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Ehrhard Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR
1949-1989, Nr. 346 S. 80 ff.
Auszug
Der Aufstand vom 17. Juni 1953
Kapitel 10: Ausmaß und Verlauf des Aufstandes
1. Initialzündung
Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse hatte die Arbeiterschaft aufgebracht und die Erhöhung der Normen nach dem Beschluss vom 28. Mai 1953 bedeutete weitere Lohneinbußen. Mit der Verkündung des "Neuen Kurses" war für die Arbeiterschaft eine unverständliche und widersprüchliche Situation entstanden, da trotz der angekündigten Erleichterungen der Druck verstärkt wurde. Am 16. Juni kam es auf zwei Berliner Großbaustellen, dem Krankenhausneubau in Berlin-Friedrichshain und am Block 40 in der Stalinallee, zu ersten Protesten und Arbeitsniederlegungen. Zwischen den Arbeitern beider Baustellen hatte es an den Vortagen schon informelle Absprachen über einen Protest gegen die Normerhöhung gegeben. Die Friedrichshainer hatten bereits am Tag zuvor ein Protestschreiben an Grotewohl gesandt. Am nächsten Morgen erschienen SED-Agitatoren, die jedoch abgewiesen wurden, da Arbeiter beider Baustellen beschlossen hatten, in einer größeren Gruppe zur Regierung zu gehen und die Antwort einzuholen. Gegen 9 Uhr formierte sich eine Gruppe von zunächst nur 80 Arbeitern der Stalinallee zu der kurz darauf am Strausberger Platz die Delegierten der Friedrichshainer stießen. Der noch kleine Zug marschierte an verschiedenen Baustellen der Umgebung vorbei und animierte weitere Bauarbeiter, bevor er sich zum Haus des Ministerrates bewegte. Als der Demonstrationszug dort eintraf, war er auf mehrere tausend Menschen angewachsen.
Dass ausgerechnet die privilegierten Arbeiter jener Baustellen protestierten, die Renommierobjekte der SED waren, war kein Zufall. Deren Selbstbewusstsein war noch nicht so beschädigt wie das vieler anderer Menschen. Sie glaubten, dass die SED an denen, auf die sie sich berief, nicht vorbeigehen könne. Sie sahen sich außerdem in einer starken Position, weil die in Westberlin anhaltende Baukonjunktur ihnen auch dort Chancen bot. Schließlich war in Teilen der Berliner Arbeiterschaft 1953 noch die Erinnerung an die eigenen kämpferischen Traditionen wach. In den Morgenstunden des 16. Juni hatten sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich der FDGB ihrer Forderungen annehmen würde. Gewerkschaftsfunktionäre hatten sich, teils von den Arbeitern genötigt, teils um zur Beruhigung beizutragen, der Anliegen der Bauarbeiter angenommen. Bevor der Demonstrationszug zum Regierungssitz marschierte, hatte ihn die Arbeiter zum "Haus der Gewerkschaften", dem Sitz des FDGB, in der nahen Wallstraße gelenkt. Die Gewerkschaftsführer hatten sich jedoch angesichts der Menge verschanzt und empfingen die Arbeiter nicht.
Als der Zug das Regierungsgebäude erreichte, blieben auch dort die Türen verschlossen. Die Demonstranten riefen vergeblich nach Grotewohl und Ulbricht. Es kamen schließlich Agitatoren - unter ihnen Heinz Brandt und Robert Havemann -, die den Arbeitern die Rücknahme der Normenerhöhung zusagten. Schließlich redete von einem Tisch aus der Minister Fritz Selbmann (vgl. 12.2). Doch die Menge war nicht mehr zu beruhigen. Soziale Forderungen, die über die ursprünglich verlangte Rücknahme der Normenerhöhung weit hinausgingen, wurden in Sprechchören erhoben. Arbeiter sprachen zu den Menschen, verlangten schließlich die Bestrafung und den Rücktritt der Regierung und der Ruf nach einem Generalstreik ertönte. Am Nachmittag zogen schon mehrere Demonstrationszüge durch die Stadt. Gruppen von Demonstranten suchten andere Betriebe auf, und es gelang ihnen, den Streik auszuweiten. Einige Arbeiter fuhren zum RIAS nach Westberlin und baten um Verbreitung ihrer Forderungen. Der Sender berichtete umgehen, so dass schon am späten Nachmittag fast überall in der DDR die Streiks bekannt wurden, was bei früheren Ereignissen nicht geschehen war. Bis in die späten Abendstunden waren die Straßen Ostberlins mit Demonstranten gefüllt. Es kam zu ersten heftigen Ausbrüchen auf seiten der Demonstranten. Am Alexanderplatz gingen Scheiben zu Bruch, Fahnen und Plakate wurden abgerissen. Die Ereignisse des 16. Juni waren zwar von einer kleinen Gruppe Arbeiter initiiert worden, nahmen aber einen vollständig spontanen Verlauf, der ungeordnet und ohne Systematik die aufgestaute Unzufriedenheit entladen ließ. Vereinzelt hatten Arbeiter der beiden Baustellen das Wort ergriffen, aber zur Bildung einer Streikleitung oder einer anderen Struktur war es nicht gekommen.
Seit dem späten Nachmittag ergriff die SED Gegenmaßnahmen. Die Volkspartei wurde in Alarmzustand versetzt, die Grenzbewachung in Berlin verstärkt und mit der sowjetischen Kontrollkommission Maßnahmen abgesprochen. Die Parteiführung glaubte aber an diesem Tag noch, die Arbeiter durch die nachdrückliche Bekanntgabe der Rücknahme der Normenerhöhung und die Agitation ihrer Kader beruhigen zu können. So wurden neben den polizeilichen Sicherungsmaßnahmen vor allem zuverlässige Genossen für die Agitation instruiert. Das galt auch für das übrige DDR-Gebiet, da die SED nicht mit einem Übergreifen der Unruhen rechnete. Die SED hatte die Verbindung zur Bevölkerung verloren, die Unzufriedenheit politisch nicht verarbeitet und schätzte darum die Situation falsch ein.
