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[SPD-PV Ostbüro]
Quelle: 3-622/5
Berlin, den 22.6.53
wi/bu.
Augenzeugenbericht aus Brandenburg/Havel, 27.6.1953
Quelle beteiligte sich an Demonstrationen rege, entwaffneten bei der SED-Kreisleitung die dort postierten 8 bis 9 Vopos. Einer von ihnen wurde in die Havel geworfen, die anderen zogen ihre Waffenröcke aus und traten unter die Volksmenge. Rote Fahnen wurden entfernt und dafür schwarz-rot-goldene Fahnen gehißt. Das Aktenmaterial wurde auf die Straße geworfen. Die Ansammlung betrug 1.000 - 1.500 Mann vor dem SED-Gebäude Brandenburg, Kirchhofstraße.
Quelle sonderte sich mit etwa 20 Mann ab, worunter drei Mann mit 0,8 Pistolen bewaffnet waren. Sie zogen zum Amtsgericht Steinstraße, wo sich bereits eine größere Menschenmenge angesammelt hatte. Die Scheiben des Amtsgerichtes wurden zerschlagen, worauf der Menge drei Vopos mit gezogener Pistole entgegentraten. Nachdem sie die Vopos abgedrängt hatten, brachen sie in das Amtsgerichtsgebäude ein. Die Vopos entfernten sich schleunigst, nachdem die empörte Bevölkerung sie mit Steinen bewarf.
Darauf schlug Quelle die Türe zum Gerichtssaal mit der Axt ein. Die Inneneinrichtung wurde demoliert, die Stalin- und Pieck-Bilder von den Wänden gerissen und zerstört. Darauf wurde die Hintertür zum Hof des Polizeigefängnisses eingeschlagen. Hier eröffnete die Vopo aus den Wachstuben das Feuer. Es waren allerdings nur Warnschüsse. Die Gruppe und die nachfolgende Menschenmenge drangen nun in die eine Tür des Gefängnisses ein, Vopo verteidigte sich durch Schüsse, die jedoch in die Decke einschlugen. Jetzt verließ die VP-Wachmannschaft, gedrängt von der Menschenmenge, einzeln die Wachstube, um in die nahegelegene Eisentür zum eigentlichen Gefängnis einzubrechen und dort zu verschwinden. Hierbei erhielten sie von der empörten Menge Holz- und Steinwürfe. Die Eisentür als Deckung benutzend, eröffneten sie ein wildes Feuer auf die Demonstranten, wobei ein junger Mann einen Armstreifschuß erhielt. Nachdem von der VP scharf geschossen wurde, revanchierte sich Quelle mit zwei Schüssen gegen die Stellung der Vopo. Dadurch gelang der Einbruch in das Gefängnis. Die Vopos flüchteten. Lediglich zwei Vopos, die sich im Gefängnis entgegenstellten, wurden entwaffnet. Es handelt sich um einen Polizeimeister und einen Wachtmeister.
Quelle forderte nun Freigabe der politischen Gefangenen. Im gleichen Moment erschien der Richter des Polizeigefängnisses und erbot sich zur Verhandlung und erklärte sich zur Freigabe der Gefangenen bereit. Nach viertelstündlicher Verhandlung begab sich Quelle mit drei Mann der Gruppe zum eigentlichen Gefängnis, nachdem Zusicherungen des freien Geleits erfolgten. Die Akten wurden von einem Vopo herbeigeholt. Man versicherte den Abgeordneten, daß keinerlei politische Gefangene dort einsäßen. Die Akten, die herbeigeholt wurden, betrafen nur schwere kriminelle Fälle. Man wollte augenscheinlich die Menge hinhalten und sie über die wahren Inhaftierten täuschen. Zwischenzeitlich wurde die unten wartende Bevölkerung äußerst unruhig, desgleichen die Gefangenen. Sie schrien: „Laßt uns frei!", und schlugen die Zellenscheiben ein.
