Bericht von Harry Benkendorff, Richter am Kreisgericht Potsdam-Land, über die Vorfälle im Gericht und Gefängnis in Brandenburg/H. am 17. Juni 1953

Abschrift

Genosse Harry Benkendorff
Brandenburg/Havel
Dreifertstr. 98

Potsdam, den 30. Juni 1953

Bericht über die Vorfälle im Gericht und Gefängnis in Brandenburg/H. am 17. Juni 1953

Von der Justizverwaltungsstelle Potsdam hatte ich den dienstlichen Auftrag erhalten, den beiden Kreisgerichten in Brandenburg am 17.6.1953 die neuen Richtlinien für die Durchführung weiterer Entlassungen von Häftlingen zu überbringen. Man erteilte mir diesen Auftrag deshalb, weil ich in Brandenburg wohne und dort ca. 2 1/2 Jahre, bis September 1952, als Strafrichter tätig war.

Nachdem ich die beiden Direktoren, Genossen Kelm und Genossin Sacharow, unterrichtet und ihnen die neuen Anweisungen übergeben hatte, wollte ich um etwa 9.20 Uhr das Gericht verlassen, um zum Bahnhof zu gehen. Als ich die Straße betrat, stellte ich fest, daß insbesondere in Richtung Steintorturm auffällig viele Menschengruppen sich aufhielten. Durch die Vorfälle, die sich bereits am Freitag zuvor vor dem Gericht abgespielt hatten und bei denen es bereits zu Ausschreitungen gegen VP-Angehörige und Genossen gekommen war, gewarnt, beschloß ich, wieder zurückzugehen und im Gericht die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Insbesondere hatte ich erfahren, daß die Mehrzahl der großen Betriebe Brandenburgs in den Streik getreten seien und die Belegschaften der Betriebe Demonstrationen veranstalten wollten.

Ich begab mich zunächst in das Gerichtsgefängnis, um mich erst einmal zu informieren, welche Maßnahmen zum Schutze des Gerichts und des Gefängnisses vorbereitet waren. Ich mußte feststellen, daß außer einer Verstärkung von etwa 6 - 8 mit Pistolen ausgerüsteten Volkspolizei-Angehörigen keinerlei weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren. Ich veranlaßte sofort, daß der auf dem Hof stehende Gefangenentransportwagen mit der Rückwand gegen das äußere Tor des Gerichtsgefängnisses geschoben wurde, um dieses zu verstärken, denn dieses Tor hatte man am Freitag zuvor bereits schon einmal einzudrücken versucht. Während der Durchführung dieser Maßnahme erschien ein Angestellter der Kriminalpolizei von der Straße und begab sich nach hinten in das Gerichtsgefängnis, um über die direkte Leitung eine Meldung an den Operativstab durchzugeben. Ich ging mit und hörte mit an, wie der Genosse folgende Meldung durchgab: „Soeben ist die Kreisleitung der SED von einer großen Menschenmenge gestürmt worden. Sie verwüsten das gesamte Gebäude und werfen sämtliches Inventar und alle Unterlagen aus den Fenstern in den Kanal. Die Funktionäre konnten noch flüchten. Die Menge hat sich geäußert, als nächstes ist das Gericht und das Gefängnis dran!" Der Genosse sagte weiterhin, daß es sich um eine sehr große Menschenmenge handele und es unbedingt erforderlich sei, sofort zur Sicherung des Gerichts und des Gefängnisses erhebliche Verstärkung zu entsenden. Dieser Genosse begab sich nach der Meldung wieder auf die Straße. Meiner Schätzung nach muß es, als diese Meldung an den Operativstab durchgegeben wurde, ca. 9.45 Uhr gewesen sein.

