Horst Fahlberg/Jochen Laaß
Der 17. Juni 1953 in Schönebeck (Elbe) und Magdeburg
Interview mit Horst Fahlberg und Jochen Laaß am 19.2.2003 in der LStU-Behörde in Magdeburg

Horst Fahlberg (Schönebeck):

Wir waren im letzten Lehrjahr für Möbeltischler und gingen in Salze (Salzelmen) zur Berufsschule. Ohne Fotoapparat sind wir nicht weggegangen, auch nicht in die Schule. Wenn der Lehrer eine Fünf eingeschrieben hat, dann habe ich ihm acht Tage später in der Schule ein Foto mitgebracht, unter dem dann stand: "Bei der Eintragung einer Fünf". Ich habe in den Schulstunden immer alles fotografiert, und er hat sich immer mächtig darüber aufgeregt.

Am 17. Juni wussten unsere Mitschüler, unsere Kollegen, dass da irgendwas im Gange war; sie sind während des Unterrichtes immer mal rausgegangen. Dann wurden im Flur die Bilder abgehängt, was da eben so rum hing an Bildern von irgendwelchen Leuten, und dann kam der FDJ-Sekretär und hat uns zusammengeschissen, warum die Bilder abgehängt wurden! Auch die Losungen, die in der Schule angebracht waren, wurden runtergerissen. Da musste eben laufend einer zur Toilette, nie ist sonst einer zur Toilette gegangen, außer an dem Tag. Na, jedenfalls kam dann der Russe, hat uns zusammengeschissen und dann durften wir nach Hause gehen. Das war am Vormittag. Normalerweise hätten wir in den Betrieb zurückgemusst. Aber da hatten wir keinen Bock drauf, ist ja logisch, weil draussen was los war.

Mit dem Fahrrad sind wir runtergefahren Richtung Schönebeck, SED-Kreisleitung. Da mußte was passieren, denn bei den Russen war nichts, also Schönebeck-Kreisleitung. Wir also hin, und dann hoch zur Tante von Jochen Laaß, die oben über dem Geschäft neben der Kreisleitung und gegenüber vom Bahnhof wohnte.

Mit meinem eigenen Fotoapparat habe ich dort nicht fotographiert, ich hatte keine 6 x 9 Kamera; ich glaube, es war ein Fotoapparat, der dem Vater von Jochen Laaß gehörte. Ich habe dann aus dem Fenster geguckt, mich mit dem Oberkörper herausgelehnt, die Kamera war unter meinem Jackett, das offen war, alles war eingestellt, noch mal draufgeguckt und bloß auf den Auslöser gedrückt; dann noch mal anders gehalten und wieder geguckt, ob mich keiner beobachtet. Das ist jetzt schneller und einfacher erzählt, als es wirklich war. Dann haben wir schnell das Feld geräumt und abends, als Jochen Laaß kam, den Film entwickelt. Und dann hatten wir die Bilder!

Da draussen standen schätzungsweise so tausend Menschen. Das zog sich lang die Strasse runter. Die Leute kamen und gingen dann weiter. Die Russen flankierten die SED-Kreisleitung. Rechts und links standen Panzer und ein paar Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Das fand ich interessant und habe gesagt: Was soll das, die haben so alte Gewehre! Die Russen hatten Bajonette aufgesetzt, unheimlich hoch. Dann flogen ein paar Steine rüber; oben am Haus war ein Schild "SED Kreisleitung", weinrot, 1 Meter mal 7 oder 8 Meter, - und mit einem mal kam dann das ganze Schild herunter. Es war aus Glas. Da haben sie dann mal kurz durchgeladen - aber mehr nicht.

Jochen Laaß (Magdeburg/Schönebeck):

Die Funktionäre haben sich versteckt. Ein Bekannter hat mir erzählt, dass einer mit einer Pistole oder einem Luftgewehr ins Bett gegangen ist.

Gleich nach dem Krieg war die FDJ zunächst ja nichts Schlechtes. Viele waren im Krieg, und wir wollten ja für den Frieden sein. Wie sich das System entwickelt hat, das haben viele erst später bemerkt. Gleich nach dem Krieg war es aber wirklich für viele eine Erlösung, dass das endlich vorbei war, und deshalb kann man es ihnen eigentlich nicht verübeln, dass die da mitgemacht haben. Die, die erkannt haben, wohin das führt, sind dann meistens abgehauen.

In der Schillerstraße ist das Gummiwerk, das ehemalige, und da ist ein riesiges Eisentor gewesen und da sollen sie jemanden tot gequetscht haben. Die Arbeiter wollten raus aus dem Tor und der Wehrschutz hat das Tor zugedrückt. Da soll jemand tot gequetscht worden sein.

Zur Reihenfolge der Fotos:

Jochen Laaß: Auf dem ersten Foto sind nur Menschen zu sehen; die Panzer kommen später. Man sieht das Bahnhofsgebäude und den Wartesaal. Vorne rechts steht jemand mit seinem Fahrrad.

Auf dem zweiten Bild sieht man rechts die Hausfront. Es ist in Richtung Schönebeck fotografiert.

Jetzt kommt ein Bild - links ist eigentlich eine Wand -, aber es sind nur Menschen zu sehen. Es hat ein paar Flecken in der Mitte. Das ist Nr. 3.

Jetzt kommt ein Bild (Nr. 4), da ist alles drauf. An dem Gebäude der Kreisleitung ist dieses Transparent zu erkennen (links oben).

Und jetzt kommt der Panzer [mil.: Selbstfahrlafette, d.Hg.], von hinten aufgenommen. Das ist Nr.5.

Auf dem nächsten Bild ist der gleiche Panzer zu sehen, der jetzt praktisch auf den Bahnhof zielt (Nr.6).