Die Gruppe, die sich nicht täuschen ließ, forderte den Amtsrichter auf, auch die anderen Akten herauszurücken, worauf man sich bequemte, auch die sog. leichten Fälle - Buntmetalldiebstähle, Einkäufe in West-Berlin, sog. Wirtschaftsverbrechen - und leichte politische Fälle ans Tageslicht zu fördern. Auf diese Art wurden etwa 30 - 35 Menschen (Männer und Frauen) freigelassen. Sie wurden von der Menschenmenge jubelnd empfangen und auf den Schultern jubelnd bis auf die Straße getragen. Unterdessen rückte ein Gefangenenwagen, besetzt mit Wachmannschaften der VP, heran, um die übrigen Insassen (schwere Fälle) abzutransportieren, was ihnen nicht gelang, da der Gefangenenwagen von der Menschenmenge umgestürzt und die Besatzung entwaffnet wurde. Kurze Zeit darauf traf ein Überfallkommando der Wasserschutzpolizei ein, der (sic) mitsamt der Besatzung umgerissen wurde. Die abspringenden Vopos als Wachmannschaften versuchten, mit Karabinern im Anschlag gegen die Menge vorzugehen. Sie wurden jedoch sofort überrumpelt und aufgefordert, ihre Waffen selbst zu vernichten, was sie auch taten. Entweder zerschlugen sie an der Mauer die Kolben der Waffen oder entfernten die Schlösser usw., rissen ferner ihre Schulterstücke, Mützenkordel, Jackenspiegel ab, zogen die Waffenröcke aus und begaben sich auf die Seite der Bevölkerung.
Von der übrigen Menschenmenge wurde zwischenzeitlich das gesamte Gerichtsgebäude geräumt, Aktenmaterial vernichtet und der Staatsanwalt mit Handschellen gefesselt zum Gefangenenwagen geführt, nachdem er vorher der Menge gezeigt wurde. Die Menge stieß spontane Begeisterungsrufe aus und forderte seinen Tod. Er wurde daraufhin blutig geschlagen und in das Gefängnis zurückgeführt, wo er bald darauf mit einem PKW an die Havel gefahren wurde. Hier warf man ihn von der Lukenberger Brücke in den Fluß, fischte ihn wieder auf, stellte Wiederbelebungsversuche mit ihm an, was weiter geschah, wurde von Quelle nicht beobachtet, da Quelle sich von dort über die Steinstraße zum HO-Laden in der Hauptstraße begab.
Die Leiterin des neuen HO-Kaufhauses hatte vergeblich ihre Angestellten zum Diensttun aufgefordert. Demonstranten befahlen ihr, sich an der Demonstration zu beteiligen. Beim weiteren Abmarsch begegnete Quelle dem Richter des Amtsgerichtsgefängnisses, der im Gesicht total zerschlagen war. Das linke Ohr war ihm halb abgerissen. Eine Menschenmenge schleppte ihn zum Neustadtmarkt, stellte ihn auf das dortige SED-Podium, wo er zum Sprechen aufgefordert wurde. Sein Geständnis war offen, er bekannte, daß Urteile beim Volksgericht, die er abgab, sehr hart waren, worauf er wegen dieser „Bewährung" nach Brandenburg versetzt wurde. Die empörte Menge wollte Lynchjustiz üben und ihn aufhängen. Da trat ein Arzt für ihn ein und bat die Bevölkerung, dies nicht zu tun, da er sich als Arzt verpflichtet fühle, ihm zunächst ärztlich zu helfen. Er wurde in das Städt. Krankenhaus eingeliefert. Einer Krankenschwester gegenüber erklärte er dann später, daß er „die Täter" wohl kenne, doch mit ihnen nichts zu tun haben möchte. Er sei heilfroh, daß es für ihn so günstig ausgegangen sei.