Ca. 25 - 30 Minuten nach dieser Meldung an den Operativstab wälzte sich dann ein die ganze Straßenbreite einnehmender, aus Richtung Steintorturm kommender Demonstrationszug die Steinstraße herauf. Es wurde ein Transparent mitgeführt, dessen Aufschrift ich aber nicht lesen konnte. Dieser Demonstrationszug machte vor dem Gericht halt. Die Wortführer verlangten die Öffnung der Türen, die inzwischen verschlossen worden waren, und die sofortige Herausgabe aller „politischen" Gefangenen. Als von unserer Seite darauf nicht reagiert wurde, wurde sofort die neben der Eingangstür befindliche Scheibe eingeschlagen, und die Menge begann, die Tür einzudrücken. Da die gesamten Volkspolizisten in ihrem Verhalten sehr unsicher waren und auch nicht unter einer straffen, einheitlichen Leitung standen, war es praktisch gar nicht möglich, zur Sicherung des Gerichtsgebäudes wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Die Demonstranten gingen sehr energisch und entschlossen vor, und es gelang ihnen, in kurzer Zeit die Eingangstür zum Gerichtsgebäude einzudrücken. Daraufhin zogen sich die Volkspolizeiangestellten, die sich zum größten Teil auf dem 1. Hof befanden, auf den 2. Hof, den des Gerichtsgefängnis, zurück. Ich ging als einzigster Justizangestellter mit auf den Gefängnishof zurück. Über die weiteren Vorfälle, die sich im Vordergebäude abgespielt haben, insbesondere auch über die Mißhandlung des Genossen Staatsanwalt Bechtel kann ich daher aus eigenem Erleben nichts sagen.

Für besonders erwähnenswert halte ich noch, daß, als der Sturm auf das Gerichtgebäude begann, nochmals der Operativstab über die direkte Leitung davon verständigt und erneut dringend um Verstärkung gebeten wurde. Zwischen dem ersten und dem zweiten Anruf an den Operativstab ist ca. 1/2 Sunde verstrichen. Als wir uns nun auf dem Hof des Gefängnisses befanden, versuchte ich, den Polizeiangestellten klarzumachen, daß wir uns unter keinen Umständen weiter zurückziehen dürfen und daß bei einem Sturm auf das Tor zum Gefängnishof unbedingt von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden müsse. Nach etwa zehn Minuten waren die Aufrührer sowohl am Gefängnistor als auch an den vergitterten Fenstern des Gerichtsgebäudes, die zum Gefängnishof führen. Sie fingen an, am Tor zu rütteln, schlugen sämtliche Scheiben, die zum Gefängnishof führten, ein und begannen, uns mit allen möglichen Gegenständen zu bewerfen. An dem Tor wurde mit einer derartigen Gewalt gearbeitet, daß es erheblich anfing zu wanken und vorauszusehen war, daß es nur noch kurze Zeit halten würde. Obwohl ich wiederholt von den VP-Angestellten forderte, nunmehr endlich von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, geschah dieses nicht, sondern die meisten zogen sich in das Innere des Gefängnisses zurück. Kurze Zeit später brach das Tor, und der Strom der Aufrührer ergoß sich in den Gefängnishof. Wir wenigen, die sich noch auf dem Hof befanden, konnten im letzten Moment noch in das Innere des Gefängnisses flüchten; ich mußte dann aber feststellen, daß sich ein Volkspolizeiangestellter, und zwar der, der den einzig vorhandenen Karabiner bei sich führte, sich nicht mehr in das Gefängnis retten konnte. Trotz meiner Aufforderung, unter Abgabe einiger Schüsse einen Ausfall zu machen, um den Genossen zu retten, wurde, da die meisten sich schon weit in das Innere des Gefängnisses zurückgezogen hatten, nichts unternommen, sondern die Eingangstür zum Gefängnis blieb verschlossen. Wie ich später erfuhr, soll dieser Genosse erfreulicherweise nicht allzu schwer verletzt worden sein. Die Aufrührer, die nun den ganzen Hof füllten, ergriffen die auf dem Hof liegenden Mauersteine und auch Brennholzkloben und zerwarfen damit sämtliche im Parterre gelegenen Scheiben des Gefängnisses. Gleichzeitig versuchten sie auch, die verhältnismäßig leichte Tür, die in das Innere des Gefängnisses führt, einzudrücken.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich von den etwa 16 - 18 Volkspolizeiangestellten, die sich mit mir im Gefängnis aufhielten, etwa 5 oder 6 Genossen noch im unteren Vorraum des Gefängnisses, während sich alle anderen, auch die Pistolenträger, schon hinter die Gitterschleuse zurückgezogen hatten. Als die Aufrührer nun begannen, die Eingangstür einzudrücken, wurden auf mein wiederholtes Verlangen nun endlich von 2 oder 3 Genossen die ersten Warnschüsse durch den oberen Teil der Tür abgegeben. Ich begab mich, während die ersten Schüsse abgegeben wurden, hinter die Gitterschleuse und ließ mir von einem der dort stehenden Volkspolizisten, dessen Namen ich nicht weiß, seine Pistole geben, die er mir sichtlich erleichtert übergab, um nunmehr selbst mit eingreifen zu können. Als ich mit meiner Pistole nach vorn kam, brach bereits die Tür ein, und die wenigen Genossen, die sich noch vor der Gitterschleuse befanden, nahmen mich nunmehr mit hinter die Gitterschleuse. Wir stellten uns nunmehr mit 4 Mann hinter die Gitterschleuse und hielten die Eingangstreppe unter Abwehrfeuer. Bei der Gelegenheit stellte ich fest, daß wir pro Pistole nur 8 Schuß Munition hatten und infolgedessen sehr sparsam damit umgehen mußten.

