|
Dr. Friedhelm Thiedig
Erlebnisse am 17. Juni 1953 als politischer Häftling im Zuchthaus Torgau/Elbe
[Dr. Friedhelm Thiedig hat den folgenden Bericht über sein Erleben des 17. Juni 1953 auf Bitte der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in Sachsen-Anhalt im November 2002 niedergeschrieben.]
Als Student der Naturwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg wurde ich im April 1952 in Halle von der Staatssicherheit verhaftetet.
Wegen Vergehens gegen die Kontrolldirektive 38 III A III und Artikel 6 der Verfassung der DDR bin ich Ende Juni 1952 gemeinsam mit fünf weiteren Studenten vor dem Landgericht Halle angeklagt und zu einer Zuchthausstrafe von dreieinhalb Jahren und außerdem zu fünf Jahren anschließenden Sühnemaßnahmen (u.a. Ehrverlust und Aufenthaltsbeschränkungen innerhalb der DDR) verurteilt worden.
Unsere Studentengruppe hatte vor allem Aufkleber, Handzettel, Kleinstdrucke von Westberliner Zeitungen und die von der DDR als "Hetzschrift" bezeichnete farbige Zeitschrift "Tarantel. Satirische Monatsschrift der Sowjetzone" verbreitet.
Im Herbst 1952 verlegte man uns vom Zuchthaus "Roter Ochse" (Halle) in die sogenannte Strafvollzugsanstalt Zuchthaus Torgau (Fort Zinna). Nach mehreren Monaten untätigen Aufenthaltes in einer Zelle wurde mir zu Beginn des Jahres 1953 die besondere Vergünstigung gewährt, in einem Schrottverwertungs-Kommando zu arbeiten. In einer großen Halle waren aus losen Brettern auf Holzböcken primitive Arbeitstische aufgebaut worden, auf denen wir, mit Hammer und Meißel bewaffnet, deutsche und sowjetische Militärflugzeugwracks aus dem letzten Weltkrieg zerlegen mußten. Die Arbeit war gefährlich, einmal weil es vor allem an geringstem Arbeitsschutz wie Arbeitshandschuhe oder Schutzbrillen fehlte. Besonders die abgeschlagenen Nietköpfe aus Aluminium verursachten häufig schwere Verletzungen, vor allem an den Händen und Augen. Außerdem erkrankten auch viele Häftlingsarbeiter an schweren Bleivergiftungen, die vermutlich von Resten des verbleiten Flugzeugbenzins stammten, die noch an den Schrotteilen hafteten. Die schätzungsweise 400 bis 500 Arbeiter waren in drei Schichten eingesetzt, am schlimmsten waren immer die Nachtschichten von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens.
Am 5. oder 6. März 1953 geschah plötzlich etwas Unerwartetes, ein zunächst für den Häftling nicht erklärbares Ereignis: die Arbeiten in allen Arbeitskommandos wurden unterbrochen und alle Häftlinge mußten zurück in ihre Zellen. Weil niemand von uns wußte, welche Ursache zu dieser Maßnahme geführt hatte, entstand Unruhe in den Zellenhäusern. Am späten Nachmittag wurden wir zellenweise von einem Wächter zu einem Friseur geführt, bei dem uns das Haupthaar geschoren wurde. Wir waren entsetzt und verunsichert über diese Erniedrigung. Einem von uns gelang es, von dem Friseur, der auch ein Häftling war, den Grund für diese Maßnahmen zu erfahren. Er raunte uns zu: Stalin ist tot. Offenbar fürchtete die Stasi die Erregung oder Aufstände bei den Häftlingen. Wir wußten ja auch nicht, ob Stalin eines natürlichen Todes gestorben war, oder ob es in der Sowjetunion einen Putsch oder Aufstand gegeben hatte. Wir politischen Häftlinge freuten uns riesig über den Tod des Diktators, und wir spekulierten heftig über die möglichen politischen Auswirkungen. Zeitungen oder gar Radios gab es nicht, neue Informationen kamen nur über frisch verurteilte Häftlinge zu uns. Nach einer Woche der erzwungenen Staatstrauer normalisierte sich die Lage, und wir durften wieder im Schrottkommando weiterarbeiten.