Nun begab sich die Gruppe zum Polizeirevier der Stadtpolizei, die aber bereits geplündert war. Zeit 11.00 bis 11.30 Uhr. Arbeiter des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg hatten hier inzwischen ganze Arbeit geleistet.
Vor dem Polizeirevier befanden sich lediglich einige sowjetische Offiziere, die die Menschenmenge aufforderte, ihrer eigentlichen Beschäftigung nachzugehen. Gleichzeitig erschien auch die Feuerwehr, die versuchte, die Menschen mittels einer Motorspritze auseinanderzutreiben. Ihre Tätigkeit wurde jedoch lahmgelegt und die Demonstranten selbst übernahmen nun die Spritzaktion und gingen gegen die inzwischen eingesetzte kasernierte Volkspolizei, die in einer Stärke von etwa 200 Mann auf LKW (Horch-Diesel), bewaffnet mit sowjetischen MP und sowjetischen Karabinern, genannt Waffe 100, vor. Zu gleicher Zeit rückten etwa 20 LKWs mit sowjetischer Infanterie aus der Magdeburger Straße (den dortigen Kasernen) in Richtung Potsdam auf. (Zeit 14.00 Uhr). Zur selben Zeit wurde am Puschkinplatz ein kleines Kind von einer Volkspolizistin erschossen. Während der Wasseraktion fielen Warnschüsse vom Polizeirevier, die von Revier-Vopos abgegeben wurden. Hierbei ist ein junger Mann aus Plaue bei Brandenburg in den Kopf geschossen worden, er verstarb kurze Zeit später im Städtischen Krankenhaus. Der eine tödliche Warnschuß ist wahllos durch ein geschlossenes Fenster des Polizeireviers abgegeben worden. Dies trug sich in der Zeit zwischen 12.00 und 12.15 Uhr zu.
In Anbetracht der nicht weichenden Menschenmenge blieb den heranrückenden KVPs nur die Möglichkeit des eigenen Schutzes sowie ihrer Fahrzeuge. Als Verstärkung rückten jetzt Rotarmisten (MP-Schützen) auf LKWs an, nahmen Aufstellung, schossen aber nicht. In der Zwischenzeit brach ein gesonderter Teil der Gruppe in das Jugendauffangheim direkt im Gebäude der Stadtpolizei Neuendorfer Straße (altes Zuchthaus) ein und befreite sämtliche Insassen, darunter auch Kinder, sowie jüngere Frauen mit Säuglingen (Zeit: etwa 14.30 Uhr).
Etwa um die gleiche Zeit besetzten die KVPs und Rotarmisten das gesamte Polizei-Reviergebäude, ebenso einen Feuerwehrwagen im Eingang des Polizeirevierhofes. Die Lücken zwischen Eingang und Feuerwehrwagen wurden durch Rotarmisten mit MP ausgefüllt, so daß die im Revierhof befindlichen Schaulustigen - etwa 50 bis 60 Personen - im Hofe selbst eingeschlossen waren. Dort wurden sie bis etwa 17.30 Uhr festgehalten. Erst nachdem die empörte Menge kategorisch die Freilassung dieser Leute forderte, gab man nach und ließ sie frei. Bald darauf erschienen Provokateure der SED aus Berlin, die im Autobus herangebracht wurden. Sie versuchten, die Menge zu beschwichtigen, hatten aber keinen Erfolg. Im Gegenteil, sie wurden schwer zusammengeschlagen und vertrieben. Sicher handelte es sich hier um SSD-Agenten. Auch wurde das Wachbataillon von Potsdam auf etwa 5 LKWs herangebracht. Zusammen mit der KVP und den Rotarmisten riegelten sie hermetisch durch Kettenbildung das Polizeirevier ab. Weitere Verstärkung durch KVP (mit roten Schulterstücken) und einem K-Zeichen wurde mit Omnibussen herangebracht. Es befanden sich darunter Offiziere und Mannschaften, jedoch unbewaffnet. Erst hier wurden sie teilweise bewaffnet. Sie versahen daraufhin den Streifendienst nach 19.00 Uhr. Von 19.00 Uhr bis 6.00 Uhr früh war bekanntlich der Ausnahmezustand verhängt.
