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Wilhelm Fiebelkorn
Erinnerungen an die Vorgänge des 17. Juni 1953 in Bitterfeld [Auszug]
9.30 Uhr: Die Arbeiter kommen
Dann aber, es war so gegen 9.30 Uhr, schob sich eine schwarze Wand wogend vorwärts über die Bahnüberführung dicht an unserer Schule. Die Arbeiter kamen! Vor Erregung schlug mein Herz bis zum Hals. Ich sah, daß die Arbeiter sich gegenseitig untergehakt hatten. Ein jeder zog und schob jeden. Die Fühlung, die Masse, machte sie stark und mutig. Vor der schwarzen Menschenmasse ging ein einzelner Mann: Paul Othma. (...)
Ich war wie in einem Rausch. Zuerst stand ich an der Hoftür. Schüler stürmten aus der Schule. Fenster wurden aufgerissen. Einige Lehrer standen plötzlich neben mir. "Machen wir mit?" fragte ich sie. Sie standen da, offenbar von dem Ereignis völlig überrascht, unfähig etwas zu sagen. Vielleicht dachten sie in diesem Augenblick weiter als ich. Sie blieben passiv.
Mit einem inneren Ruck löste ich mich aus der Lehrer- und Schülerschar, trat auf die Spitze des Zuges zu und rief der ersten Reihe entgegen: "Ich bin auch einer von Euch! Ich denke wie Ihr! Ich erkläre mich mit Euch solidarisch! Ich will mit Euch marschieren!" "Lehrer sind 100 %ige! rief einer. Othma rief mir zu: "Reihe Dich ein!" Ein anderer rief: "Gleich in die zweite Reihe! Wenn es knallt, dann bist Du auch dran!"
Ich beteiligte mich an den Sprechchören. Als ich merkte, daß diese sich wiederholten, formulierte ich neue. Das war die Aufgabe, die ich mir nun selbst stellte. Wir kamen an der Feuerwehr vorbei. Arbeiter rissen die bolschewistischen Embleme ab. Ich sah es mit innerer Genugtuung. In diesem Augenblick formulierte ich die erste gegen die Regierung gerichtete Forderung: "Wir fordern den Rücktritt des Ulbricht-Regimes!" Eine Stimme erscholl von hinten: "Nicht so scharf! Wir streiken gegen die Norm-, Preis- und Steuerschraube!" Mich kümmerte das nicht. Die Begeisterung riss mich mit. Ich schrie meinen angestauten Zorn gegen die korrupten kommunistischen Funktionäre heraus. Sie sollten weg. Ganz weg! "Rücktritt der SED-Regierung!" Kaum ein Fenster der Wohnstraßen blieb geschlossen. Alle waren offen. Frauen warfen Blumen auf die Streikenden. Viele winkten, da die Taschentücher zu klein waren, mit Bettlaken. Von dieser Flut der Begeisterung wurden alle angesteckt. Die Bitterfelder Einwohner reihten sich ein. Geschäfte schlossen, die Besitzer und Angestellten gingen mit. Die Stadt befand sich in einem Begeisterungstaumel. Nicht nur von mir, sondern von allen Seiten wurden nun politische Forderungen erhoben, von den Sprechchören angenommen und durch die Straßen geschrien. Othma, der vorher rückwärts gegangen war, um den Zug im Auge zu behalten, ging nun selbst vorwärts. Er führte den Zug der Streikenden auf die Binnengartenwiese.
10.30 Uhr: Auf der Binnengartenwiese
Ein Lautsprecherwagen der AGFA stand uns zur Verfügung. Othma sprach. Er redete u. a. über diesen erhebenden Tag, der eine einzigartige Solidarität der Arbeiter zeigte.
Was war nun weiter zu tun? Wie sollte es weiter gehen? Der nächste Schritt bahnte sich an, Ein Streikender sagte plötzlich neben mir: "Im Rathaus befindet sich der Anschluss für den Stadtfunk." Das teilte ich Othma mit und bat ihn, die Menge ein wenig hinzuhalten. Ich hätte die Absicht, den Stadtfunkanschluss zu holen. Mit zehn Mann liefen wir zum Rathaus. Die Tür war verschlossen. Wir pochten dagegen. Eine Frauenstimme hinter der Tür fragte nach unserem Begehr. Wir forderten das Öffnen des Rathauses und die Herausgabe des Anschlusses für den Stadtfunk. Das wurde uns verweigert. Ich rief: "Dann brechen wir die Tür auf!" Darauf die Frau: "Wir haben Kinder für unseren Schutz als Geiseln eingeschlossen!" Ich: "Passiert denen etwas, geht es Euch schlecht!" - "Wir machen nicht auf!" schallte es zurück. "Dann holen wir alle!" Aufgrund dieser Drohung wurde uns geöffnet. "Wo sind die Kinder?", war meine erste Frage. "Das haben wir nur aus Angst gesagt", antwortete die Frau. Man händigte uns den Stadtfunkanschluss aus, und ab ging es zum Platz. In eine paar Minuten war der Anschluss hergestellt. Das Mikrofon wurde auf das Dach eines Traktors gestellt. Othma und andere sprachen zu den Menschen. In der Zwischenzeit schrieb ich mir eine Rededisposition auf. Als ich auf den Traktor steigen wollte, drängte sich der gerade herabsteigende Sowada an mich und sagte: "Gib her! Ich erledige das sofort für Dich!" Ich lehnte das ab mit den Worten, ohne Böses zu denken: "Ein jeder muß das, was er heute sagt, selbst verantworten." Als ich dann auf den Traktor stieg, wußte ich: Ich spiele mit vollem Einsatz. Siegen wir, dann ist alles in Ordnung. Bleibt der Russe und das Ulbricht-Regime an der Macht, dann ist Heimat, Arbeit, Freiheit, u. U. das Leben in Gefahr. Dann gibt es nur noch eines: Flucht nach West-Berlin. Das waren meine tatsächlichen Gedanken, als ich vor dem Mikrofon stand. (...)