2. Das Ausmaß des Aufstandes
Am Morgen des 17. Juni brach der Aufstand in der gesamten DDR aus. Die Bevölkerung hatte sich am Abend und in der Nacht durch westliche Sender informiert. Außerdem versuchten Arbeiter mit Betrieben in anderen Orten telefonische Verbindung herzustellen oder schickten Kuriere. Mit Beginn der Frühschicht traten schon zahlreiche Belegschaften der großen Betriebe in den Streik. Alsbald formierten sich Demonstrationszüge, die in die Zentren der größeren Städte strebten, wo sich zumeist schon Bürger zu Demonstrationen versammelt hatten.
In etwa 600 Betrieben kam es zu Arbeitsniederlegungen, an denen etwa eine halbe Million Beschäftigte beteiligt waren, und in zirka 400 Städten und Ortschaften wurde demonstriert oder brachen Unruhen aus. Vor allem in den Städten der industriellen Ballungsräume entfaltete der Aufstand eine größere Kraft. In den traditionellen Industriegebieten um Halle, Leipzig und Gera hatten die Streikbewegung und der Aufstand eine größere Intensität als in Berlin, ebenso in Cottbus, Magdeburg, dem Industriegürtel im Harzvorland und in Potsdam. In Dresden streikten fast genauso viele Arbeiter wie in Berlin. In diesen Ballungsräumen wurde auch ein deutlich höherer Organisationsgrad erreicht als in Berlin. Streikleitungen - vereinzelt auch überregionale - wurden gewählt, und häufig wurden die Gewerkschaftsfunktionäre gezwungen, Resolutionen oder Erklärungen der Belegschaften zu unterschreiben. Diese Gebiete waren vor 1933 Zentren der kämpferischen deutschen Arbeiterbewegung gewesen, und an diese Tradition wurde nach 20 Jahren nun wieder angeknüpft. Diesmal aber wollten die Arbeiter nichts mehr von den kommunistischen Kadern wissen. Wenn dies noch möglich war, wurden ältere Sozialdemokraten in die Komitees oder zu deren Vorsitzenden gewählt, wie in Dresden, wo der Alt-Sozialdemokrat Wilhelm Grothaus als Sprecher hervortrat.
Neben den großen Streikzentren spielten auch die Belegschaften von Betrieben kleinerer Orte eine Rolle. Sie waren wesentlich isolierter und konnten sich nicht in der Sicherheit, die eine große Masse bot, bewegen. Dort brachen auch die Streiks zuerst zusammen. Auf zahlreichen Dörfern kam es ebenfalls zu Aktionen, die den Arbeiteraufständen an Heftigkeit in nichts nachstanden. Viele Bauern hatten bis zur absoluten Erschöpfung für Zwangssteuern und Abgaben gearbeitet, um Haus und Hof zu erhalten. Jetzt fand der angestaute Zorn ein Ziel. Zahlreiche Bauern versuchten daher, die nächstgelegenen Städte zu erreichen, um sich dort an den Protestaktionen zu beteiligen. Zentren der Bauernproteste waren: die Magdeburger Börde, Nordthüringen, die Altmark, die Cottbuser Umgebung. Die größte Bauerndemonstration fand in Nordthüringen statt, wo sich 2 000 Bauern in Mühlhausen, der Stadt des Reformators Thomas Müntzer, gesammelt hatten.
Das Bild auf den Straßen und die Aktionen der Demonstranten gleichen sich fast überall: Die verhassten Symbole der SED, ihre Fahnen, die Bilder der Spitzenfunktionäre, Losungen und Plakate wurden heruntergerissen, verbrannt und zerstört. Manche FDJ- und SED-Mitglieder warfen demonstrativ ihre Abzeichen weg und vernichteten öffentlich ihre Parteibücher. Auch Volkspolizisten zogen ihre Uniformen aus. Agitatoren, die sich - oft mit Lautsprecherwagen - unter die Demonstranten wagten, wurden vertrieben und die Wagen umgeworfen oder angezündet. Vereinzelt kam es zu Brandstiftung, deren Hergang unklar blieb. In Berlin brannte das ehemalige Vorzeige-HO-Kaufhaus "Columbus" am Lennédreieck ab.
Den spontanen Demonstrationen fehlten jedoch klare Ziele. Streikleitungen, die in den Betrieben noch Einfluss nehmen konnten, waren in den tumultartigen Zuständen auf den Straßen machtlos. So suchten die Züge die Zentren der Macht auf. Oft hatten sich dort die SED-Funktionäre verbarrikadiert oder das Weite gesucht. Die Demonstranten stürmten und besetzten insgesamt 140 Gebäude der SED, des MfS, der Volkspolizei, des FDGB und der Verwaltungen. Vielfach überwanden die Arbeiter auch die bewaffnete Gegenwehr des Wachpersonals oder der Polizei. Aktenmaterial wurde zu den Fenster herausgeworfen und vernichtet, Einrichtungen und gefundene Waffen zerstört. In sehr vielen Betrieben besetzten die Arbeiter die Räume der Betriebsparteiorganisationen. Dort, wo sich Polizei und andere Sicherheitskräfte den Demonstranten in den Weg stellten, kam es zur tätlichen Auseinandersetzungen. In vielen Fällen vertrieben die Arbeiter zunächst die Volkspartei. Vereinzelt wurden Wachleute in Betrieben, VP- und MfS-Angehörige, SED-Funktionäre und Justizbeamte von der Menge misshandelt, auch ein Todesfall ist belegt. Viele Funktionäre gerieten in Panik und begaben sich in den Schutz der Sowjets. In Jena flüchtete eine große Anzahl von Funktionären mit ihren Familien in einen nahgelegenen Wald.