Besondere Vorkommnisse: Zwischen 11.00 und 12.00 Uhr wurde das FDGB-Gebäude geplündert.
14.00 bis 14.30 Uhr: Plünderung des Stadthauses. Zwölf Mann der Besatzung wurden von Rotarmisten verhaftet und auf LKWs in Hockstellung mit erhobenen Händen in Richtung Hauptstraße abgefahren.
Ferner wurde das Jugend-Klubhaus Philipp Müller, Steinstraße, restlos zerstört (d.h. nur die Inneneinrichtung). Zeit: zwischen 10.00 und 12.00 Uhr.
Etwa zwischen 23. 00 und 24.00 Uhr erschienen Lautsprecherwagen in der Stadt, die die Arbeiterschaft zur Aufnahme ihrer Arbeit aufforderten.
18.6.53
In der Nacht zum 18.6.53 wurde ein großer Teil der befreiten Gefängnis-Insassen wieder verhaftet. Dies geschah teilweise durch eigenes Verschulden, da sie wegen Papiere, Geldmittel etc. im Gerichtsgebäude vorsprachen.
Zwischen 6.00 und 7.00 Uhr früh erschienen die ersten Arbeitswilligen (die sich aus besonders ängstlichen Naturen sowie aus Linientreuen zusammensetzten). Auf der Arbeitsstelle selbst wurden diejenigen Arbeitswilligen am Toreingang verhaftet, die im Verdacht standen, am Vortage sich an den Demonstrationen beteiligt zu haben. Sämtliche Gastwirtschaften waren geschlossen mit Ausnahme der HO-Imbißstuben. Starker Regen behinderte evtl. weitere Aktionen. Demonstrationen konnten nicht durchgeführt werden, da zwischenzeitlich starke VP- und Rotarmisteneinheiten sämtliche öffentlichen Gebäude und Brennpunkte der Stadt besetzt hielten. Vor dem Gefängnis waren nur Rotarmisten stationiert. 6 Panzer Typ T 34 fuhren durch Brandenburg Richtung Potsdamer Straße.
20.00 Uhr Ausgangssperre.
24.00 Uhr kamen ca. 40 bis 50 LKWs mit schweren Geschützen die Steinstraße entlang in Richtung Potsdam-Berlin.
19.6.53
Thälmannwerft, Gertraudenbrücke, 3 Mann verhaftet. Sitzstreik. Weigerung, die Arbeit aufzunehmen, bevor die drei Inhaftierten nicht freigegeben sind.
IFA-Schlepperwerk, Geschwister-Scholl-Straße, Sitzstreik, nur einige SED-Genossen hatten die Arbeit wieder aufgenommen.
Propagandawagen mit Lautsprechern, die die Bevölkerung durch Parolen und Versprechungen zur Arbeit zu bewegen suchen, fuhren durch die Stadt. Ausnahmezustand jetzt nur noch für die Zeit von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr früh, damit Arbeiter ihre Schichtzeiten einhalten konnten.
Quelle setzte sich am 19.6.53 um 16.57 Uhr über Potsdam (Glienicker Brücke) nach hier ab.
Bemerkung: Die gesamte Bevölkerung Brandenburgs beteiligte sich spontan an den Demonstrationen. Nur verschwindend wenige Bürgerliche nahmen nicht teil.
Beurteilung: Quelle XY [Name geschwärzt, d. Hg.] äußerst rege, berichtet aus dem Stegreif. Seine Angaben sind natürlich, keine übertriebene Schilderung.
[Quelle: AdSD, SPD-PV Ostbüro, 0434b, 17.6.1953, Nr. 1677.]
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