"Deutsche Schwestern und Brüder! Seit acht Jahren warten wir auf die versprochene Einheit und Freiheit, auf ein demokratisches Deutschland. Statt der Demokratie erleben wir eine Neuauflage der Diktatur. Statt der braunen herrscht heute die rote. Nur die Farbe, nicht aber die Art hat sich verändert. Die Angst lastet auf uns. Heute nun sind wir endlich frei. Heute haben wir unsere Geschicke selbst in die Hand genommen. Heute sind wir frei und wollen frei sein. In den Schulen soll nicht mehr der Marxismus, sondern auch der Idealismus gelehrt werden, damit sich die heranwachsende Jugend ihr eigenes Weltbild aufbauen kann. Wir wollen nicht mehr für die Zukunft arbeiten, wir wollen nicht mehr für die Zukunft unserer Kinder arbeiten, wir wollen für uns arbeiten. Wenn es uns gut geht, dann geht es auch unseren Kindern gut, dann ist auch die Zukunft gesichert. Wir erheben die folgenden Forderungen:
- Ende der Norm-, Preis- und Steuerschraube!
- Beseitigung der Schlagbäume an der Zonengrenze und freier Reiseverkehr in beide Teile Deutschlands.
- Rücktritt der Ulbricht-Regierung!
- Zulassung der im Westen befindlichen demokratischen Parteien!
- Wahl einer gesamtdeutschen Regierung auf demokratischer Basis!
- Wahl einer provisorischen Regierung für die SBZ bis zur Neuwahl! Die Bundesregierung wird bis zur Neuwahl die Interessen der SBZ bei den vier "Hohen Kommissaren" vertreten.
- Sofortige Freilassung aller politisch, religiös und aus sogenannten wirtschaftlichen Gründen Verfolgten.
- Meinungs- und Pressefreiheit.
- Auflösung der SED und Auflösung der Volksarmee.
- Fortführung des Generalstreiks. Keine Repressalien gegen Streikende.
- Das Deutschlandlied ist ab sofort unsere National-Hymne.
Über alle Punkte wurde einzeln abgestimmt, weil ich der Meinung war, was die Menschen wissen sollten, was gefordert wurde. Sie sollten bewusst die Hand heben. Meine Forderungen wurden einstimmig mit der Zustimmung der rund 45.000 Menschen verabschiedet.
Danach forderte ich die Streikenden auf, Gruppen zu bilden, die in andere Städte fahren sollten. Sie sollten dort mit den Betrieben Kontakt aufnehmen, damit der für den 18. Juni geplante Generalstreik Erfolg hätte. Insbesondere sollten sie unseren Forderungen den richtigen Nachdruck verleihen. Anschließend wurde von mir die Anweisung erteilt: das Krankenhauspersonal, das E-Werk-, Wasser- und Gaswerkpersonal sowie das Versorgungspersonal bleiben in Arbeit. Die Belegschaften übernehmen die Betriebe. Es wird weiter gestreikt. Während dieser Anweisungen gab es den ersten Zwischenfall: Der Kulturdirektor Hellwig (Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld) hatte sich mit Gewalt an den Traktor gedrängt und wollte über das Mikrofon zur Menge reden. Ich lehnte sein Ansinnen mit den Bemerkungen ab: "Herr Hellwig, wir kennen uns doch. Bei der letzten geheimen Wahl haben Sie aus 32 % Ja-Stimmen 68 2/3 % gemacht. Sie haben acht Jahre lang gelogen, Sie haben die Wahl gefälscht, Sie sind ein Wahlfälscher! Für solche Arbeiterlumpen und Arbeiterverräter ist her oben kein Platz mehr." Einige Männer packten ihn und wollten ihn durchprügeln. Das unterband ich mit den Worten: "Wer ein Verbrechen begangen hat, soll vor ein ordentliches Gericht gestellt werden. Wir machen uns an einer solchen Kreatur nicht die Finger schmutzig. Acht Jahre lang haben wir auf die Demokratie gewartet. Demokratie bedeutet Humanität und Toleranz, aber auch Freiheit und Recht. Wir wollen nicht mit Blut beginnen. Hitler begann mit Blut und endete unter Mitnahme von Millionen im Blut. Macht eine Gasse und lasst ihn laufen!"