Wenige Monate später, am 17. Juni 1953, erlebten wir erneut einen absoluten Stillstand der Arbeit und einen sehr strengen Verschluß in den Zellenhäusern. Beklemmend und beängstigend war die absolute Stille, die Ruhe, nichts schien sich zu bewegen, keine Geräusche drangen an unsere Ohren. Die politischen Häftlinge, die es ja in der DDR gar nicht gab, wurden isoliert im ersten Stockwerk des südlichen Flügels untergebracht. Da es in dem Stockwerk keine Holzblenden vor den hoch angebrachten Fenstern gab, hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, vom oberen Stockwerk aus einen sehnsüchtigen Blick auf die entfernte Elbe zu werfen. Kurz nach der Verlegung in die Isolation wurden wir "Politischen" neu eingekleidet. Die neuen Uniformen, graue Drillichhosen und -jacken, besaßen breite eingenähte knallrote Biesen entlang der Ärmel und Hosenbeine und zusätzlich noch einen roten Ring oben auf den Ärmeln. Mit dieser sehr auffälligen neuen "Generalsuniform", wie wir sie nannten, konnte man uns schon aus großer Entfernung als besonders gefährliche Häftlinge erkennen.
Von den Ereignissen des 17. Juni 1953 haben wir wegen unserer strengen Isolation erst nach einigen Tagen erfahren. Die sog. "Freigänge", das waren 20minütiges Marschieren in einer Kolonne auf dem Hof, waren zunächst völlig eingestellt worden. Bei diesem Marschieren konnte man sonst von den benachbarten Zelleninsassen Neuigkeiten erfahren. Dennoch drangen bei irgendwelchen Kontakten, wie bei Besuchen in der Ambulanz, Gerüchte auf, daß in manchen Orten wie Halle Gefangene von mutigen Mitbürgern teilweise befreit werden konnten. Auch von Torgau munkelte man, daß es bei den Soldaten der sog. "Kasernierten Volkspolizei", die in benachbarten Kasernen streng und abgeschirmt in Bereitschaft gehalten wurden, starke Unruhen gegeben hätte, woraus einige von uns folgerten und hofften, daß sie unsere Befreier werden könnten. Daraus wurde aber nichts, und wir warteten einige Wochen untätig auf Veränderungen, die dann auch tatsächlich kamen.
Wir durften wieder arbeiten, nun aber in dem großen Saal des Zellenhauses, in dem an Sonntagen einmal in jedem Monat Gottesdienste für die evangelischen und katholischen Gläubigen getrennt stattfanden. Hier mußten wir an sechs Wochentagen für ein DDR-Kombinat Tarnnetze für Schützengräben und Panzer der Volksarmee im Akkord aus dicken und sehr harten Perlonfäden filieren. Wir bekamen erstmals gelegentlich einige Tage alte SED-Zeitungen, es gab unerwartet Radiomusik von neu installierten Lautsprechern auf den Fluren, und wir hatten anfangs das Gefühl, daß der Strafvollzug humaner wurde. In Arbeitspausen durften wir drei Zigaretten für 30 Pfennige erwerben, unser Arbeitslohn für den ganzen Tag nach Abzug unserer "Hotelkosten", die in den Pausen geraucht werden durften. Dazu reichte uns der Gefangenenwärter das Feuer. In den monatlichen Briefen an uns durften erstmals Fotos mitgeschickt werden, die aber nach kurzem Besitz wieder abgegeben werden mußten. Die meisten dieser Vergünstigungen gingen aber im Laufe des Jahres wieder verloren.
Bei meiner Entlassung erhielt ich einige Fotos zurück, darunter eins mit meinem akademischen Lehrer an der Universität Halle, Prof. Dr. Hans Gallwitz, das von meinen ehemaligen Kommilitonen auf einer geologischen Exkursion im Erzgebirge am 17. Juni 1953 aufgenommen worden war. Meine Kommilitonen wußten damals nicht, daß ich in jenen Tagen in dem gar nicht so weit entfernten Zuchthaus in Torgau festgehalten wurde. Vor kurzem erfuhr ich erst, daß an diesem Tage den Studenten dieser Exkursion von den Einwohnern der erzgebirgischen Dörfer SED-Parteibücher angeboten wurden, die sie nach ihrer Meinung nun nicht mehr benötigen würden.
[Quelle: Bericht von Dr. Friedhelm Thiedig, November 2002, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2002.]
|
|