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Dr. med. Hartmut Jatzko
Es war am 17. Juni 1953 in Görlitz ...
... gegen 12.00 Uhr mittags. Ich stand vor dem Prüfungskollegium, 14jährig, und ich breitete vor den Herren meine Geschichtskenntnisse aus, erzählte von den großen Revolutionen, die die ausgebeutete und unterdrückte Klasse in der jeweiligen gesellschaftlichen Formation gegen die Ausbeutermacht führte. Viel hing von dieser Prüfung für mich ab: ich wollte die Oberschule besuchen. Begeistert sprach ich über die große sozialistische Oktoberrevolution und legte - die eingelernten Worte vom Sieg des Sozialismus und der Befreiung der Arbeiterklasse gebrauchend - ein großes Bekenntnis ab.
Ich war etwas verwundert, als mich der Schulleiter plötzlich in meiner Huldigung unterbrach, mir eine Eins gab und mich nach Hause schickte. Kaum hatte ich das Schulhaus verlassen, verschloß der Hausmeister eilig die Tür. Dann sah ich meinen Bruder auf dem Fahrrad vorbeiflitzen. Er rief mir aufgeregt zu: "Komm gleich zum Ständehaus; wir räumen den Parteipalast aus!" Ich begriff nichts, doch nach fünf Minuten war ich unterrichtet. Von überall her hasteten Menschen ins Innere von Görlitz. "Es wird gestreikt gegen die Normenerhöhung!" Meine Mutter wollte uns zurückhalten: "Ihr könnt doch gegen die Russen nichts machen!"
Doch ich stand plötzlich wie in einem Rausch; noch zu jung, um alle Folgen zu übersehen, aber schon bewußt genug denkend, um zu wissen, was geschah. Auf volle Lautstärke stellte ich den Sender von RIAS Berlin ein, der von einem Aufstand in Berlin und anderen Städten berichtete.
Sofort war ich in der Stadt, wo auf dem Leninplatz schon Demonstrationszüge der Großbetriebe angelangt waren und ständig Menschenmassen aus den Seitenstraßen hinzuströmten, so daß bald 50 - 60.000 Arbeiter und Jugendliche versammelt waren. Das Rathaus war bereits gestürmt und Techniker hatten den Stadtfunk sendebereit gemacht. Aus einem Aufklärungslokal wurden Tische geholt, die nun von den ersten Sprechern bestiegen wurden. Nach den Meldungen aus Berlin begnügten sich die Demonstranten nicht mehr mit der Forderung nach Normensenkungen und Lohnerhöhungen. Bei uns war, so schien es, die Zeit der bolschewistischen Herrschaft vorbei, die SED verboten, die Volkspolizei und die KVP aufgelöst, die politischen Gefangenen befreit. Der Höhepunkt mag wohl gewesen sein, als der riesige Chor die richtige deutsche Nationalhymne sang. Dabei fielen sich viele weinend um den Hals. Als um 17.00 Uhr der Ausnahme- und später der Belagerungszustand verhängt wurden, störte dies zunächst niemand, bis plötzlich sowjetische Panzerspähwagen in die Menge fuhren. Aber niemand wich zurück; die Panzerwagen wurden angegriffen, zum Teil unschädlich gemacht, oder sie zogen von selbst wieder ab. Die Volkspolizisten hatten sich von Anfang an mit uns solidarisch erklärt. Das Nichteingreifen der Russen wurde uns klar, als die Nachricht kam, daß sich seit Tagen polnische Partisaneneinheiten in der Nähe mit der Roten Armee eine Schlacht liefern würden. Wir dachten, der ganze Ostblock stehe im Aufstand.
Doch da kamen am Abend des 17. Juni die Meldungen, daß die Erhebung zum großen Teil erstickt sei. Berlin war 230 Kilometer entfernt, so daß eine Flucht kaum möglich war. Die von den Sprechern auf den 18. Juni morgens angesetzte Großkundgebung, auf der eine neue Stadtverwaltung und Abgeordnete für einen Revolutionsrat gewählt werden sollten, fand nicht statt. Es durften nicht mehr als zwei Personen zusammen stehen.
Bei Bekannten, die einen UKW-Teil am Radio hatten, hörten wir die westlichen Meldungen. Dabei machte sich ein immer größer werdender Unwille gegen die Regierungen der Westmächte, vor allem gegen die Bundesrepublik, bemerkbar. Nicht wenige waren der Meinung, daß uns der Westen verraten habe. Es war kein Versuch unternommen worden, uns zu helfen. In Berlin wurden Hennigsdorfer Arbeiter von französischem Militär daran gehindert, durch den Sektor zu marschieren, freilich ohne Erfolg. Ernst Reuter wurde von Amerikanern gehindert, sofort von Wien nach Berlin zu fliegen. Sein Aufruf in russischer Sprache an die rote Armee durfte nicht gesendet werden. Es wurde kein Ostberliner in die westlichen Funkhäuser gelassen, um für uns Deutsche zu sprechen. Russische Emigranten konnten nicht die Soldaten der Roten Armee aufklären, daß sie gegen demonstrierende Arbeiter, ihre Klassenbrüder, und nicht gegen faschistische Putschisten, Agenten und Provokateure kämpfen.
"Wo ist denn die Stärke des Westens, die dem erschrockenen Kreml ein Halt bieten kann, wo ist die Verantwortlichkeit für Deutschland nach dem Viermächtestatut?" Nur wenige konnten einsehen, daß mit einem westlichen Eingreifen der Weltfrieden auf dem Spiel gestanden hätte. Aber es ist nicht verwunderlich, daß nach dem 17. Juni viele resignierten, nachdem gegen die militärische Übermacht der Russen, den Aufbau der Betriebskampfgruppen, der GST und der Volksarmee kaum einer mehr aufbegehren konnte. "Da werde ich nun Kommunist und helfe aktiv am Aufbau. Vielleicht können wir doch die Lebenslage verbessern. Auf den Westen dürfen wir nicht rechnen."
Dann kam 1956 der heldenhafte ungarische Volksaufstand, dessen Verlauf in vielem der mitteldeutschen Erhebung von 1953 glich. Auch die Ungarn, deren noch größerer, deren verzweifelter Mut noch bewundernswerter war, fühlten sich vom Westen alleingelassen: "Sowjetpanzer greifen Budapest an! Wir rufen die ganze Welt um Hilfe!" Und die Welt wollte nicht helfen, konnte nicht helfen.
Beide Erhebungen haben jedoch gezeigt: Es sind Aufstände gegen den Bolschewismus möglich, gegen die stärkste militärische Einzelmacht der Welt. Aber sie können nicht mehr das Mittel sein, Völker von der Unterdrückung zu befreien. Trotzdem: Es gibt immer noch Nationen und Volksteile im Ostblock, bei denen die kommunistische Ideologie noch nicht gesiegt hat. Was der Westen tun kann, ist vor allem, das Verlangen nach Selbstbestimmung, nach innerer und äußerer Freiheit bei diesen Völkern immer wieder zu stärken und wach zu halten. Dann ist auch die deutsche Sowjetzone noch nicht verloren und der Aufstand des 17. Juni 1953 hat seinen Sinn gehabt.
[Quelle: Schriftlicher Zeitzeugenbericht von Dr. med. Hartmut Jatzko; Kopie im Archiv des ZZF.]
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