Um die Forderungen auch zur Durchführung zu bringen, mußte ein Streikkomitee gewählt werden. Ich schlug vor, daß der Führer Paul Othma ins Komitee gewählt werden sollte. Begeistert fand er die Zustimmung aller. Die einzelnen Betriebe sollten einen Mann nach vorne schicken, der dann gewählt werden sollte. Ich wollte mit dieser Schauwahl verhindern, daß sich trübe Elemente einschlichen. Othma übernahm die weitere Wahl. Zu den Männern gehörte auch Sowada. An irgendeiner Stelle wurde auch ich von Paul Othma hochgerufen, vorgestellt, vorgeschlagen und gewählt. 18 waren es insgesamt.
Eine Polizeiaktion führt zur nicht geplanten Wende.
Nachdem ich das Deutschlandlied zu unserer Nationalhymne erklärt hatte, sangen wir sie jetzt. Darauf wollte ich die Streikkundgebung gerade beenden, als sich ein Zwischenfall ereignete. Irgend jemand rief: "Man verhaftet am Rande des Platzes Streikteilnehmer!" In diesem Augenblick standen Göricke, Sowada und Othma hinter mir auf dem Dach des Traktors. Göricke wandte sich mit einer Spontanforderung an mich: "Die holen wir raus! Die befreien wir!" Ich teilte den Tausenden dieses Ereignis und die Forderung mit und fragte sie: "Wollen wir zulassen, daß man unsere Brüder verhaftet? Wir holen sie raus! Wir befreien sie!" Ich wußte, daß ich mit dieser Forderung jetzt gegen die bestehende Staatsgewalt vorging. Diese sahen wir aber alle schon schwinden. Wir glaubten an unsere gerechte Sache. Jubelnder Beifall, wütende Zustimmung war die Antwort der Menge. Ich gab dann den Einsatz: "Die links auf dem Platze Stehenden marschieren zum Kreispolizeiamt!" Sowada zu mir: "Ich übernehme die Führung." Der Menge rief ich zu: "Der Streikführer Sowada übernimmt das Kreispolizeiamt. Ich übernehme das Gefängnis. X übernimmt das SSD-Gebäude rechts am Bahnhof." "Beim Runtersteigen vom Dach sagte Othma zu mir: "Ich gehe mit zum Polizeiamt." Seine Gründe nannte er nicht. Erst viel später erfuhr ich, warum er mitgehen wollte.
Sowada war früher einmal bei der Polizei gewesen. Es sagte mir aber nichts. Die Lawine rollte. Die Menschenwogen wälzten sich ihren Zielen entgegen. Als ich in die Leninstraße (früher Lindenstraße) kam, kippten Arbeiter einen Polizeibereitschaftswagen um. Einige Polizisten verschwanden in voller Ausrüstung. Sie wurden von keinem Arbeiter irgendwie belästigt. Ich eilte, so schnell wie nur möglich, zum Gefängnis.
Sturm auf das Gefängnis
Die Toreinfahrt zum Gefängnis stand offen. Der Hof hatte eine rechte Winkelform; etwas zurück lag der Eingang zum Gefängnisgebäude. Im Abstand von fünf bis sieben Metern standen wir nun. An der Rückseite kletterten einige die Mauern hoch. Das konnte ich nicht sehen. Zwischen uns und einer von der Gefängnisverwaltung vorgeschobenen Inhaftierten, an ihren beiden Seiten standen Gefängnisbeamte mit angelegtem Gewehr, entspann sich folgender Disput: Frau: "Wenn Ihr nicht verschwindet, soll ich Euch sagen, dann wird geschossen. Die Gefängnisverwaltung will auch so alle Inhaftierten freilassen."
"Es werden nur wenige getroffen; dann kann ich für deren Leben, das so nicht in Gefahr ist, nicht mehr garantieren!" rief ich hoch. Schnell gab ich einigen kräftigen Männern die Anweisung, vorzuspringen. Dann befänden sie sich im toten Winkel der Gewehre. Auf ein Zeichen sprangen sie vor. Von Rückwärts kamen da schon einige mit Brechstangen an, und die Tür wurde aufgebrochen. Die Masse strömte herein. Als ich das Gefängnis betrat, trat mir ein Gefangenenaufseher entgegen mit der Bemerkung, daß man ihn geschlagen und am Kopf verletzt habe. Er sah mir aber recht gesund aus. Als man auf meine Anweisung den Verband abnahm, hatte er eine kaum sichtbare Schramme. Er muß wohl gegen etwas gestolpert sein.
Dann betrat ich das Büro. Einige Streikende hatten Stricke mit Schlingen in der Hand. Flugge, der Staatsanwalt, den ich von anderen Dingen her kannte erkannte mich und rief: "Herr Fiebelkorn, helfen sie mir und uns. Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt. Mord ist doch nicht in Ihrem Sinne!?" - Mit einem Satz war ich auf dem Schreibtisch, unterband Übergriffe. Die Stricke wurden verschlossen, dann sagte ich zu Herrn Flugge: "Verstehen kann ich die Arbeiter, Mord wollen wir aber nicht." Flugge: "Die Strafakten habe ich hier schon geordnet. Hier sind drei Stapel. Der erste enthält die zur Entlassung kommenden, der zweite die Zweifelfälle und der dritte die, die bleiben sollen." Es waren insgesamt 86 Akten. Ich blätterte mit einigen Streikenden die Akten durch, und wir entschieden die Entlassung von 80 Häftlingen. Sechs sollten bleiben, denn diese waren wegen krimineller Delikte eingesperrt. (...)