Insgesamt waren aber die Ausschreitungen gegenüber diesem Personenkreis auf Grund des Einflusses besonnener Demonstranten eher selten, da sich diese auch in den Weg stellten, wenn einzelne versuchten, Geschäfte zu plündern. Dort wo Streikkomitees gebildet wurden, bemühten sie sich zumeist erfolgreich, Streikende von Gewalthandlungen abzuhalten. An vielen Orten versuchten die Aufständischen, die Gefängnisse und Zuchthäuser zu stürmen, was in neun Fällen auch gelang, wobei etwa 1 300 Häftlinge befreit wurden. Zumeist gingen die Befreier davon aus, dass es sich ausschließlich um politische Gefangene handelte, was zum überwiegenden Teil auch zutraf. Bei den dramatischen Erstürmungen der Strafanstalten wurde verschiedentlich Gewalt angewendet. So kam es in Magdeburg zu einer Schießerei, bei der drei Wachleute ums Leben kamen. Die Sicherheitskräfte waren der Wucht des Aufstandes nicht gewachsen, zumal sie zunächst gehalten waren, die Demonstranten ohne Waffeneinsatz zu beruhigen. Auch setzte die SED-Führung anfänglich die kasernierte Volkspolizei nicht gegen die Demonstranten ein, da sie der Truppe nicht vollständig vertraute. Tatsächlich verweigerte eine Reihe von Offizieren und Mannschaften die Befehle und wollten sich nicht gegen die Arbeiter einsetzen lassen.
3. Die Niederschlagung
In den Mittagsstunden des 17. Juni griffen die sowjetischen Truppen ein. Das Kriegsrecht wurde verhängt. Wenn sich die Demonstrationen nicht auflösten, wurde nun scharf geschossen, so dass eine Gegenwehr der Aufständischen kaum noch möglich war. In Berlin und anderen Städten flogen Steine, wurden Panzer behindert und vereinzelt Straßensperren errichtet. Unter den Schüssen der sowjetischen Truppen und der dann eingesetzten Kasernierten Volkspolizei brach der Aufstand zusammen. Selten gelang es den Truppen, die Straßen und Plätze sofort zu räumen, denn auch nach dem Einrücken von Panzern und dem Gebrauch von Schusswaffen strömten die Demonstranten immer wieder zusammen.
Auch an den beiden folgenden Tagen kam es in zahlreichen Orten noch zu Demonstrationen, die dann schon auf eine gut vorbereitete Militärmacht trafen. Zudem ließen die sowjetischen Kommandanten zur Abschreckung einige Demonstranten standrechtlich erschießen, darunter auch den Westberliner Willy Göttling. Die Bevölkerung musste verzweifelt zur Kenntnis nehmen, dass sie gegen diese Macht nichts ausrichten konnte. Die Streiks in den Betrieben hielten noch länger an, wenn sie nach dem 20. Juni auch nur noch den Charakter von Warnstreiks hatten. Zahlreiche Betriebe wurden von sowjetischen Truppen oder der Kasernierten Volkspolizei besetzt, so dass weitere Streiks nicht mehr möglich waren. Manchmal handelten die Belegschaften als Gegenleistung für die Arbeitsaufnahme den Abzug der Soldaten aus dem Betrieb aus. So zogen die sowjetischen Panzer vor dem Zeiss-Werk in Jena am 21. Juni ab, als die Belegschaft die Beendigung des Sitzstreiks unter dieser Bedingung zugesagt hatte.
Eine entscheidende Schwäche des Aufstandes waren die fehlenden Führungs- und Koordinationsstrukturen, die in dieser kurzen Zeit zumeist nicht ausgebildet werden konnten. Nur im Bitterfelder und im Görlitzer Raum war dieser Prozess schon nach wenigen Stunden in Gang gekommen, und die dort gewählten Führungen hatten sich als handlungsfähig erwiesen. Die Spitze der willfährigen Blockparteien CDU und LDPD hat die Chance, die sich mit ihrer kurzfristigen Aufwertung im Rahmen des "Neuen Kurses" bot, hingegen nicht wahrgenommen. Ein tragisch-komisches Schauspiel bot der CDU-Vorsitzende Nuschke, der am Nachmittag des 17. Juni von Demonstranten mit seinem Auto in die Westsektoren geschoben wurde. Als er von westlichen Journalisten nach dem Aufmarsch der sowjetischen Panzer befragt wurde, erklärte er, diese hätten nicht geschossen, "sondern sie haben nur gleichfalls demonstriert." (Diedrich 1991, 227) In den Tagen nach dem Aufstand und in der Hoffnung, dass der "Neue Kurs" dies ermögliche, rührte sich die Basis der bürgerlichen Parteien wieder stärker und verlangte eine deutlichere Unabhängigkeit von der SED. Doch dazu war es zu spät, die Parteiführer hatten sich festgelegt.
Nach diesen Tagen waren zahlreiche Opfer zu beklagen: Mindestens 50 Demonstranten waren umgekommen, bei den Sicherheitskräften starben zehn Menschen. Hunderte waren verletzt worden, viele davon schwer. Ungefähr 6 000 Beteiligte wurden verhaftet, von denen ein Drittel nach kürzerer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Besonders verfolgt wurden die Mitglieder von Streikleitungen und solchen Demonstranten, die auf Kundgebungen das Wort ergriffen hatten. Die Fluchtwelle stieg noch einmal drastisch an, da viele Initiatoren und Teilnehmer der Unruhen flohen.
Kapitel 11: Die sozialen und politischen Forderungen des Aufstandes
1. Aufstand gegen den totalitären Staat
Anlass der Streiks waren die Normenerhöhungen, doch schon bei der ersten Demonstration vor dem Haus der Ministerien am 16. Juni forderten Bauarbeiter spontan den Rücktritt der Regierung. Als sich am Nachmittag die Demonstrationszüge durch die Stadt bewegten, verstärkte sich der Protest gegen die Regierung und die Partei, die für die Misere verantwortlich gemacht wurde. Bereits an diesem Tag und noch mehr am 17. Juni scheiterten alle Versuche der SED-Agitatoren, die Menschen mit der angekündigten Rücknahme der Normenerhöhungen zu beruhigen. Die Arbeiter waren sich schon in dieser ersten Phase ihrer politischen Kraft bewusst und wollten sich nun nicht mehr mit einigen sozialen Zugeständnissen abspeisen lassen. Es fand praktisch kein Streik statt, auf dem nicht politische Forderungen gestellt wurden, und bei den Straßendemonstrationen traten die sozialen Anliegen sogar vollends in den Hintergrund. Die Bevölkerung hatte längst erkannt, dass die ökonomische Krise durch eine falsche Politik heraufbeschworen worden war, sie wollten nicht mehr an den Symptomen kurieren.
