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Manfred Schaaf, Postangestellter, über den 17. Juni in Bitterfeld
Abschrift
Manfred Schaaf, Angestellter auf dem Postamt von Bitterfeld
Meine Schwester, die in der Poliklinik Wolfen beschäftigt war, rief mich an und sagte mir, dass die Arbeiter der Film- und Farbenfabrik auf dem Wege nach Bitterfeld seien. Ich bin dann in die Stadt gegangen und da kamen sie dann, so wie sie den Arbeitsplatz verlassen hatten, in Arbeitskleidung, mit Schweißerbrillen usw. und zogen als spontaner Demonstrationszug durch die Stadt durch eine Beifall spendende Menschenmenge.
Es war die schönste, begeisterte Demonstration, die ich je erlebt habe. Auch Plakate wurden mitgeführt. An eines entsinne ich mich bis heute: "Wir wollen keine Grenzen und Zonen, weil hüben und drüben Deutsche wohnen". Soweit es mir bekannt ist, verlief diese Demonstration geordnet und friedlich.
Die Menge zog aber dann durch die Lindenstraße, und hier wurden die Büros der SED-Kreisleitung, der FDJ-Kreisleitung usw. gestürmt. Ich habe gesehen, wie die verhassten Losungen heruntergerissen, Stalinbilder usw. händeweise aus den Fenstern geworfen wurden.
Neben dem Postamt lag das Gefängnis. Auch dieses war gestürmt und Häftlinge befreit worden. Wahrscheinlich um das Gefängnis zu bewachen, fuhren plötzlich zwei Mannschaftswagen der Transportpolizei vor, mitten in die Menge. Keiner der Insassen wagte aber auszusteigen. Ich stand direkt daneben und sehe heute noch den jungen Polizisten, bei dem vor Angst das Pochen der Halsschlagader zu sehen war. Da nichts geschah, hing sich an jede Seite der Wagen eine Menge Männer und begannen solange zu schaukeln, bis die Wagen umstürzten. Nun mussten die Polizisten hervor kriechen und ihren Weg durch die Menge nehmen. Man schlug ihnen die Mützen vom Kopf und riss ihnen die Achselklappen und Koppel herunter. Weitere körperliche Angriffe habe ich nicht beobachtet. Es hatte aber auch keiner eine Gegenwehr gewagt. Sie hätte lebensgefährlich sein können.
Danach war eigentlich die Demonstration, soweit ich die Ereignisse beobachten konnte, beendet. Erst danach kamen sowjetische Truppen, und am nächsten Tag legte sich dann eine fast 40 Jahre währende Friedhofsruhe über das Land, die erst mit der großen Demonstration am 4.November 1989, an der ich teilnahm, beendet werden konnte.
[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 - Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 147-148.]
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