Sie alle fielen sich vor Freude und weinend um den Hals. Einer fragte, was er nun machen solle. "Bin ich frei? Kann ich nach Hause?" - "Fahrt nach West-Berlin und wartet ab," war meine Antwort. Streikende kamen und berichteten, daß die Zellen alle auf und leer seien. Flugge unterschrieb die bereits vorbereiteten Entlassungsurkunden. Dann kam der Gefängnisdirektor und meinte, daß die Versorgung der sechs Kriminellen nicht sichergestellt sei. Man solle sie beurlauben. Man wolle sie, wenn sich alles beruhigt habe, wieder zur Strafverbüßung holen. (...)
Die Waffen, zwei Gewehre und einige Pistolen, kamen unter Verschluss. Dann verließ ich das Gefängnis. Den Beamten wurde kein Haar weiter gekrümmt.
Am Tor kletterte ich auf den Pfeiler und verkündete, daß das Gefängnis geräumt sei. "Die Insassen sind vom Staatsanwalt Flugge selbst entlassen worden. Die Kriminellen hat die Gefängnisverwaltung von sich aus nach Hause geschickt." Inhaftierte Streikende waren nicht im Gefängnis. Bei den letzten Worten werde ich an der Hose gezupft. Ein Arbeiter spricht zu mir herauf: "Du sollst ins Rathaus kommen!" Das bedeutete, dass die Streikenden das Rathaus besetzt hatten.
Ca. 13.30 Uhr: Im Rathaus
Als ich dort erschien, war das Rathaus voll von Menschen. Am T-Tisch saßen die gewählten Kreisstreikführer. Es herrschte eine unruhige Atmosphäre. Wie ich gar bald erfasste, ging es um die Wahl eines Vorsitzenden. Ich trat an den Tisch und gab bekannt, daß das Gefängnis geöffnet sei, daß die Gefangenen ordentlich von Staatsanwalt Flugge entlassen worden seien und daß er auch verfügt habe, die Insassen des Frauenzuchthauslagers zu entlassen. Das wurde mit großem Beifall aufgenommen. Ich hatte meinen Bericht kaum beendet, da schlug mich der Kreisstreikführer Heinz Göricke zum Vorsitzenden und Sprecher des Kreisstreikkomitees vor. Ich war völlig überrascht. Man stimmte ab, und ich war gewählt. Wie ich merkte, war meine Wahl eine Lösung für alle. Ich nahm meinen Platz am Rednerpult ein und sagte u. a.: "Ich bin glücklich, das Vertrauen zu besitzen. Ich sehe meine Stellung aber nicht als die eines über alles bestimmenden Führers an, sondern als die eines Gleichberechtigten unter 18." Einige im Saal Befindliche, darunter der ehemalige Schulrat Selle, quittierten meine Wahl mit unverhohlener Begeisterung.
Nachdem sich die Erregung ein wenig gelegt hatte, ging ich zur Tagesordnung über. Da waren die auf dem Platz erhobenen Punkte, die auf eine Realisierung warteten. Meine erste Amtshandlung war die Bekanntgabe, daß sich der zweite Bürgermeister zur Verfügung gestellt habe. Er wurde im Amt belassen. Da ich ihm aber nicht das Vertrauen entgegenbringen konnte, wurden vier sachkundige Streikende bestimmt, die ihn überwachten. Dann schlug ich vor, einen provisorischen Oberbürgermeister zu wählen. Ich schlug Herrn Selle vor. Das Komitee beschloss einstimmig seine Einsetzung. Er nahm an. Zum provisorischen Landrat wurde Herr Lieber gewählt. Er war im Finanzamt tätig. Dann warf ich die Frage auf, wie wir mit den anderen mitteldeutschen Städten in Verbindung treten könnten, denn ein Telefonat sei nicht der richtige Weg. Herr Geye von der Bauunion meldete sich zu Wort und sagte, dass sie über einen großen Wagenpark verfügten, und dass Streikende mit den Autos nach Halle, Leipzig, Magdeburg, Leuna und Dessau fahren könnten. Gleichzeitig schlug er eine motorisierte Stadt-Warnsicherung vor. Geye übernahm die Durchführung dieses Einsatzes. Lieber, Streikführer vom Finanzamt, schlug vor, mit einigen Streikenden zur Zeitung zu gehen, um ein Streikblatt drucken zu lassen.
Eine große Gefahr sah ich im Alkoholkonsum. Deshalb schlug ich dem Komitee vor, ein generelles Ausschankverbot zu erlassen. Daneben wurde auch die Schließung der Banken bis auf weiteres beschlossen. Viele notwendige Verordnungen sind mir entfallen. Es waren aber solche, die der Sicherheit und Ordnung dienten. Alle Verordnungen wurden sofort über den Stadtfunk bekannt gegeben. In der Zwischenzeit hatte sich die Menschenmenge im Sitzungssaal merklich gelichtet. Man hatte einen Überblick über die Anwesenden. Eine wichtige Frage hing über unserem Tun und Vorhaben: Wie verhält sich der Russe? Wir betrachteten den Streik als eine innerdeutsche Angelegenheit, die in keiner Weise die Interessen der Besatzungsmacht berührte. Um auch hier Klarheit zu schaffen, um einige Bedenken aus dem Wege zu räumen, verfasste ich verschiedene Telegramme. Ihr Wortlaut war sinngemäß folgender:
An die
Regierung der DDR
Berlin Ost - Wilhelmstraße
Im Auftrage der Bevölkerung von Stadt und Kreis Bitterfeld teilen wir Ihnen mit, daß Sie für abgesetzt erklärt worden sind. Die Verwaltung übernimmt eine noch zu wählende provisorische ostdeutsche Regierung.
