Hans-Jürgen Anton
Meine Erinnerungen an den 17. Juni 1953 in Magdeburg


Mein Name ist Hans-Jürgen Anton, Jahrgang 1941. Als damals 12-jähriger erinnere ich mich noch sehr genau an diesen Tag, da ich die Ereignisse am Gerichtsgebäude in der Halberstädter Straße und am Gefängnis an der Sudenburger Wuhne vor Ort miterlebt habe. Ich wohnte mit meinen Eltern dort, wo jetzt die Brücke des Magdeburger Ringes die "Halber", wie wir unsere Straße nannten, überquert. An unser Haus grenzte im gleichen Häuserblock das Konsum Warenhaus und die Russenbäckerei.

Unsere Wohnung befand sich in der 3. Etage, wo mein Vater auch eine Maßschneiderei betrieb. Die Aufträge bestanden zur damaligen Zeit hauptsächlich aus Änderungen und wegen Materialmangel aus dem Auseinandertrennen und Wenden abgetragener Kleidungsstücke. Vom Balkon zur Halber hatten wir einen weiten Blick bis zum Gerichtsgebäude und zum Gefängnis. Die Gedanken meiner Eltern gingen beim Anblick dieser Gebäude oft zu Freunden, Bekannten und Kunden, welche dort einsaßen und deren Namen mir noch heute in Erinnerung sind. Es waren ausschließlich politische Haftgründe.

Die Atmosphäre in diesen Tagen war sehr gespannt. Man hatte Angst und Denunzianten gab es genug. Viele Menschen saßen wegen Schiebereien oder des Erzählen eines politischen Witzes oder sonstiger oft Bagatellen aus politischen Gründen im Gefängnis.

Mein Vater wäre auch bald dort gelandet, wenn sich nicht der Kommandant der russischen Brotbäckerei, der bei Vater öfters arbeiten ließ für ihn eingesetzt hätte. Anlass war ein Vorfall, für den ich gesorgt hatte. Die lange rote Fahne vom Konsum Warenhaus, hatte sich in der eisernen Brüstung unseres Balkongitters verfangen. Mit Vaters großen Schneiderschere schnitt ich sie wieder los. Die Folge war ein weithin sichtbares großes Loch. Die erfolgte Anzeige wegen mangelnder Aufsichtspflicht und Verunstalten der Arbeiterfahne reichte aus, um in das Gefängnis zu kommen.

Am Vorabend des 17. Juni wussten meine Eltern, dass sich etwas zusammenbraute. Mit dem Ohr am Radio wurde bei uns abends bei gestörtem Empfang der Sender RIAS Berlin gehört. Meine Mutter wollte am nächsten Tag zeitig Einkäufe tätigen um für alle Fälle vorsorglich Vorräte anzulegen.

Für mich begann der 17. Juni 1953 wie jeder Werktag mit meinem üblichen Schulweg, entlang der Halber, durch die Ruinen der ehemaligen Munitionsfabrik "Polte" zur Lessingschule in der Salzmannstraße, welche damals, glaube ich, noch Königsweg hieß.

Ich besuchte die 5. Klasse. Meine Lehrerin Fr. B. mochte mich nicht. Vermutlich, weil ich kein Arbeiter und Bauernkind war. Mit Tränen in den Augen erzählte sie uns oft rührselige Geschichten vom Klassenkampf ihres Vaters gegen die Bourgeoisie. Die gleichen Augen sahen in mir vermutlich den Sohn eines Kapitalisten (mein Vater beschäftigte 3 Angestellte) und außerdem waren wir auch noch katholisch, was öfters Anlass zum Spott war. Mit Entsetzen musste Frau B. und wir Schüler mit ansehen, wie im Laufe des Vormittags einige Schüler der oberen Klassen in unseren Unterrichtsraum stürmten und unsere sogenannte Friedensecke, die es in jedem Klassenraum gab, aus dem Fenster in den Vorgarten warfen. Die Friedensecke bestand aus einem meist mit Fahnentuch gedecktem Tisch in der Ecke des Klassenraumes. Darauf befanden sich von Schülern mitgebrachten Blumen, Zeitungsausschnitte, Verpflichtungserklärungen, Zeichnungen, Wimpel, Abzeichen usw.

An der Wand hingen Bilder von Ulbricht, Lenin u. Stalin. Nachdem unsere Lehrerin, welche uns kurzzeitig verlassen hatte, wieder bei uns war, bat sie uns, auf schnellsten Weg nach Hause zu laufen. Ich erinnere mich noch gut, dass sie zu einer Mitschülerin, deren Vater im Gefängnis saß, und auch zu mir besonders freundlich war. Das Parteiabzeichen, welches sie als einzigste Lehrerin am Revers trug, musste sie ausgerechnet an diesem Tag verloren haben. Mein Weg nach Hause führte mich jetzt nicht als Abkürzung durch die Ruinen, sondern auf direktem Weg zur Halber zum Eiskellerplatz. Vor einem Gebäude, ich weiß nicht mehr welche Institution sich damals darin befand, stand eine große Menschenmenge. Es brannte ein Feuer, aus dem Fenster flogen Akten und Bilder und es herrschte eine fröhliche und ausgelassene Stimmung. Viele Menschen umarmten sich. In dieser Situation wurde ich von meinem Vater aufgespürt, der mich von der Schule abholen wollte. Auf dem Gepäckträger seines Fahrrades ging es schnellstens nach Hause.

Meine Mutter kochte einen großen Topf Suppe, denn es wurden Gäste erwartet, welche heute aus dem Gefängnis befreit würden und sich erst einmal satt essen sollten.

