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Bezirk Halle
Im Bezirk Halle erreichte der landesweite Aufstand seine größten Wirkungen. Alle 22 Kreise meldeten Streiks und Aktionen. Neben der Bezirksstadt zählten vor allem die Industriestandorte Leuna, Bitterfeld, Wolfen, Weißenfels und Eisleben sowie Quedlinburg und Köthen zu den Schwerpunkten im Bezirk.
Hervorzuheben ist besonders die Industrieregion Bitterfeld, wo ein überregionales Streikkomitee die Aktionen der 30.000 Streikenden koordinierte.
Telegramm des Streikkomitees Bitterfeld an die DDR-Regierung, 17.6.1953
Gezielt und gut organisiert besetzten die Arbeiter in Bitterfeld das Volkspolizeigebäude, die Stadtverwaltung, die Staatssicherheit und das Gefängnis, um die Staatsorgane zu entmachten.
Zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt es in Bitterfeld auch deshalb nicht, weil der Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes, der VP-Kommandeur Nossek, in den Morgenstunden die Betriebe in Bitterfeld und Wolfen abfuhr und anordnete, dass die Waffen in den Waffenkammern einzuschließen seien, womit er den Betriebsschutz praktisch entwaffnet. Wegen "persönlicher Feigheit, verbunden mit direktem Paktieren mit den Provokateuren" wurde Nossek für dieses "schandbare Verhalten" nach dem 17. Juni "als Verräter an der Sache des werktätigen Volkes" zum Unter-Wachtmeister degradiert und aus der Volkspolizei ausgestoßen.
Die Bitterfelder Streikleitung nimmt auch Einfluss auf die umliegenden Gebiete. Die zentrale Streikleitung sendet Arbeitergruppen in die benachbarten Orte, um den Aufstand und die Durchsetzung seiner Ziele zu verbreitern. In der Hoffnung auf loyales Verhalten verzichtet die Streikleitung beim Einrücken sowjetischer Militäreinheiten und der Kasernierten Volkspolizei am Nachmittag des 17. Juni auf die Organisation von Widerstandaktionen. Diese Hoffnung erweist sich als vergebens, denn die Streik- und Demonstrationsbewegung wird niedergeschlagen und das 25köpfige Streikkomitee verhaftet. In der Folgezeit werden vier Mitglieder des Streikausschusses hingerichtet.
Deutlich gewalttätiger vollziehen sich die Ereignisse in der Bezirksstadt Halle. In den Morgenstunden versammeln sich etwa 2.000 Arbeiter auf dem Betriebsgelände des Waggonbauwerkes Ammendorf vor den Toren der Stadt; es wird heftig diskutiert. Die Arbeiter ziehen schließlich in das Stadtzentrum. Andere Betriebe schließen sich ihnen auf dem Weg dorthin an. Der inzwischen auf etwa 10.000 Menschen angewachsene Demonstrationszug bewegt sich zur Justizverwaltung des Bezirkes am Hansaring. Zur gleichen Zeit werden die Strafvollzugsanstalt in der Kleinen Steinstraße - ein Frauengefängnis - und die Haftanstalt am Kirchtor (der "Rote Ochse") belagert. Dort versucht man, mit Hilfe eines Lastwagens das Tor zur Haftanstalt aufzubrechen, um die Gefangenen zu befreien - doch der Versuch schlägt fehl. Demgegenüber gelingt es, das Frauengefängnis - mit einer von der Staatsanwaltschaft erzwungenen Vollmacht zur Freilassung aller politischen Gefangenen - zu erobern; alle 245 inhaftierten Frauen werden ohne Prüfung der Delikte freigelassen. Während der Auseinandersetzungen vor dem Frauengefängnis wird durch den Schusswaffeneinsatz der Kasernierten Volkspolizei ein Demonstrant schwerverletzt: der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei erteilt um 14.15 Uhr einen allgemeinen Schießbefehl. Vier Demonstranten werden vom Wachturm der Haftanstalt Am Kirchtor ("Roter Ochse") aus erschossen. Seit etwa 15.00/16.00 Uhr kommen sowjetische Truppen mit Panzern zum Einsatz.
Um 18.00 Uhr versammeln sich schätzungsweise 60.000 Menschen auf dem Hallmarkt im Stadtzentrum. Ein "zentrales Streikkomitee", das sich um 14.00 Uhr ebenfalls auf dem Hallmarkt konstituiert hat, verkündet als Forderung freie Wahlen, eine 40prozentige Senkung der HO-Preise und den Rücktritt der Regierung. Dann ruft es für den 18. Juni zum Generalstreik auf. Zum Abschluss der Kundgebung wurde das Deutschlandlied gesungen; plötzlich rollen sowjetische Panzer und lösen die Versammlung auf.
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Um 18.30 Uhr wird der Ausnahmezustand bekannt gegeben, doch die Demonstrationen halten an. Bei der Abwehr des Versuches, die SED-Kreisleitung Halle zu stürmen, wird um 19.15 Uhr ein Passant von einem Volkspolizisten erschossen. An der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit am Robert-Franz-Ring wird ebenfalls um 20.15 Uhr auf die Demonstranten geschossen. Ein junger Arbeiter stirbt. Der Demonstrationszug löste sich auf.
Insgesamt werden an diesem Tag in Halle sieben Aufständische bzw. Unbeteiligte getötet [die Schreibweise der Namen weicht in den Akten voneinander ab]: Edmund Ewald, Manfred Stoys [Steue], Kurt [Karl] Crato, Gerhard Schmidt, Rudolf Krause, Karl Ruhnke [Röhnke] und Horst Keil [Geil](erliegt am 27. Juni seiner Schussverletzung vom 17.6.).
Erst gegen 23.00 Uhr gibt die SED-Bezirksleitung die Meldung nach Berlin durch: "Nach Einsatz großer Kräfte der Freunde ist in Halle die Ruhe im Wesentlichen wieder hergestellt."
Es ist eine trügerische Ruhe.
BDVP Halle, "Bericht über den Verlauf der faschistischen Provokation in Halle/Saale", 1.7.1953
Telefonische Meldungen und Durchsagen der SED im Bezirk Halle am
17. Juni 1953 an das ZK der SED (Auszüge)
[Quellen: Telegramme, Durchsagen, Mitteilungen und Berichte zwischen dem 17. und 30.6.53, in: SAPMO-BArch, NY 4062, Signatur 94; Blatt 173-216; siehe auch Diedrich 1991; Miosga 1991; Beier 1993; Klein 1993; Fuckert 1996; Löhn 1998; Der 17. Juni 1953 in Halle (2001); Schmidt/Wagner 2001; Koop 2003.]
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