Das Kreisstreikkomitee
des
Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn
Vorsitzender u. Sprecher
An den
Hohen Kommissar der UdSSR
Eure Exzellenz!
Wir, die Werktätigen, haben heute die Regierung der DDR abgesetzt, weil diese die Interessen der arbeitenden Menschen nicht vertritt. Unser Streik richtet sich nicht gegen die UdSSR. Wir erwarten, daß Sie sich mit den fortschrittlichen Arbeitern der DDR solidarisch u. zur Zusammenarbeit bereit erklären.
Das Kreisstreikkomitee
des
Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn
Vorsitzender u. Sprecher
Gleichlautende Telegramme gingen an die Hohen Kommissare der USA, Frankreichs, u. Großbritanniens:
Eure Exzellenz!
Wir bitten Sie, sich bei Ihrer Regierung zu verwenden, daß diese gegenüber der UdSSR und in der UNO ihren Einfluss geltend macht, daß unser Streik keine faschistische Erhebung ist, sondern ein demokratisches Begehren der mitteldeutschen Bevölkerung. Sie will die Einheit in Freiheit, auf die sie seit acht Jahren wartet und die ihr vorenthalten worden ist.
Das Kreisstreikkomitee
des
Kreises Bitterfeld
gez. Fiebelkorn
Vorsitzender u. Sprecher
Die Besorgung dieser Telegramme übernahmen Sowada, Beyer und Göricke. Als sie zurückkehrten, teilte uns Sowada mit, daß er erst Schwierigkeiten zu überwinden hatte. Die Telegramme sind durchgegeben und ihre Annahme ist bestätigt worden. Gleichzeitig habe er die Post besetzen lassen. Damit wir auch von der Bahnseite keine Überraschung erlebten, schlug ich die Besetzung des Bahnhofes vor. Eisenbahner erklärten sich für diese Aufgabe bereit. Sie richteten auch eine Nachrichtenstafette ein, falls das Telefon unbrauchbar sein sollte. Ihre Order lautete, den Verkehr sofort stillzulegen, wenn Truppen mit der Eisenbahn transportiert werden sollten. Alle Signale sollten auf Halt gestellt werden. Dazu ist es aber nicht gekommen, denn die Russen kamen später mit Panzern.
In einem weiteren Telegramm wurde auch der UNO-Präsident gebeten, sich für die Freiheit der mitteldeutschen Bevölkerung bei allen Regierungen zu verwenden. Die Übermittlung übernahm Herr Lieber. Alle Telegramme fanden die Zustimmung der Anwesenden, jetzt aber nicht mehr vollzähligen Kreisstreikführer. Diese waren zum Teil im Einsatz, organisierten und griffen, wo es notwendig war, an verschiedenen Stellen der Stadt und in den Betrieben ein. Sie beauftragten z. B. Betriebsstreikführer dafür zu sorgen, daß besondere Öfen nicht ausgingen usw. Nachdem die anstehenden hauptsächlichen Forderungen und einiges mehr erfüllt waren und die Dinge liefen, trat eine gewisse Entspannung ein. Man war beruhigter und wartete ab. (...)
Gegen 15.30 Uhr erschien eine Delegation aus einem der Wolfener Werke. Ein Angestellter stellte sich und die Delegation vor und sagte: "Ich komme im Auftrage der Verwaltung und der Ingenieure unseres Werkes und teile Ihnen mit, daß auch wir uns mit den Streikenden solidarisch erklären. Wir erwarten von Ihnen sofort und laufend Anweisungen, damit wir unsere Arbeit aufeinander abstimmen können." Diese Delegation wurde von mir über alle getroffenen Maßnahmen unterrichtet. Dann fuhr sie ins Werk zurück, um die dort Wartenden zu unterrichten. Ein wenig später kam ein Streikender mit der Frage: "Ein Russe fragt an, ob er mit dem EKB telefonieren dürfe." Er bekam die Erlaubnis mit der Einschränkung: "Ja, aber nur in deutscher Sprache." Der Streikführer wiederum bekam den Auftrag: "Überwachung des Gesprächs. Sobald es gefährlich wird, sobald der Russe einen für die Streikenden gefährlichen Auftrag gibt, dann unterbrich das Gespräch."
Gleich darauf gab es eine Bewegung am Eingang. Es wurde laut und erregt. Ich fragte nach der Ursache. Die Antwort:
Ausnahmezustand für Berlin und für die ganze SBZ erklärt!