Ein besonders aufschlussreiches Dokument über die politischen Forderungen der Aufständischen ist das Telegramm des Bitterfelder Streikkomitees vom 17. Juni. Dort hatten Streikleitungen, die 30 000 Arbeiter im Ausstand vertraten, ein 25köpfiges, überregionales Streikkomitee gewählt. Das Komitee koordinierte im gesamten Raum die Maßnahmen der Demonstranten. Es ließ die Stadtverwaltung, die Polizei, das MfS-Gebäude und andere staatliche Einrichtungen besetzen. In Bitterfeld begann sich auch die SPD zu reorganisieren. Zu Ausschreitungen kam es dort jedoch nicht, weil das Komitee bis zum Eingreifen der sowjetischen Truppen seinen Einfluss behielt. Der Neun-Punkte-Katalog der Bitterfelder Forderungen enthält nur eine soziale Forderung, nämlich die "sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards", während im übrigen der Rücktritt der Regierung, die Bildung einer provisorischen Regierung, die Zulassung der demokratischen Parteien Westdeutschlands, freie und geheime Wahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen, einschließlich der "Wirtschaftsverbrecher" (Fricke 1984, 96) und der aus religiösen Gründen Verfolgten sowie die Abschaffung der Zonengrenzen und der militärischen Verbände gefordert wurden.
Der Bitterfelder Katalog entspricht im wesentlichen den politischen Willensbekundungen der Demonstranten in der gesamten DDR, die mündlich vorgetragen auf Losungen und Plakaten gezeigt oder von der Masse skandiert wurden. Auch die zahlreichen Resolutionen und Erklärungen, die die Streikkomitees im Auftrag der Belegschaften verabschiedeten, deckten sich in den politischen Kernaussagen mit dem Bitterfelder Katalog. Bisweilen hatten die Komitees noch spezielle soziale Anliegen, die sich auf den Sozialabbau des letzten Jahres bezogen, oder besondere betriebliche Angelegenheiten mit aufgelistet. In politischer Hinsicht waren damit die angekündigten Erleichterungen des "Neuen Kurses" vollständig überholt. Der Aufstand war eine Absage an das zentralistische System und eine Forderung nach einer pluralistischen Demokratie. Wo es möglich war, gingen die Arbeiter an die Reorganisation der SPD. Trotz der kurzen Entfaltungsmöglichkeiten wurden auch einige Aktivitäten von CDU- und LDPD-Mitgliedern sichtbar. Am bekanntesten wurde in diesem Zusammenhang der schnelle Aufbau von politischen Strukturen in Görlitz. In diesem Gebiet bildeten sich schnell wieder SPD-Ortsgruppen, und auch ein SPD-Revolutionskomitee nahm seine Arbeit auf. In der Stadt selbst kam es am 17. Juni darüber hinaus zur Bildung einer bürgerlich-demokratischen Stadtverwaltung und weiterer Exekutivorgane. Hier löste die Lehrerschaft sogar die Parteistrukturen in den Schulen auf, erstellte einen Forderungskatalog für eine weltanschaulich neutrale Schule und wählte neue Leitungen. Die LDPD-Abgeordnete Lothar Markwirth inspirierte wesentlich die Maßnahmen in der Stadt und in der Umgebung und wurde deswegen später als "Haupträdelsführer" zu lebenslanger Haft verurteilt.
Angesichts der starken Beteiligung der Arbeiterschaft trat kaum in Erscheinung, dass sich andere Bevölkerungsschichten ebenfalls intensiv an den Protesten beteiligten. Vor allem waren es die Bauern, die ihre spezifischen Forderungen hervorhoben. In der Kritik des politischen Systems gab es aber keine Differenzen mit der Arbeiterschaft. Das galt auch für Handwerker und Unternehmer, die zwar in kleiner Zahl, aber nicht zurückhaltender als die Arbeiter handelten. Die Listen der Verhafteten spiegeln - mit einem kleinen Übergewicht der Arbeiter - in etwa den repräsentativen Durchschnitt der sozialen Struktur der DDR-Bevölkerung wider. Neben zirka 3 500 verhafteten Arbeitern standen u.a. 1 800 Angestellte, Bauern, Selbständige. Der 17. Juni war daher für die Arbeiter auch ein politischer Arbeitskampf, insgesamt aber der Aufstand der Bevölkerung gegen das totalitäre System. Die Legitimationskrise hatte sogar die SED-Mitglieder und die Sicherheitskräfte erfasst. Einige tausend Personen traten aus der SED aus, Volkspolizisten und Angehörige der Kasernierten Volkspolizei schlossen sich den Demonstranten an, desertierten, flohen in den Westen oder verweigerten den Befehl.
Beteiligt am Aufstand waren auch Intellektuelle, Lehrer, Theologen und Verwaltungsangestellte. In Leipzig und Jena spielten zudem Studentengruppen eine wichtige Rolle. Sie traten jedoch nie geschlossen auf. Abgesehen vom Sonderfall der Kirchen, waren diese Bevölkerungsgruppen 1953 schon politisch selektiert, die kritischen Geister waren zu einem guten Teil geflohen oder so eingeschüchtert, dass die kurze Zeit des Aufstandes nicht für eine Mobilisierung ausreichte. Außerdem machte sich 1953 schon bemerkbar, dass die SED Teile der Bevölkerung entpolitisiert hatte und die neue "Intelligenz" dem System Karriere und Privilegien verdankte.