Nunmehr begannen die Aufrührer zu rufen: „Kameraden der VP, stellt das Feuer ein, legt die Waffen nieder, ihr seid sowieso die letzten, alle anderen haben sich schon ergeben, hört auf zu schießen, dann garantieren wir für euer Leben!" Diese Rufe und die Tatsache, daß nunmehr seit dem ersten Anruf an den Operativstab mit der Bitte um Verstärkung schon ca. 1 Stunde vergangen war, veranlaßte über die Hälfte der Volkspolizisten unter Bemerkungen wie „Es hat doch keinen Zweck mehr, die schlagen uns ja sonst alle tot", oder „Ich schieße doch nicht auf Arbeiter", ihre Pistolen einzustecken und ihre Koppel abzuschnallen. Diese Verwirrung benutzten die Aufrührer, bis an die Gitterschleuse vorzudringen, wo sie auch mich erblickten. Sofort setzte ein Riesengejohle ein. Es wurden zahlreiche Rufe laut wie „Den Hund wollen wir haben, der hat so viele verurteilt, er soll jetzt seine Quittung dafür bekommen!" Die Genossen von der VP, die sich mit mir am Schleusengitter befanden, forderten mich nunmehr auf, mich in das erste Stockwerk des Gefängnisses zu begeben, damit ich den Aufrührern aus den Augen komme. Ich begab mich ins 1. Stockwerk und gab dem Polizisten, dessen Pistole ich hatte, dieselbe wieder zurück.

Inzwischen ließen sich die Genossen, die unten an der Schleuse waren, in Verhandlungen mit den Aufrührern ein, die dazu führten, daß ein Komitee, bestehend aus 5 Mann, eingelassen wurde, um die Entlassung der sogenannten „politischen" Häftlinge durchzuführen. Diese 5 Personen kamen in das 1. Stockwerk und verlangten von mir, daß ich mit ihnen gemeinsam die Zellen durchgehe, um die Entlassungen durchzuführen. Als ich ihnen vorhielt, daß durch das Befragen der einzelnen Häftlinge nichts Vernünftiges erreicht werden könne und sie selbst wiederholt betonten: „Wir wollen nur die „politischen" raushaben, die Verbrecher sollen drin bleiben", forderten sie, daß die Anstaltsunterlagen aller Häftlinge herbeigeholt werden, um an Hand der Unterlagen die Delikte, derentwegen die Häftlinge einsaßen, festzustellen. Eine VP-Angestellte brachte daraufhin die Unterlagen aller einsitzenden Häftlinge mit, und ich begann nun, unter dem Druck der Verhältnisse, mit diesen 5 Personen die Unterlagen, von denen das Wichtigste der jeweilige Haftbefehl war, durchzusehen. Bei dieser Durchsicht wurden alle, die wegen Diebstahls, Einbruchsdiebstahls, Betruges, Urkundenfälschung oder irgendwelcher Sittlichkeitsdelikte in Haft saßen, ausgesondert als die sogenannten „Verbrecher", die nicht entlassen werden sollten. Sie verlangten aber die Entlassung aller Häftlinge, die wegen eines Verbrechens gegen Art. 6 der Verfassung, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, wegen Verbrechens gegen das HSchG und gegen die WStVo einsaßen.