Wer dagegen verstoße, habe mit harten Strafen zu rechnen. Alles war wie gelähmt. Der Sitzungssaal füllte sich wieder mit den Kreisstreikführern. Ich besprach mit Paul Othma die neue Situation. Was wir sagten, weiß ich heute nicht mehr. Ich war bedrückt und erkannte die auf uns zukommende Gefahr. Mit unterdrückter Erregung analysierte ich die neu entstandene Lage und unterbreitete den Streikführern folgenden Vorschlag: "Wir müssen aufgeben. Es gibt für uns nur noch einen Weg, wenn wir nicht nach Sibirien oder an die Wand gehen wollen: Flucht nach West-Berlin!" - Schweigen. Dann stand betont langsam der Kreisstreikführer Heinz Göricke auf und sagte: "Wenn Gefahr droht, dann kneift die Intelligenz, dann lässt sie den Arbeiter im Stich, denn dann haben sie vor Angst die Hosen voll! Wir streiken weiter!" - Ich antwortete: "Das soll keiner von mir sagen. Ich bleibe im Rathaus bis der Russe kommt. Ich erwarte aber, daß alle Kreisstreikführer mit mir ausharren!" - Ein irrationaler Beschluß: Warten auf den Henker, warten, dass er uns alle abführte. Ich kann mir vorstellen, dass Göricke den Ernst der Lage nicht richtig einschätzte. Den meisten war diese bestimmt klar. Ich schlug eine Pause vor. Wir wollten abwarten und sehen, wie sich die Lage veränderte. Kuriere wurden ausgeschickt mit dem Auftrag, die Stadtwachen von der neuen Lage zu unterrichten. Diese sollten auf anrollende Panzer achten und uns, falls sie kämen, sofort im Rathaus Nachricht geben. Dann stand plötzlich Sowada auf und ging aus dem Sitzungssaal, um gleich wieder zurückzukehren mit dem Vorschlag: "Es muß einer nach West-Berlin fahren, um dem RIAS Mitteilung von den hiesigen Vorkommnissen zu machen." Ich war gar nicht damit einverstanden. Ich wollte, daß er sich an den unmöglichen Beschluß hielt: Alles bleibt, bis der Russe kommt. (...)
Da sprach aber schon Sowada: "Ich habe ein Motorrad. Ich bin schnell da. Dann kann ich über den RIAS oder Leute vom RIAS selbst den Generalstreik für die ganze Zone durchgeben." Er bekam mit Zustimmung der übrigen Streikführer den Auftrag, als Kurier nach West-Berlin zu fahren.
Das war gegen 16.35 Uhr. Da Sitzungspause war, unterhielten sich die Anwesenden in kleinen Gruppen. Ich benützte die Zeit, um Othma klarzumachen, daß die von mir erhobene Forderung: "Alles bleibt hier!" reiner Selbstmord wäre. Ich schlug ihm vor, die Streikführer in die Betriebe zu schicken. Sie sollten die Arbeiter dort über die neue Lage unterrichten. Im Werk, in der Masse, seien sie sicherer. Mir ging es darum, die Streikführer aus dem Rathaus zu bekommen. Othma willigte ein. Die Streikführer bekamen den Auftrag, in die Betriebe zu gehen, den Arbeitern die neue Lage zu schildern und neue Order abzuwarten. Der neue Vorschlag wurde mit Zustimmung angenommen. Die Kreisstreikführer verließen den Sitzungssaal, um in ihrer Betriebe zu gehen.
Vier von ihnen blieben mit mir zurück. Othma verabschiedete sich von mir: "Dann bis morgen!"
Kurz darauf erschienen einige Kriminalbeamte. Allerdings nicht, um jemand zu verhaften. Sie wollten nur die Ausweise und die Erkennungsmarken wiederhaben. Einer von ihnen sagte, daß ein Streikender ihn erkannt und ihm diese Dinge abgenommen hatte. Die Gegenstände lagen bei mir auf dem Pult. Ich hatte sie schon ganz vergessen und händigte sie nun den Beamten aus. Was sollte es noch? Es ging, das fühlte ich untrüglich, seinem Ende zu. Die Beamten aber gingen nun nicht, sondern blieben. Arbeiter waren genügend da. Angst vor einer Verhaftung brauchten wir nicht zu haben.
17.00 Uhr: Die sowjetischen Panzer kommen
Gegen 17.00 Uhr kam dann die Mitteilung: "In Bitterfeld rollen Panzer und Mannschaftswagen ein. Der Russe besetzt Bitterfeld." Dann überschlugen sich die Meldungen: "Der Russe hat den Bahnhof besetzt! Der Russe hat das Gefängnis besetzt! Auf dem Dach des Gefängnisses sind MG postiert. Der Russe biegt mit seinen Panzern auf den Rathausplatz ein!" Innerlich aufgeregt, äußerlich ruhig, gab ich meine letzten Anweisungen an die vier noch ausharrenden Streikführer: "Haut ab! Hinten über die Mauer! Lasst Euch nicht vom Russen schnappen!" Dann ging ich. Hinter mir zwei Kriminalbeamte. Die anderen beiden mit Dienstausweis und Erkennungsmarke waren inzwischen gegangen. Einer fragte: "Warum laufen die denn so?" Gemeint waren die vier Streikführer. "Ihnen tut doch niemand etwas!" Ich wußte nicht, woran ich war und erwiderte: "Ich kann es verstehen. Wahrscheinlich laufen sie um ihre Freiheit und das Leben!"