2. Nationale Erhebung
Zu den politischen Forderungen gehörte regelmäßig der Ruf nach Wiederherstellung der deutschen Einheit. Dabei gingen Streikkomitees und Demonstranten davon aus, dass die verlangten freien Wahlen ohnehin die Einheit brächten. Die SED-Führung war sich schon am Abend des 16. Juni bewusst, dass die beginnenden Unruhen in Berlin die nationale Frage berühren würden. Zu den wenigen Sicherungsmaßnahmen gehörte die Verlegung von 5 000 Mann der Kasernierten Volkspolizei zur Verstärkung der Grenzposten an die Sektorengrenze. Tatsächlich richteten sich zahlreiche Protestaktionen in Berlin gegen die Sperrmaßnahmen, und die Demonstranten vertrieben an vielen Stellen die Wachmannschaften. Daran waren auch zahlreiche Westberliner beteiligt, die in größerer Zahl in den Ostsektor strömten, um die Demonstrationen zu unterstützen, was von den Ostberlinern als Selbstverständlichkeit akzeptiert wurde. Sie sahen es nicht als eine unlautere Einmischung an, dass Flugblätter des Ostbüros der SPD und der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit auftauchten. Vielmehr betrachteten sie die Sendungen des RIAS als wertvolle Unterstützung, war dies doch die einzige Quelle, aus der man Informationen über die Gesamtlage erhielt. Enttäuschung kam im Osten allerdings auf, als sich herausstellte, dass die Westalliierten das ihnen Mögliche taten, um den Aufstand zu deeskalieren. Zwar wussten sie nicht, dass dem RIAS von den Alliierten Beschränkungen auferlegt waren, aber sie erlebten, dass das britische Militär Zusammenläufe an der Sektorengrenze auflöste, die entstanden waren, weil zahlreiche Demonstranten vor den Panzern flüchteten und Westberliner Schaulustige die Grenze bevölkerten.
Auch außerhalb von Berlin war die nationale Komponente des Aufstandes überaus stark zu spüren. Auf unzähligen Demonstrationen sangen die Menschen das Deutschlandlied. Da sie oft nur die erste Strophe auswendig konnten, diente das der SED-Propaganda später als Vorwand, den Vorwurf des Nationalismus und Faschismus zu erheben. Zu den vielen Gerüchten in den Tagen des Aufstandes, bei denen oft der Wunsch der Vater des Gedankens war, gehörten auch solche, wonach die Grenzöffnung unmittelbar bevorstünde.
Noch bevor die sowjetische Militärmacht eingriff, skandierten die Demonstranten überall antisowjetische und antirussische Losungen. Die Missachtung der von der SED geheiligten "deutsch-sowjetischen Freundschaft" diente ebenfalls zur Untermauerung des Faschismusvorwurfs. Zweifellos wirkten in der Bevölkerung alle Ressentiments nach, aber die "Russen" waren eben auch die Macht, auf die sich die SED stützte. Die Funktionäre wurden deswegen überall auch als "Russenknechte" beschimpft. Zu diesem Zeitpunkt konnten die Aufständischen nicht wissen, dass 40 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung im Einsatz gegen die deutschen Arbeiter erschossen worden waren.
Kapitel 12: Die Folgen des Aufstandes
1. Die Abrechnung der SED
Die sowjetischen Militärbehörden gaben während des Aufstandes die standrechtliche Erschießung von sieben Personen bekannt. Es waren aber mindestens 40. Damit war für die SED-Justiz ein Signal für die Abrechnung mit den Aufständischen gesetzt. Am 11. Juni war bei der Verkündung des "Neuen Kurses" von den DDR-Behörden eine Überprüfung der Härtefälle der politischen Strafjustiz versprochen worden, doch dazu kam es faktisch nicht, denn jetzt hatten die DDR-Behörden von den Sowjets freie Hand bekommen, die schärfsten Maßnahmen im alten Stil zu ergreifen. Vielen der zahlreichen Verhafteten war absolut nichts nachzuweisen. Einige waren auch als Passanten aufgegriffen worden. Den Strafverfolgungsorganen kam es vor allem darauf auf, Exempel zu statuieren. Bestimmte Personen und Gruppen standen besonders im Visier, vor allem wenn daraus propagandistisch Kapital zu schlagen war.
Einer der spektakulärsten Fälle betraf Erna Dorn, die in Halle bei der Erstürmung der Haftanstalt befreit worden war. Die geistig verwirrte Frau war dort wegen Selbstbezichtigungen als angebliche Aufseherin in einem Frauen-KZ inhaftiert. Nach ihrer Wiederergreifung wurde die KZ-Legende ausgesponnen und mit ihrer Aburteilung und Hinrichtung im Oktober 1953 ein Justizmord verübt. Die Sicherheitsorgane versuchten vor allem, die Streikkomitees zu fassen und diese als Rädelsführer hinzustellen. In vielen Fällen wurden lebenslange und höchste Zuchthausstrafen ausgesprochen. Personen, die durch ihre Aktivitäten besonders aufgefallen waren, wurden ebenfalls hart bestraft. Zu ihnen gehörte der Magdeburger Ernst Jennrich, der an einer Schießerei in der Haftanstalt beteiligt war, bei der drei Wachleute ums Leben kamen. Er wurde hingerichtet.
In den Haftanstalten wurde auf alle Gefangenen ein enormer Druck ausgeübt. Es kam zu schweren Misshandlungen, worüber einer der Initiatoren in Leuna, der Buchhalter Schorn, der in den Westen fliehen konnte, berichtete, nachdem er sich unter Druck zum Schein in der Haft als Spitzel zur Verfügung gestellt hatte. In Bitterfeld nahm sich das Mitglied des dortigen Streikkomitees, Striebel, in der Haft das Leben. Bei den Massenverhaftungen wurden oft viele Gefangene unter unmenschlichen Verhältnissen zusammengepfercht. Personen, denen nichts als die Teilnahme an Demonstrationen nachgewiesen wurde, kamen mit mehrmonatiger Haft davon, doch das Schicksal mancher in den Unruhen verschwundener Menschen ist nie aufgeklärt worden. Die SED rechnete auch mit den unzuverlässigen Leuten des eigenen Apparates ab. Es hagelte viele hundert Parteiausschlüsse. Mitglieder der bewaffneten Organe wurden diszipliniert, entlassen oder zu Zuchthausstrafen verurteilt.