Jetzt kommt noch mal fast das gleiche. Ein Haufen Menschen, das ist Nr.7.

Das nächste Bild ist Nr.8.

Horst Fahlberg: Dieser Wagen [zu sehen auf Bild Nr. 8, d.Hg.] müßte der Wagen des Sekretärs der SED-Kreisleitung sein, sein EMW. Der hat die Russen nämlich von der Kaserne abgeholt, damit sie die Kreisleitung schützen. Wo sollten die Leute in Schönebeck sonst hinmarschieren? Die SED-Kreisleitung war der Ansprechpartner!

Jochen Laaß: Das war bestimmt bloß der Fahrer vom Sekretär.

Horst Fahlberg: Die Papierbilder habe ich über dem Brotfach im Küchenschrank meiner Mutter aufbewahrt. Die Negative hat Jochen Laaß in der Dunkelkammer versteckt. Leider sind sie im Laufe der Jahre zusammengeklebt, so dass einige leicht beschädigt sind. Nach der Wende, nicht vorher, habe ich dann die Papierbilder wieder herausgeholt. Das war reiner Zufall.

Jochen Laaß: Normalerweise hätten wir die ja auch nie gebraucht, wenn das so weiter gegangen wäre.

Horst Fahlberg: Meine Mutter war kurz vorher verstorben. Ich habe eine große Garage, da stand die Hälfte ihres Schlafzimmers und ihrer Küche. Und irgendwie sagte meine Frau: "Wie lange sollen die Plünnen da nun stehen, Mutter ist doch nun tot, was soll denn das?" - Ich sagte: "Mensch, den Schrank könnte ich vielleicht noch gebrauchen." - "Ach", sagte sie, "die Küche! Im Schlafzimmer kannst Du Dir ein paar Schränke hinstellen oder auf dem Boden, ganz oben. Aber alles andere kommt weg." - Wir sind also dabei, alles rauszuräumen, hängen die Türen aus, auf einmal denke ich an das Brotfach: Mensch, da sind doch die Bilder drin!

1990 hat Jochen Laaß die Fotos vergrößert und im Schaufenster seiner Drogerie der Öffentlichkeit präsentiert.

Jochen Laaß:

Ich habe am 17. Juni natürlich auch fotografiert. Wir hatten von der Berufsschule aus Sportfest. Mit dem Zug, wie das eben so war, sind wir nach Magdeburg gefahren und dort in die Straßenbahn gestiegen. Auf der Fahrt nach Neustadt hielt die Straßenbahn. Ich dachte, was ist denn los und guckte. Und auf einmal standen vor der Straßenbahn noch mehrere Straßenbahnzüge. Alle Leute waren ausgestiegen. Ein Straßenbahnfahrer stand da, umringt von einer Menschentraube, und schimpfte auf die Regierung. Ich dachte, was ist denn hier los. Auf einmal fällt mir ein: Mensch, am Tag zuvor, am 16. Juni, waren ja irgendwelche Aufstände in Berlin. Das hatte man ja im Radio gehört, Fernsehen gab's ja noch nicht. Ich dachte: Mensch, seid ihr verrückt. Die hat man doch alle eingesperrt. Ich meine, die sind dann natürlich wahrscheinlich alle eingesperrt worden. Ich dachte, das muss ich fotografieren. Da ich früher immer einen Fotoapparat bei hatte, hatte ich ihn auch dieses Mal mitgenommen für das Sportfest. Ich mache also ein paar Aufnahmen, vielleicht vier, fünf Aufnahmen. Auf einmal kommt einer von hinten: "Was machst Du da, sofort den Film raus!" Und zwar war das jemand aus Schönebeck. Wie der da so schnell hinkam, ist mir ein Rätsel. Ob die gleich am frühen Morgen die Leute rausgeschickt haben, um überall zu kontrollieren? Es war ein Zivilist. Jedenfalls nahm er mir den Film aus der Kamera, riss ihn raus. Natürlich hatte ich noch einen zweiten Film mit, aber wissen Sie, ich hab mich dann nicht mehr getraut.

Ich habe dann beim Sportfest fotografiert. Und nachdem das Sportfest zu Ende war, dachte ich, jetzt guckst du mal, was in der Stadt los ist. Und dann bin ich in die Nähe vom Polizeipräsidium gekommen, da waren Himmel und Menschen. Und da waren bereits die Panzer, die kamen wohl so ab Mittag. Die Leute auf der Straße fluchten und jodelten und warfen mit Steinen. Und dann fuhren die Panzer immer in die Menschen rein, die dann immer so zur Seite spritzten, das war fürchterlich.

Ich stand auf einem Hügel an der Carl-Miller-Straße, schräg gegenüber vom Polizeipräsidium, ungefähr am Denkmal. Da standen viele. Ich dachte: Fotografiere ich oder fotografiere ich nicht? Die sperren mich ein und das wäre ja auch so gekommen, sind ja genügend Leute eingesperrt worden. Ich habe mich dann nicht getraut. Es waren einfach zu viele rechts und links. Ich meine, aus heutiger Sicht, mit so einer kleinen Kamera, hätte ich das vielleicht gemacht. Aber ich hatte meine dicke Praktika und die war doch sehr voluminös. Ich habe mich nicht getraut. Na ja, jedenfalls fuhr dann plötzlich ein Panzer in die Carl-Miller-Straße, schoß aus der Luke und plötzlich lag jemand tot da. Das war der erste Tote, den ich überhaupt gesehen habe. Und das war eigentlich auch schon alles, was ich in Magdeburg mitgekriegt habe. Und es kam natürlich auch keiner, der sich um ihn kümmerte, alle hatten ja Angst.

[Quelle: Interview mit Horst Fahlberg und Bernd Laaß am 19.2.2003 in der LStU-Behörde, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]