Ich ging die Treppe hinunter. Im ersten Stock ein Krach und Auflauf. Ein sowjetischer Offizier (Major (?)) sieht mich, schreit mich an: "Was, Du Schwein hier? Du Schwein raus!" Erleichtert ging ich die Treppe weiter hinunter. Was tun? Die beiden Beamten gingen hinter mir. Wollten die mich unten vor der Tür verhaften? Am Portal blieb ich stehen. Ich tat so, als ob ich auf die Proklamation des Ausnahmezustandes hörte. Ich war so unentschlossen, so unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, so regten mich die beiden Beamten, die wie Kletten an mir hingen, auf. Dann plötzlich erscholl wieder die schreiende Stimme des Offiziers: "Wo sein Fiebelkorn? Wo sein der Chief?" Wir, die Beamten und ich, guckten uns an. Wortlos drehten sich die beiden um und gingen nach oben, und ich stieg die Rathausvortreppe hinunter.
Vor dem Portal standen zwei Mannschaftswagen, voll besetzt mit Sowjetarmisten. Auf dem Vorplatz des Rathauses saßen die Arbeiter im Schneidersitz auf dem Boden. Still waren sie und ruhig und - wie ich es damals sah - herausfordernd still. Ich ging durch die Arbeiter und verließ den Platz. Mein erster Gedanke war: "Zur Schule, das Fahrrad holen, nach Hause und umziehen und dann versuchen, nach Berlin durchzukommen." Ich holte das Fahrrad und fuhr von der Schule in Richtung Anhaltsiedlung die Dessauer Straße entlang. Als ich an die Bahnüberführung kam, hielt kreischend ein Auto. Es war mit Streikführern besetzt. Schnell teilte ich ihnen mit, daß der Russe das Rathaus besetzt und Soldaten und Panzer an besonderen Punkten postiert habe. Außerdem habe der Russe den Auftrag, mich zu verhaften. Sie forderten mich auf einzusteigen. Ein Junge, der mich kannte, und der wusste, wo ich wohnte, brachte mein Fahrrad nach Hause. Ich stieg in den Wagen und fuhr mit den Streikführern, die eigentlich zu mir ins Rathaus kommen wollten, nach Wolfen. Hier traf ich Othma wieder. Ich erstattete Bericht. Othma: "Ist das alles? - "Ja," war meine Antwort. Dann riet ich allen anwesenden Streikführern dringend aufzugeben und sich nach West-Berlin abzusetzen. Othma entgegnete: "Unsere Forderung war und ist: Streik! Weiter streiken! Wir bleiben! Ich habe als 12-jähriger in Schlesien den Männern, die da kämpften, die Munition gebracht. Ich habe da auch nicht gekniffen. Hier ist das noch etwas anderes. Hier kämpfen wir nicht mit Waffen, sondern mit Geist. Was will der Russe? Das ist eine deutsche Angelegenheit. Wir haben mit ihm nichts zu schaffen. Wir schaden ihm ja nicht als Besatzungsmacht!" Davon war ich nicht überzeugt. Ich fragte: "Wie soll es weitergehen?" Othma entgegnete: "Wir streiken in den Betrieben. Hier sind wir in Massen. Die Masse gibt uns Mut!" Ich war nicht so optimistisch. Leider sollte ich recht behalten. Gegen 20.00 h fuhr ein Streikauto nach Bitterfeld. Der Autofahrer behauptete, daß er eine wichtige Angelegenheit zu erledigen habe.
Othma sagte: "Willi", gemeint war ich, "fahre mit, damit er, der Fahrer, keine Dummheit macht, und komme dann mit ihm wieder heraus." Ich nickte. Othma tat mir leid, aber auch die anderen. Hier enttäuschte ich ihn. In der Anhaltsiedlung hielt der Fahrer. Er sagte, daß er bald wiederkäme. "Gut", sagte ich, "warte auf mich, wenn Du eher da bist als ich. Ich will schnell essen." Mein Gedanke war nur: Umziehen! Andere Kleider an, da man mich nicht so schnell identifiziert. Das Umkleiden muß sehr schnell vor sich gegangen sein. Übereilt verlies ich das Haus. Die Hauswirtin hörte ich noch rumoren. Dann war ich weg. An Brot habe ich nicht gedacht. Die Erregung ließ keinen Hunger aufkommen. Ich steuerte auf das Auto zu. Ich sah es noch da stehen. Hatte ich überhaupt noch die Absicht, mit zurückzufahren? Sah ich schon Gespenster? Am Ende der Straße tauchten Männer auf. Sie liefen auf das Auto zu und zogen den Fahrer heraus. Ich sprang schnell in eine Hausnische und verschwand. Nicht über die Hauptstraße, sondern über einen Feldweg, ging ich in die Stadt zurück. In einer Querstraße der Feldstraße suchte ich ein mir bekanntes Rentnerehepaar auf. Dort wollte ich übernachten. Als die beiden von meinem Ansinnen erfuhren, lehnten sie es ab, mit dem Hinweis: "Das können wir nicht machen. Wir sind auf unsere Rente angewiesen." Es war 20.50 