Auf diese Art und Weise wurden etwa 20 Personen entlassen. Besonders erwähnen möchte ich noch, daß diese 5 Personen, zu denen dann inzwischen noch 2 dazugekommen waren, noch die Zellen kontrollierten und die einzelnen Häftlinge fragten, weswegen die einsäßen. Dabei wurden noch einige herausgeholt. Der ehemalige Staatsanwalt Rogge, der wegen Notzucht zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus in 1. Instanz verurteilt worden war, erklärte, als man seine Zelle öffnete: „Mit mir braucht ihr gar nicht diskutieren, ich bleibe hier." Zu diesem Zeitpunkt brachten 2 weitere Personen den gefesselten Genossen Staatsanwalt Bechtel, der aus Mund und Nase blutete, gleichfalls ins Innere des Gefängnisses.

Die Aufrührer hatten ihn im Vordergebäude ergriffen, mißhandelt und mit einer aus dem umgestürzten Gefangenentransportwagen erbeutete Handschelle gefesselt. Er ist erfreulicherweise nicht allzu schwer verletzt worden. Wir befreiten ihn von der Fessel und ich versuchte nunmehr, mit den sich im Innern des Gefängnisses befindlichen Aufrührern dahin zu verhandeln, daß sie, nachdem nunmehr eine große Anzahl Häftlinge, so wie sie es verlangt hatten, entlassen worden waren, dafür sorgen sollten, daß die Masse der auf dem Hof des Gefängnisses randalierenden Aufrührer das Gefängnis und den Hof räumen sollten. Einige begaben sich daraufhin nach unten. Es gelang ihnen jedoch nicht, auf die randalierende Menge in irgend einer Weise einzuwirken. Ob und inwieweit sie dieses überhaupt ernstlich versucht haben, kann ich nicht beurteilen. Nach kurzer Zeit kamen dieselben wieder zurück und forderten nunmehr, daß alle Polizisten, die nicht zur Sicherung und Aufrechterhaltung des Anstaltsbetriebes benötigt wurden, ihre Koppel abschnallen und mit ihnen gemeinsam auf die Straße gehen sollten. Diese Volkspolizisten sollten mit ihnen durch die Stadt demonstrieren. Sie versicherten dabei: „Wenn ihr freiwillig mitkommt, werden wir dafür sorgen, daß euch nichts geschieht." Eine Anzahl der Volkspolizisten - soweit ich mich erinnern kann, vor allen Dingen ein Teil derjenigen, die sich als Verstärkung im Gebäude befanden - erklärten sich auch dazu bereit und gingen nach unten. Ob und inwieweit sie sich an Demonstrationen beteiligt haben, vermag ich nicht zu sagen.

Der Versuch, die Aufrührer vom Hof zu bekommen, führte zu keinem Erfolg, sondern das Randalieren verstärkte sich im Gegenteil, und ich hörte jetzt selbst zahlreiche Rufe „Wir wollen Benkendorff, den Hund‚ raushaben!" Darauf kamen einige der zu dem sogenannten „Komitee" gehörigen zu mir und sagten mir, daß sie die Menge nicht beruhigen könnten, daß dieselbe mich herausverlange. Einer von ihnen machte nun den Vorschlag, mich in eine Zelle zu sperren und der Masse mitzuteilen, daß ich nunmehr eingesperrt sei und für meine „Verbrechen" sowieso in den nächsten Tagen zur Verantwortung gezogen würde. Ich wurde daraufhin eingesperrt und hörte an dem immer lauter werdenden Geschrei, daß die Menge sich mit dieser Regelung nicht einverstanden erklärte und immer heftiger meine Herausgabe forderte.

Nach kurzer Zeit wurde meine Zelle wieder aufgeschlossen und ich herausgeholt und mir erklärt, daß man mich fesseln würde - man benutzte dazu die gleichen Handschellen, mit denen vordem bereits Genosse Staatsanwalt Bechtel gefesselt war -, daß ich nunmehr an die Spitze der Demonstration gestellt würde und mit der ganzen Menge durch die Stadt demonstrieren sollte. Die sogenannten „Komiteemitglieder" erklärten, als sie mich fesselten, daß sie dafür sorgen würden, daß mir von der aufgeregten Menge nichts geschehen würde. Ich wies sie darauf hin, daß das kaum möglich sein würde. Sie erklärten mir aber daraufhin: „Sind Sie nicht feige, es geht nicht anders" und nahmen mich mit. Als ich bis an die Gitterschleuse gebracht wurde, setzte ein unbeschreibliches Toben ein, und es wurden Rufe laut: „Das ist der Hund, der uns verurteilt hat, schlagt ihn tot!" Nunmehr entstand ein Streit zwischen einzelnen Mitgliedern des „Komitees" und einigen sich vor der Gitterschleuse befindlichen Demonstranten, ob ich nun endgültig herausgeführt werden solle oder nicht. Einige Vernünftige mahnten, daß es angesichts der Situation gar nicht möglich wäre, mich überhaupt lebendig bis auf die Straße zu bekommen, während andere immer stürmischer verlangten, daß ich herausgebracht würde. Die noch anwesenden Volkspolizisten verhielten sich in diesem Abschnitt des Geschehens völlig passiv. Niemand forderte mich auf, herauszugehen, aber auch niemand machte den Mund auf, um meine Herausgabe zu verhindern. Ich selbst hatte den Eindruck, daß die meisten recht froh waren, daß sich die gesamte Wut auf mich konzentrierte, und sie daher die Hoffnung haben konnten, verschont zu bleiben.