Auf die gesamte Bevölkerung verstärkte sich der ideologische Druck, und die demütigende Praxis der Selbstkritik und der öffentlichen Akklamation wurde wieder aufgenommen. An Universitäten, Bildungs- und Kultureinrichtungen kam es zu Entlassungen und in den Betrieben und Dörfern begann eine gnadenlose Jagd auf Streikführer und -sprecher, während Belegschaften zur Denunziation aufgefordert wurden. Es war ein Akt letzten kollektiven Widerstandes, wenn ganze Belegschaften sich aus dem FDGB zurückzogen oder die Herausgabe von Namen verweigerten. Vor einzelnen Denunzianten war aber niemand geschützt. Dem MfS gelang es damals, eine Reihe von Verhafteten als Spitzel anzuwerben. Der dosierten Mischung aus Druck und Entlastung, Angst und Angebot waren viele nicht gewachsen. In dieser Atmosphäre der Demütigungen erhob sich noch einmal eine Reihe von Belegschaften, und Mitte Juli setzte eine zweite, kleinere Streikwelle ein. Die Arbeiter erneuerten wiederum die politischen Forderungen vom 17. Juni, wollten aber vorrangig die Freilassung der verhafteten Streikführer erzwingen. Zu Sitzstreiks mit einer Beteiligung von mehreren tausend Arbeitern kam es in Jena und vor allem in Buna. Die Streiks hielten einige Tage an. Auch unter den Bauern gab es noch Unruhen.
Die SED ergriff nun Maßnahmen, die ähnliche Ereignisse verhindern und schon im Keim ersticken sollten. So gab es Säuberungen innerhalb der Partei. Das prominenteste Opfer wurde der Alt-Sozialdemokrat und Justizminister Max Fechner, dem seine anfängliche Zurückhaltung gegenüber den Streikenden als feindliche Einstellung ausgelegt wurde und der dafür zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Die Kasernierte Volkspolizei wurde umstrukturiert, damit sie für innere Aufgaben besser gerüstet war, die Polizei-.Bereitschaften wurden verstärkt und besondere Einsatzgruppen des Innenministeriums von hoher Mannschaftsstärke gebildet. Die SED stellte außerdem eine paramilitärische Bürgerkriegstruppe auf, die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse". In den Kampfgruppen wurden der SED treu ergebene Arbeiter und Betriebsangehörige zusammengefasst. Auch die Befehlsstrukturen aller Formationen wurden so verändert, dass sie bei inneren Konflikten wirksamer als bisher eingesetzt werden konnten und die SED unmittelbaren Zugriff hatte. Es kam u.a. zur Bildung der "Einsatzleitungen", in denen neben den Vertretern der Sicherheitsorgane auch die jeweiligen höchsten SED-Funktionäre im Territorium mitarbeiteten. Zu den Folgen des Aufstandes gehört zudem die weitere Festigung der Macht Ulbrichts und eine langfristig angelegte Modifizierung vieler Politikbereiche (vgl. 13.1)
2. Die Resignation
Während die SED die innere Sicherheit ausbaute, wurden mit sowjetischer Hilfe die sozialen Lebensbedingungen der DDR-Bevölkerung unmittelbar nach dem 17. Juni spürbar verbessert. Mit gewissen Einschränkungen kam der "Neue Kurs" auf sozialem Gebiet zum Zuge und die SED war bemüht, den Druck auf die Bauern und die noch verbliebenen Selbständigen zu mildern.1954 flohen deswegen wesentlich weniger Menschen in den Westen als in den Vorjahren. Die Ruhe, die nach dem Aufstand einkehrte und nur gelegentlich durch verzweifeltes Aufbegehren unterbrochen wurde, war aber nicht Ausdruck einer echte Befriedigung der Gesellschaft.
Die Niederschlagung mit rücksichtsloser militärischer Gewalt und der anschließende Rachefeldzug der SED lösten eine tiefe Depression in der gedemütigten Bevölkerung aus, wie sie erst nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wieder eintreten sollte. Die Menschen musste einsehen, dass ihnen kein Mittel zur Verfügung stand, die ungeliebte SED-Macht loszuwerden. Es gab keine politischen Strukturen, die eine irgendwie geartete Opposition ermöglichten, und jeder kollektive Widerstand war aussichtslos geworden. Hilfe war auch aus dem Westen nicht zu erwarten. Aus der Perspektive der DDR-Bürger wurde der politische Umgang mit dem Aufstand im Westen zum Ritual der eigenen Selbstbestätigung, das aber für den Osten folgenlos blieb. Auch von den offiziellen Kirchenstellen in der DDR war wenig, gar nichts zu hören. Die aufständische Bevölkerung war allein gelassen und erlebte zudem den Triumph der SED. Auch nahm sie nun wahr, dass nicht das ganze Volk aufgestanden war, sondern ein Teil der Ostdeutschen sich bereits fest an das System gebunden hatte. Dass es in einigen Städten und Bezirken wie in Karl-Marx-Stadt und Suhl nur zu geringen Aktivitäten gekommen war, ist auf die kurze Zeit der Entfaltung des Aufstandes zurückzuführen. In vielen Betrieben und Ortschaften wurden die ersten Ansätze vom Ausnahmezustand überholt und die Angst vor den Folgen hatte bremsend gewirkt.