Mein Vater wollte diese Leute am Gefängnistor an der Sudenburger Wuhne empfangen. Vom Balkon sahen wir, wie aus den Zellenfenstern mit Tüchern und irgendwelchen Gegenständen gewunken wurde. Ich setzte meinen Willen durch und durfte meinen Vater begleiten. Eine große Menschenmenge befand sich vor dem Gerichtsgebäude. Auch dort brannten Akten und diverse Papiere flogen aus den Fenstern und lagen überall verstreut herum.

Auf einem Balkon befanden sich einige Leute welche den Menschen unten zuriefen: "Wen wollt ihr haben?" Wenn die Menge rief: "Ulbricht!", dann flog ein Besenstiel mit einem Talar und einem Ulbricht-Bild befestigt runter und wurde unten von den Leuten ins Feuer befördert. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Meines Vaters Sorge bestand darin, dass eventuell auch Kriminelle in dem Durcheinander ins Freie gelangen könnten.

Das Tor zum Gefängnis war verschlossen. Es wurde versucht, mit einen Balken das Tor aufzurammen. Weil dieses misslang, wurden Akten vom Gerichtsgebäude herbeigeschafft um das Tor anzubrennen. Auch dieses war erfolglos. Auch der Versuch, mit den Gefangenen zu kommunizieren, scheiterte meistens, weil in dem Tumult kaum ein Name zu verstehen war. In dieser Situation, dem verzweifelten Versuch das Gefängnis zu öffnen, den Gefangenen Mut zuzurufen, es muss gegen Mittag gewesen sein, kam ein russischer Panzer mit Getöse und Rauchwolke die schmale Einfahrt zwischen Gerichtsgebäude und dem Metallzaun als Begrenzung zur Sudenburger Wuhne, reingefahren.

Die meisten Menschen flüchteten in Richtung Gefängnis, doch einige versuchten fäusteringend den Panzer aufzuhalten. Wir haben auch Schüsse gehört, jedoch nicht gesehen, ob es Verletzte gab. Mit den meisten Leuten ergriffen wir die Flucht über die angrenzenden Anlagen.

Vom Balkon unserer Wohnung beobachteten wir das weitere Geschehen. Weitere Panzer und Schützenpanzerwagen postierten sich auf der Halber in Höhe Gerichtsgebäude. Ich habe gesehen, wie Leute versuchten mit den Russen zu diskutieren oder die Fahrzeuge mit Steinen zu bewerfen. Wir beobachteten weiter, wie die Besatzungsmitglieder der Panzerfahrzeuge auf ein Kommando in den Fahrzeugen verschwanden die Geschützrohre überall nach oben gestellt wurden und aus allen Rohren geschossen wurde. Die Straßenbahndrähte flogen auseinander und meine Eltern und ich krochen auf allen Vieren vor Schreck vom Balkon in die Küche auf der anderen Seite der Wohnung.

Als wieder Ruhe eingetreten war, betraten wir nicht mehr den Balkon, sondern beobachteten aber hinter der Gardine am Wohnzimmerfenster unser Gegenüber auf der Halber. Ein Kettenfahrzeug hatte sich in Straßenbahndrähten verfangen und drehte sich um die eigene Achse. Dabei wurden Pflastersteine hochgewirbelt, welche die Schaufensterscheiben eines Geschäftes für Schumacherbedarf sowie Scheiben der Parterrewohnungen zerschlugen. Mein Vater, welcher vom Balkon wieder versuchte, die Lage zu beobachten, berichtete, dass vereinzelt Menschen, ob tot oder verletzt nicht feststellbar, auf der Halber in Richtung Gerichtsgebäude liegen. Schräg gegenüber von unserem Haus stand die Villa unseres Hausarztes. Wir sahen, dass Dr. H. eine Rote-Kreuz-Flagge aus dem Fenster hisste, diese aber nach kurzer Zeit wieder einholte, nachdem ein russischer Offizier mit einer Waffe im Anschlag ihm etwas zurief. Wir verließen die Räume zur Halber und wagten uns auch nicht mehr an das Fenster, bis wir Lautsprechergeräusche vernahmen.

Von russischen Militärfahrzeugen wurden Flugblätter abgeworfen. Jetzt wagten sich wieder Leute auf die Straße. Es war der Befehl des Militärkommandanten der Stadt Magdeburg über die Verhängung des Ausnahmezustandes. Dieses Flugblatt befindet sich noch heute in meinem Besitz. Nach Einbruch der Dunkelheit beobachteten wir diverse Lastkraftwagen voller Leute, eskortiert von Krädern, welche zum Gefängnis fuhren. Am nächsten Tag sah man wieder Polizei vor dem Gerichtsgebäude. Vor dem Gericht und auf dem freien Platz vor dem Polizeipräsidium stand eine Haubitze oder Kanone.

Die Menschen waren sehr bedrückt. Es gab aber auch Ausnahmen.

Meine Lehrerin hatte ihr Parteiabzeichen wiedergefunden. Vielleicht war sie auch nachdenklicher geworden. Es waren die Arbeiter, welche auf die Straße gegangen waren.

Unter Vertrauten und Bekannten gab es einen neuen Gruß. Zwei Finger wurden nach oben gestreckt und in die Hände geklatscht. Das bedeutete: "Das zweite mal klappt es."

Keiner dachte daran, dass noch 36 Jahre vergehen würden.

[Quelle: Bericht von Hans-Jürgen Anton, Magdeburg 2003; enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]