Der Streit zwischen den Besonneneren und denen, die meine Herausgabe verlangten, endete damit, daß mich 3 - 4 Mann packten und durch die inzwischen geöffnete Gitterschleuse in die Menge führten. Ich wurde bis auf den Hof gebracht, und die 5 - 6 Mann, die mich umgaben, versuchten, eine Gasse zu bilden, und sie versuchten auch, mich vor den ersten Schlägen zu schützen. Dies gelang ihnen aber nur teilweise, und ich erhielt bereits auf dem Gefängnishof von hinten mehrere Schläge über den Kopf. Im Durchgang zum 2. Hof erhielt ich weitere zahlreiche Schläge über den Kopf, u.a. einen, der so heftig war, daß ich fast das Bewußtsein verlor und mir die Kopfschwarte bis auf die Schädeldecke aufgeschlagen wurde. Dabei wurde auch ein größeres Blutgefäß zertrennt, so daß ich sehr heftig anfing zu bluten. Unter weiteren zahlreichen Schlägen und auch nunmehrigen Nadelstichen in die Oberschenkel und in das Gesäß wurde ich auf die Straße gebracht. Hier nahm man mich in die Mitte, und der ganze brüllende und johlende Haufen zog mit mir, der ich nur noch taumelte, die Steinstraße zum Neust. Markt herunter. Auf dem Wege bis zum Marktplatz habe ich weitere zahlreiche Nadelstiche in die Oberschenkel und auch noch sehr heftige Schläge über den Kopf erhalten. Die mich umgebenden Mitglieder des „Komitees" versuchten, die von vorn kommenden Schläge abzuwehren, was ihnen auch gelang. Wer sich in dieser Zeit in meiner unmittelbaren Nähe befand und mich zu schützen versuchte, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, da ich dreiviertel bewußtlos war und außerdem mein rechtes Auge infolge des heftig fließenden Blutes völlig zugeklebt war.

Als die Masse mit mir am Marktplatz angelangt war, ertönten die ersten Rufe „Hängt ihn auf!" Man zog mit mir weiter über den ganzen Marktplatz bis zu der am anderen Ende befindlichen Tribüne, auf die ich gezerrt wurde, und führte mich bis an den Rand der Tribüne. Hier stellten sich einige neben mich, setzten mir die Faust unter das Kinn und riefen in die aufgeregt johlende Menge: „Hier seht euch den Verbrecher noch einmal an, bevor wir ihn zur Verantwortung ziehen werden!" Sodann forderte man mich auf, zu der den ganzen Marktplatz einnehmenden Menge zu sprechen und meine „Schuld" zu bekennen. Inzwischen ertönten immer wieder Rufe „Hängt ihn auf!" Da ich nunmehr infolge der vielen Schläge über den Kopf und des großen Blutverlustes am Rande meiner Kräfte und kurz vor dem endgültigen Zusammenbrechen war, konnte ich auch nicht mehr sprechen. Ich kann mich nur noch entsinnen, daß ich zu den mich auf der Tribüne Umgebenden gesagt habe, es ist ein großer Fehler, einen Menschen in diesem Zustande noch zum Sprechen zu zwingen. Ich sagte auch weiterhin, daß wir große Fehler gemacht hätten und diese schnellstens wieder gutmachen müßten. Das, was ich sagte, wurde dann von einigen der mich Umgebenden in die Menge gebrüllt. Ob man wörtlich und sinngemäß das, was ich sagte, wiederholt hat, vermag ich nicht zu sagen. Ich merkte dann nur noch, wie sich ein mir zu der Zeit noch unbekannter Mann, wie ich später erfuhr, war es Dr. Bremer, in die Menge vor der Tribüne drängte und daß dieser rief: „Leute, ich bin bestimmt kein Freund dieses Systems und will auch dieses System nicht stützen, aber wir wollen nicht Verbrechen mit Verbrechen vergelten. Wenn dieser Mann dort oben Verbrechen begangen hat, dann soll er dafür auch zur Verantwortung gezogen werden. Jetzt aber gehört er in die Hände des Arztes, denn er ist schwer verletzt." Dies waren sinngemäß die Worte des Arztes.