Nun zeigte sich, dass die Unterdrückungsmaschine der SED insgesamt funktionierte, dass die Propaganda vom faschistischen Putsch in der Partei und unter Intellektuellen wirkte und dass aus Angst vor dem Volkszorn die militärischen Verbände und die SED-Genossen zusammenhielten. In den Wochen der Abrechnung nahmen vor allem die Opportunisten ihre Chance wahr. Denunziation und verlogene Schuldzuweisungen sicherten Karrieren und garantierten Privilegien.
Die Bindung der Opportunisten an die SED war dabei keineswegs Ausdruck freier und selbstbewusster Entscheidungen, sondern vielmehr Folge der verinnerlichten physischen und psychischen Unterwerfung. Nach dem 17. Juni setzte sich verstärkt fort, was schon vorher eingesetzt hatte: In der Verarbeitung und positiven Wendung der Depression und Resignation ordneten sich immer mehr Menschen dem System unter. Der Aufstand hatte zwar den moralischen und politischen Bankrott der SED signalisiert. Jetzt wurde er jedoch unpolitisch verarbeitet. In der DDR wurde dieses Thema in den nächsten Jahrzehnten nur noch selten von Zeitzeugen angesprochen. Die jüngere Generation wusste von den Ereignissen fast nichts, offenbar waren die Ereignisse auch in den Familien nicht thematisiert worden. Nur in politisch angespannten Situationen haben Ältere vom Aufstand geredet. Dabei stellte sich heraus, dass für viele Menschen der 17. Juni traumatisierend in ihrer politischen Biographie gewirkt hat. Bis in die Reihen der verantwortlichen Kirchenleute - etwa Manfred Stolpe - wurde der Aufstand als Argument für die Zwecklosigkeit jeder Opposition und jeden Widerstandes gebraucht. Die älteren SED-Führer, allen voran Mielke, haben das politische Bewusstsein bewahrt, dass spontane politische Befreiungsversuche auch im totalitären System möglich sind; so fragte er führende Generale im Juni 1989 besorgt, ob jetzt ein 17. Juni bevorstünde.
Zustand und Funktion des totalitären SED-Regimes zeigten sich auch an der unterschiedlichen Verarbeitung der eigenen Rolle von Funktionären, die in die Vorgänge involviert waren. Geradezu typisch ist das politische Schicksal der drei SED-Agitatoren, die am 16. Juni vor dem "Haus der Ministerien" vergeblich versucht hatten, die aufgebrachten Demonstranten zu beruhigen, des Ministers Fritz Selbmann, des Professors Robert Havemann und des Sekretärs für Agitation und Propaganda Heinz Brandt. Selbmann wurde nach dem Aufstand einer der heftigsten Verfolger der Arbeiter. Er reiste eigens nach Buna, um dort die Juli-Streiks niederschlagen zu helfen. Er verlor im Zusammenhang mit Machtkämpfen im ZK 1958 seine hohen Parteiämter und diente der Partei dann noch in weniger wichtigen, wirtschaftspolitischen Ämtern. Eifrig baute Selbmann, der später auch als Schriftsteller hervorgetreten ist, an dem populistischen Selbstbild als "Minister und Kumpel", da er mit dem Verlust des Vertrauens der Arbeiter nicht zurecht kam. Havemanns Übertragungswagen wurde am 16. Juni von den Demonstranten umgekippt, er tauchte in der Masse unter. Er berichtete darüber, als er schon selbst der wichtigste Dissident in der DDR war. Aber auch in dieser Zeit gab er die SED-Theorie nicht auf, dass der Aufstand einen faschistischen Anteil hatte. Brandt hatte vollständig auf den "Neuen Kurs" gesetzt und war nach dem Aufstand degradiert worden, weil er die Versprechungen wohl allzu ernst genommen hatte. 1958 setzte er sich in die Bundesrepublik ab und wurde in Westberlin vom MfS entführt. In der DDR wurde er als Agent verurteilt, konnte jedoch 1964 wieder ausreisen. Er berichtete, dass die Juni-Ereignisse ihn dazu gebracht hätten, sich innerlich von der SED zu trennen. Jeder war auf seine Weise gezwungen worden, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum der Sozialismus nicht von den Massen angenommen wurde.
3. Die Kirchen und der Aufstand
Die Kirchen wurden von dem vehementen Ausbruch der Unruhen überrascht. Für sie hatte sich mit dem Regierungsgespräch am 10. Juni die Lage vollständig verändert. Zunächst reagierten Bischöfe und Kirchenleitende sehr unterschiedlich. Überwiegend äußerten sie sich sehr zurückhaltend und rieten von der Teilnahme an Demonstrationen und Streiks ab. Mitzenheim hielt sich gerade in Saalfeld auf. Er wurde von Arbeitern der Maxhütte gebeten, zu ihnen zu sprechen. Bei diesem Gespräch forderte er sie vor allem zur Ruhe auf und distanzierte sich gegenüber Staatsfunktionären vom Aufstand. Ähnlich verhielt sich die sächsische Kirchenleitung. Eine Unterstützung von seiten der Kirchenleitung erhielten die Aufständischen somit nicht, was die SED mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Bevor es in den Kirchen überhaupt zu einer Meinungsbildung kam, war der Aufstand schon niedergeschlagen. Zudem waren die Kirchen auf die Umsetzung des "Neuen Kurses" fixiert. Mit den angekündigten Erleichterungen war ihrer Opposition die Spitze abgebrochen. Nun fürchteten sie, dass diese gefährdet seien. Schließlich waren der Hang zu Ruhe und Ordnung und die traditionelle Distanz der Kirchen zur Arbeiterschaft prägend.
