolizeibericht vermerkt: "Nachdem die eingesetzten Volkspolizei-Kräfte sich gegenüber der hohen Zahl der Demonstranten als zu schwach erwiesen, wurden in den Abendstunden sowjetische Panzereinheiten im Lauchhammergebiet eingesetzt. ... Im gemeinsamen Einsatz wurden auch hier die Demonstranten zerstreut."
Trotzdem werden die Streiks am 18. Juni fortgesetzt.
Um 11.00 Uhr erklärt sich die Belegschaft der Hauptwerkstatt des Braunkohlewerkes "Friedenswacht" solidarisch mit den Streikenden in der ganzen DDR. Sie erhebt ihre mit zahlreichen Unterschriften versehenen Forderungen:
"
- Aufhebung des Ausnahmezustandes
- Freie, geheime und gesamtdeutsche Wahlen
- Rücktritt der Regierung
- Freilassung sämtlicher politischer Häftlinge und Kriegsgefangenen in der SU [Sowjetunion] sowie Benachrichtigung der Hinterbliebenen
- Auflösung der KVP [Kasernierten Volkspolizei] in der DDR
- Angleichung der Preise für die Bedarfsgüter an den Lohn
Die Belegschaft streikt einstimmig solange weiter, bis die Delegation aus Cottbus zurückkommt.
Sollten Kollegen durch diesen Streik gemaßregelt werden, wird der Streik bis zur Wiedergutmachung fortgesetzt. Ferner wünscht die Belegschaft, dass diese Forderungen öffentlich in den Zeitungen erscheinen.
Die Belegschaft bittet den Bezirksrat Cottbus, diesen Streikbeschluss sofort der Regierung der DDR zuzuleiten.
Eine konkrete Antwort auf diese Forderungen erbitten wir bis 20. Juli 1953 um 10.00 Uhr."
Am Tag darauf werden elf Arbeiter der Hauptwerkstatt verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Cottbus gebracht. Am 26. Juni 1953 verurteilt das Bezirksgericht Cottbus zwei von ihnen zu Zuchthausstrafen von zweieinhalb Jahren und einen zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr. Vier erhalten Gefängnisstrafen zwischen zehn und sechs Monaten.
Ein 33-jähriger Normensachbearbeiter der Großkokerei "Matyas Rakosi" wird am 18. Juni verhaftet. Am 20. Juni wird er vor dem Bezirksgericht Cottbus angeklagt, "führende Staatsfunktionäre in gemeinster Weise beschimpft und Hetzreden gehalten (zu haben, d. Vf.), die geeignet scheinen, den Frieden des deutschen Volkes zu stören".
In der Anklageschrift des Staatsanwaltes heißt es:
"Aus den Reden und dem ganzen Verhalten des Beschuldigten zeigt sich, dass er ein vollkommen faschistisch verseuchter Verbrecher ist. Er zeigte ganz offen seine feindliche Einstellung gegen die Arbeiterklasse, gegen unsere Regierung, gegen die friedliebende Sowjetunion, der wir doch soviel zu danken haben und die gerade wieder in den letzten Tagen ihre unbeschreibliche Größe und Überlegenheit gezeigt hat. Er hat sich nicht gescheut, ruhig zuzusehen, wie ein ihm ebenbürtiger Verbrecher das Bild des unvergesslichen Lehrmeisters der Arbeiterklasse J. W. Stalin in den Schmutz trat. Er war besorgt, dass Rahmen und Scheibe nicht entzwei gehen, die könnten ja noch gebraucht werden. Aus dieser letzten Haltung des Beschuldigten zeigt sich mit aller Deutlichkeit seine abgrundtiefe Verkommenheit."
Am 24. Juni wird das Urteil gesprochen: drei Jahre Zuchthaus. Mit Hilfe eines Rechtsanwaltes geht der Verurteilte am 1. Juli in Berufung. Das Urteil wird
revidiert und eine Zuchthausstrafe von einem Jahr und drei Monaten für Recht erkannt.
[Quellen:
BA, DO 1/11.0/305; BLHA, Rep. 871/17, Sign. 10, Bl. 102 VS/RS; BStU, Ast. Frankfurt/ Oder, AU 93/53, Bd. I, Bl. 122 a; BStU, Ast. Frankfurt/ Oder, AU 93/53, Bd. I; BStU, Ast. Frankfurt/ Oder, AU 87/53, UV und STA.]
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