Einige der mich umgebenden Personen ergriffen diese Gelegenheit und brachten mich jetzt in die Wohnung des Arztes, die sich am Marktplatz befindet. Auf dem Wege dorthin wurde ich von mehreren Personen wiederholt nach der Höhe meines Gehaltes gefragt. Als ich wahrheitsgemäß antwortete, wurde ich fast wieder geschlagen, weil man annahm, ich log. Als ich dann den mich Umgebenden sagte, daß unter ihnen bestimmt viele wären, die mehr verdienten, riefen einige mir immer noch zu, ich solle nicht so lügen, während andere riefen: „Für so'n Dreckgeld würde ich solche Arbeit nicht machen!" In der Wohnung des Arztes wurde mir von diesem ein Notverband angelegt, und er benachrichtigte das Krankenhaus, daß sofort ein Krankenwagen geschickt werden solle, um mich abzuholen. In der Zeit, als wir auf den Krankenwagen warteten, verlangte die Masse der Aufrührer wiederum meine Auslieferung und versuchte, in das Haus des Arztes einzudringen. 2 der Mitglieder des Komitees, die ich zwar nicht mit Namen kenne, aber jederzeit wiedererkennen würde und die sich beim Arzt befanden, begaben sich daraufhin nach unten und versuchten, die Menge vom Eindringen in das Gebäude abzuhalten, indem sie erklärten, ich läge in tiefer Bewußtlosigkeit schwer verletzt oben und müßte sofort ins Krankenhaus. Ich habe selbst gehört, wie sie riefen: „Was habt ihr denn davon, wenn ihr den bewußtlosen Mann noch hängt oder zertrampelt? Der hat doch nicht allein Schuld!" Es gelang ihnen, die Menge soweit zu beschwichtigen, daß der inzwischen erschienene Krankenwagen auf den Hof des Arztes fahren konnte, wo ich eingeladen wurde, und es gelang ihnen weiterhin, für den Wagen, der mit mir hinausfuhr, so viel Platz zu schaffen, daß er ungehindert durchkam und mich ins Krankenhaus brachte. Vom Krankenhaus wurde auf meine Bitte dann die Abteilung K der VP benachrichtigt, daß man jemanden schicken möchte, der mir die Handschellen aufschließen möchte. Als ich auf dem Operationstisch lag und meine Kopfschwarte genäht wurde, wurde mir dann mittels eines inzwischen beschafften Schlüssels die Handschelle wieder abgenommen. Die Röntgenuntersuchung ergab, daß meine Schädeldecke unverletzt geblieben ist.

Besonders erwähnen möchte ich noch, daß man mich, als man mich durch die Steinstraße prügelte, ganz besonders nach dem Aufenthalt der Genossin Kohnert, früheren Kreisgerichtsdirektorin im Kreisgericht Brandenburg-Land, jetzt Inspekteurin bei der Justizverwaltungsstelle in Potsdam, fragte. Man rief mir wiederholt zu: „Wo ist die schwarze Sau, wir wollen sie neben dich hängen!" Auch nach dem Aufenthalt des Genossen Heese, Leiter der Bezirksjustizverwaltungsstelle, Potsdam, früherer Aufsichtsrichter des ehemaligen Amtsgerichts Brandenburg, wurde ich wiederholt gefragt.