Ganz anders sah es an der kirchlichen Basis aus. Die Mehrheit der Aufständischen waren Kirchenmitglieder. In zahlreichen Forderungskatalogen hatten diese auch eine Beendigung der Verfolgung der Christen erlangt. Unter den Demonstranten befanden sich viele Theologiestudenten, kirchliche Mitarbeiter und Pfarrer. In den ländlichen Gebieten, die vom Aufstand erreicht worden waren, beteiligten sich die Pfarrer sehr häufig in führender Position. Erstmals erschien eine deutliche Kluft zwischen den Kirchenleitungen und der kirchlichen Basis. In Thüringen erregte die Verhaftung des Pfarrers Edgar Mitzenheim, der Bruder des Thüringer Bischofs, die Gemüter, der in Eckolstädt mit den Bauern die LPG zerschlug und maßgeblich am Aufstand beteiligt war. Zwar war er vom gleichen konservativen lutherischen Habitus wie sein Bruder und von daher willens, wie viele Thüringer Pfarrer, den SED-Staat als Obrigkeit zu akzeptieren, doch dieser Staat hatte seine eigene Rechtsordnung verletzt und bedrohte Ordnung und Sittlichkeit. Das war ihm Grund genug, den Gehorsam zu verweigern. Er wurde im Juli 1953 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein bischöflicher Bruder distanzierte sich öffentlich von ihm, und als Edgar Mitzenheim aus der Haft entlassen wurde, versetzte ihn die Thüringer Kirchenleitung in den Wartestand.
Eine Woche nach dem Ausbruch des Aufstandes, am 24. Juni, tagte die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen. Hier verständigten sich die Teilnehmer auf einen Brief an den sowjetischen Hochkommissar Semjonow, in dem sie sich für die zahlreichen Verhafteten einsetzten. Abgesehen von diesem Einsatz für Bedrängte, stand die politische Zurückhaltung der Kirchenleitungen gegenüber der SED während und gleich nach dem Aufstand in einem merkwürdigen Gegensatz zu den entschiedenen Äußerungen vor dem Aufstand. Damals hatten die Kirchen immer wieder darauf verwiesen, dass die scharfe Repressionspolitik in die Katastrophe führen musste. Ausgezahlt hat sich die Zurückhaltung nicht, denn schon Ende 1953 nahm die SED den Kirchenkampf praktisch in der alten Form wieder auf.
4. Die Faschismusdiskussion
Das Desaster der SED war so vollständig, dass die Parteiführung in ihrer Propaganda zur Erklärung des 17. Juni auf die ideologische Grundsubstanz zurückgriff. Der schärfste Einpeitscher der SED-Wahrheit, der Chefredakteur des Neuen Deutschland, Herrnstadt (vgl. 13.2), gab nach Vereinbarung mit Politbüromitgliedern und dem sowjetischen Hochkommissar in der Ausgabe vom 18. Juni die Deutung für die kommenden Monate vor. Noch war aus operativen Gründen auch von Fehlern der Partei die Rede. Dies trat später vollkommen zurück. Die Schuld wurde westdeutschen Provokateuren und alten Faschisten zugeschoben, die den 17. Juni als Tag X vorbereitet und inszeniert hätten. Die Aburteilung von Teilnehmern und besonders Hervorgetretenen war damit Teil des antifaschistischen Kampfes und politisch notwendig sowie moralisch erforderlich. Damit konnte auch die Rolle der Arbeiterschaft erklärt werden, die nun als die von den faschistischen Provokateuren Verführte erschien. Die Arbeiter wurden politisch entmündigt und galten erneut als die Masse, die es zu erziehen galt. Da sich keine Indizien fanden, wurden Legenden produziert, wie im Fall der angeblichen KZ-Aufseherin Dorn. Die Masse der Gefangenen wurde per definitionem zu faschistischen Elementen erklärt.
Nicht ungelegen kam der SED, dass unter den Berliner Verhafteten sich eine größere Anzahl Westberliner befand, die während der Unruhen in den Ostsektor geströmt waren. Ebenso lagen der SED die Flugblätter der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, des Ostbüros der SPD und anderer Gruppen vor. Das sollte die Legende des vom Westen organisierten und angeleiteten Putsches stützen. Den zuverlässigen SED-Genossen und den Angehörigen der bewaffneten Formation diente sie zur moralischen Entlastung für ihr Bürgerkriegsverhalten. Zugleich aber bot die Legende allen intellektuellen Opportunisten reichlich Stoff für ihre antifaschistischen Sprachspiele. Sie übertrafen sich in Gleichsetzungen des Aufstandes mit der "Reichskristallnacht", den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten und den faschistischen Mordkommandos. Selbst die namhaften unter den Künstlern und Schriftstellern wie Anna Seghers, Kuba, Bert Brecht und Stefan Heym beteiligten sich an dieser "Faschismusdiskussion", obwohl keiner von ihnen sich die Thesen der SED vollständig zu eigen machte. Der junge Erich Loest konstatierte, dass die "wohlgerüstete Organisation" der Provokateure die Arbeiterschaft nur deswegen vor "ihren Karren" spannen konnte, weil auch die Partei Fehler gemacht hätte. Der SED-Presse bescheinigte er, "sie saßen im Elfenbeinturm und schwangen die rote Fahne". (Kleßmann 1933, 391) Doch auch in dieser scharfen Kritik an der Partei blieb das Volk Objekt.
Nach dem Aufstand nutzten die Künstler die Situation und forderten auch für sich die Umsetzung des "Neuen Kurses", und Brecht wehrte sich gegen eine allzu stupide Instrumentalisierung der Künstler. Tatsächlich zeichnete sich seit 1953 größerer Spielraum ab. Doch dies war nur ein neues Privileg für die Intellektuellen, die sich um so energischer um die Erziehung des Volkes kümmern sollten. Die wenigen, die das Jahr 1953 mit seinen maßlosen Unterdrückungen und seinem Aufbegehren außerhalb der Raster der Faschismuslegende künstlerisch verarbeiteten, durften nicht gedruckt werden. Zu ihnen gehörte Uwe Johnson, der selbst 1953 in Rostock exmatrikuliert wurde, weil er sich gegen die Diffamierung der Jungen Gemeinde ausgesprochen hatte. 1959 ging er nach Westdeutschland. Seit 1953 wurde der Versuch, nicht in die Antifaschismusfalle (vgl. 39.4) der SED zu tappen, zur Voraussetzung oppositioneller Politik.
5. Der 17. