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Klaus Haase, Lehrling, über den 17. Juni in den Buna-Werken/Merseburg
Abschrift
Klaus Haase, Lehrling bei den Chemischen Werken Buna/Schkopau
Ich glaube, es war so gegen 9 Uhr, als die Werkssirenen zu heulen begannen. Das war zunächst nichts Besonderes, weil Arbeitspausen immer mit dem Ertönen der Sirene angekündigt wurden. An diesem Tag hörten die Sirenen aber nicht wieder auf zu heulen.
Nun muss man sich diese Werksirenen nicht wie eine heutige Feuer-Alarm-Sirene mit dem Auf und Ab der hellen Töne vorstellen. Nein, diese hatte einen tiefen Ton, ähnlich dem einer Schiffssirene und sie ging durch Mark und Bein. Alleine der Gedanke an diesen nicht endenden Ton der Werkssirenen (wegen der Größe des Werkes gab es mehrere), die nun aus allen Betriebsteilen vielstimmig ertönten, lässt mir heute noch Schauer über den Rücken laufen. Jedenfalls hatte ich sofort das Gefühl, dass etwas Besonderes geschehen ist oder geschehen wird.
Inzwischen sahen die Arbeiter und Angestellten aus den Türen der Betriebsgebäude heraus. Zurufe von Vorbeieilenden wurden aufgefangen: "Kommt mit, kommt mit, wir marschieren zum Werkstor". Nicht wissend, was dies alles zu bedeuten hatte, schlossen sich die Mitarbeiter aus dem Betrieb C 34, in dem ich gerade tätig war, dem sich formierenden Zug an. Am Werkstor empfand ich es als sehr merkwürdig, dass die Werkspolizei in ihren schwarzen Uniformen betreten zur Seite zu sehen schien - jedenfalls ließ sie gewähren, was da lief.
Schließlich formierte sich am Haupttor ein Demonstrationszug. Es hatte sich herumgesprochen oder es war dazu aufgerufen worden, dass wir nach Merseburg, zur Kreisstadt, marschieren wollten. Es war ein langer Zug von marschierenden Arbeitern, und ich glaube, dass von den 15.000 Arbeitern kaum einer an seinem Arbeitsplatz blieb. Der Weg war lang, bis zur Kreisstadt waren mindestens acht Kilometer zurückzulegen. Trotzdem ist mir der lange Marsch nicht in Erinnerung geblieben. Die Ereignisse am Anfang und am Ende des Aufstandes waren so eindrucksvoll, dass darüber manche Dinge in den Hintergrund getreten sind und nicht so in Erinnerung blieben.
In Merseburg versammelten sich die Demonstranten vor dem Gebäude des Rates des Kreises (oder hieß es damals noch Landratsamt?). Unübersehbar war die Menschenmenge, die sich in den Straßen versammelt hatte, und es erklangen Rufe, in denen die Verantwortlichen aufgefordert wurden, das Gebäude zu verlassen. "Bonzen raus" kann ich mich noch erinnern. Dicht gedrängt standen die Arbeiter in ihrer Arbeitskleidung. Es sprach sich herum, dass in dem unweit entfernten Gefängnis die Gefangenen befreit worden sind. Die Menschen waren erregt und hatten ihre Blicke erwartungsvoll auf das Gebäude gerichtet.
Ein Teil der Versammelten war inzwischen in das Gebäude eingedrungen. Fenster flogen auf, und Akten flatterten in hohem Bogen auf die Straße. Schließlich landete direkt vor meinen Füßen ein Bild mit der Abbildung von Walter Ulbricht. Ein Bild, wie es in allen Amtsstuben der damaligen Zeit zu sehen war, und das in der späteren Zeit durch das Foto von Erich Honecker ersetzt wurde. Das Glas des Bildes zerbrach beim Aufprall auf das Straßenpflaster. Und dieses zerbrochene Glas, das nun in Splittern das Bild bedeckte, war für mich ein Symbol. Ich habe mich in der späteren Zeit immer wieder an dieses Bild erinnert, und ich glaube, es ist letztlich dieses Symbol gewesen, das mich - obwohl ich sehr umworben wurde, und auch als Tierarzt in der DDR nicht schlecht gelebt habe - davon abgehalten hat, SED-Mitglied zu werden. (...)
Nun aber zurück zum 17. Juni. Der Schluss ist schnell berichtet. Es dauerte nicht lange, bis die ersten russischen Panzer in der Straße angerollt kamen. Die Menschenmassen wichen der Gewalt. Zuerst standen wir noch in kleinen Gruppen umher und betrachteten die Panzer. Wir standen ganz dicht an diesen Höllenmaschinen. Die Demonstranten waren nur gerade so weit ausgewichen, dass die Panzer sich schrittweise vorwärts bewegen konnten. Still und mit unglücklichen Gesichtern verließen die Menschen langsam den Ort des Geschehens. Schüsse sind meines Wissens glücklicherweise in Merseburg nicht gefallen. Erst an den folgenden Tagen wurde über den Rundfunk Näheres über die blutigen Ereignisse in anderen Städten, vor allem in Berlin, bekannt.
[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 - Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 258-259.]
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