Als kritische Bemerkung zu den ganzen Vorfällen möchte ich noch folgendes berichten:

Bereits am Freitag, den 12. Juni, ist es vor dem Kreisgericht in Brandenburg/Havel zu einer Demonstration gekommen, an der ca. 2 - 3.000 Personen beteiligt waren. Ursache dieser Demonstration war die Forderung nach Freilassung eines inhaftierten Fuhrunternehmers, der von den Demonstranten auf den Schultern unter Vorantrages eines Transparentes durch die Straßen getragen werden sollte. Um diese Demonstration zu verhindern, wurde dieser Häftling, dessen Freilassung schon lange vor Beginn der Demonstration festgelegt war, weil er zu dem Personenkreis gehörte, der zu entlassen war, in einem geschlossenen Gefangenentransportwagen mit seinem Anwalt Dr. P. zu seinem Laubengrundstück vor der Stadt transportiert. Im Zuge dieser Demonstration, deren Höhepunkt ich selbst miterlebte, kam es bereits zu tätlichen Angriffen auf Volkspolizisten und auch einzelne Genossen, die vor der Kreisleitung Brandenburg-Stadt als Agitatoren in die Menge geschickt worden waren. Trotz dieser Vorkommnisse am 12.6. in Brandenburg, über die auch ein eingehender Bericht an den Justizminister Genossen Fechner gesandt worden war, und trotz der Ereignisse am 16.6. in Berlin habe weder die Genossen der Kreisleitung Brandenburg noch die örtlichen Volkspolizeiorgane auch nur das geringste zur Sicherung der öffentlichen Gebäude, insbesondere des Gerichts und des Gefängnisses unternommen. Ich glaube nicht, daß man die Entsendung von ca. 8 Volkspolizisten, die nur mit Pistolen und pro Mann 8 Schuß ausgerüstet waren, als eine wirkliche Sicherung des Gefängnisses und des Gerichts bezeichnen kann. Die Ursachen für das fast völlige Versagen der VP im Gerichtsgefängnis liegen m.E. darin, daß der Leiter der Haftanstalt und auch der Leiter der Verstärkung völlig kopflos und hilflos sich vor den Ereignissen treiben ließen. Sie hatten, als es wirklich ernst wurde, nicht einen Moment die Führung in der Hand; man merkte praktisch ihre Anwesenheit gar nicht. Die ideologische Schwäche aller Genossen zeigte sich besonders darin, daß fast alle, als die Aufrührer riefen: „Legt die Waffen nieder, ihr seid die letzten", den Mut verloren und nur noch danach trachteten, so gut wie möglich davonzukommen.

In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß auch die Genossen im Justizministerium, denen die Berichte über die Vorgänge am 12.6.53 in Brandenburg/H. übergeben wurden, diesen bedrohlichen Vorfällen derart geringe Bedeutung beimaßen, daß sie sich nicht einmal von einer im Justizministerium anwesenden Augenzeugin, obwohl auf deren Anwesenheit eigens hingewiesen wurde, näheren Bericht erstatten ließen.

Des weiteren ist es unverständlich, obwohl in Brandenburg-Hohenstücken zahlreiche KVP-Einheiten liegen, es mehrere Stunden dauerte, ehe diese Einheiten zum Einsatz gebracht wurden. Wie mir ein Hauptmann der KVP, der mich, um Informationen einzuholen, im Krankenhaus aufsuchte, mitteilte, wären die KVP-Einheiten in Hohenstücken, trotz der Vorfälle am 16.6.53 in Berlin, am 17.6.53 zu einer Geländeübung ausgerückt gewesen und hätten erst, als sich ihr Eingreifen als notwendig herausstellte, aus dem Gelände zurückgeholt werden müssen. Dieser Umstand bedarf meiner Ansicht nach einer sehr eingehenden Überprüfung und Klärung.

Ich bin der Ansicht, daß die verantwortlichen Genossen der Kreisleitung Brandenburg und der örtlichen Polizeiorgane für ihre Blindheit den Ereignissen gegenüber und ihr völliges Versagen im entscheidenden Moment zur Verantwortung gezogen werden müssen. Daß ich selbst am Leben geblieben bin, habe ich nicht unseren Genossen, sondern dem Eingreifen eines bürgerlichen Arztes zu verdanken. Lobend erwähnen möchte ich das Verhalten des VP-OWM B., der, obwohl er kein Genosse ist, als einer der ersten die Pistole zog und Warnschüsse abgab, und dem auch zu verdanken ist, daß die gesamten Pistolen der Besatzung des Gefängnisses den Aufrührern nicht in die Hände fielen, indem er sie versteckte und einschloß.

gez. Harry Benkendorff

Richter am Kreisgericht Potsdam-Land

[Quelle: BLHA, Rep. 530/2153, Bl. 58-63]