Uhr. Ich stand wieder vor der Haustür. "Wohin?" dachte ich. Die Straßen waren menschenleer. Ich war unfähig, daß Nächstliegende zu denken. Plötzlich hörte ich das Knattern eines Motorrades. Ich drückte mich in den Türschatten. Auf dem Krad saßen ein Mann und eine Frau. Es hielt vor der Tür, vor der ich stand. Da erkannte ich Sowada. Eine Frau, Kochhilfe im EKB, stieg ab. Sowada wollte wieder losfahren. "Nimm mich mit!" bat ich. "Steig auf!" sagte er. "Wohin willst Du?" fragte ich. "Ich weiß selbst nicht, wohin!" antwortete Sowada. "Sieh zu, daß wir erst einmal aus Bitterfeld in Richtung Wittenberg herauskommen. Wir können beide bei Freunden übernachten." Die Muldebrücke war noch nicht gesperrt. Wir kamen unbehelligt rüber und übernachteten in Mühlbeck. Ein Freund und seine Eltern nahmen uns auf. Zuerst bekamen wir Essen vorgesetzt. Anschließend wurden Ereignisse des Tages noch einmal durchgesprochen. Es stellte sich heraus, daß mein Freund auch dabei gewesen war. Die nächste Frage war natürlich: Wie geht es nun weiter? Ich sagte: "Wir müssen den Morgen abwarten." Gegen 23.00 Uhr trennte sich Sowada von uns. Er wollte bei einem Bekannten in Friedersdorf übernachten. Wir legten uns zur Ruhe. Ich fühlte mich erleichtert und sicher. Zu einer durchschlafenen Nacht sollte es jedoch nicht kommen. Gegen 3.00 Uhr früh klopfte es an die Tortür. Erschreckt wachte ich auf. Die Mutter des Freundes rief, daß man an das Tor poche. Ich nahm meine Sachen, um durch ein Loch in der Dachgiebelwand zu entkommen. Da rief aber schon mein Freund: "Bleib, es ist Horst Sowada!" Atemlos und erregt kam er ins Zimmer. "Ich bin durch das Hinterfenster in den Garten entwischt. Man ist hinter mir her!" Angst stieg auf. Gespannt warteten wir auf jedes Geräusch. Ist Horst den Verfolgern unerkannt und ohne Spur entkommen? Mit der Morgendämmerung des 18. Juni legte sich die Erregung. Die ersten Arbeiterbusse fuhren. Sie waren mit Arbeitern besetzt, die zur ersten Schicht fuhren. Ein Funke glomm in mir auf: Weitermachen! Gegen 6.00 Uhr fuhr mein Freund in die Stadt. "Ich will erst einmal die Lage peilen. Dann könnt Ihr Euch entscheiden, was Ihr tun wollt," sagte er. Gegen 8.00 Uhr kam er zurück. Ernst sah er aus. "Willy, Du musst weg! Der Stadtfunk plärrt alle paar Minuten Deinen Namen. Er fordert die Arbeiter, aber auch die Kinder, auf, sich an Dich zu klammern, wenn sie Dich sehen. (...)
Mich beruhigte nur eines: Hier in Mühlbeck suchte man mich nicht. Man vermutete mich in Bitterfeld. Gleichzeitig wurde meine Gewissheit bestätigt, daß es für mich wie für alle Streikführer nur eine Chance gab, unsere Freiheit und unser Leben zu behalten: wir mussten nach West-Berlin fliehen. Ich hoffte sehr, daß die anderen ebenso dachten und diesen Weg gehen würden. Ganz besonders dachte ich an Othma. Hoffentlich würde sein kluger Menschenverstand an die Stelle des Heroismus treten!
Die Mutter des Freundes machte uns Brote. Es hatte angefangen zu regnen. Die Kirchturmuhr in Friedersdorf schlug neunmal, als wir uns auf das Motorrad setzten. Ich dachte an die Frau, die Schwiegermutter und die Kinder. Es stieg heiß auf. Ich wußte jedoch sehr genau, was ich tat. Ich mußte den Weg gehen.
Einen Blick noch schickte ich in die Richtung meiner Angehörigen. Ich sagte innerlich "Auf Wiedersehen!", dann stieg ich auf das Motorrad, und ab ging es. Es ist ein Glück, daß man nicht weiß, was einem unterwegs alles so begegnet. Wir gedachten, am Abend in West-Berlin zu sein, auch wenn wir Nebenwege, d. h. Feldwege, benutzen wollten. Die Hauptstraßen wollten wir meiden. Aber erst am 28. Juni um 16.59 h sollten wir schließlich die Mitte der Glienicker Brücke in Richtung West-Berlin überschreiten.
[Quelle: Bericht von Wilhelm Fiebelkorn, Sprecher des Kreisstreikkomitees in Bitterfeld, in: Stadtarchiv Bitterfeld, Wilhelm Fiebelkorn, Erinnerungen an die Vorgänge des 17. Juni 1953, STAB, Sign. 3557. Wilhelm Fiebelkorn hat seinen Bericht am 10.10.1991 dem Stadtarchiv Bitterfeld übergeben, dazu ergänzendes Material im Jahr 1997(STAB, ZGS Sign. 4233). Wilhelm Fiebelkorn lebt heute in Waldkappel bei Kassel. - Der Bericht ist ebenfalls enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]
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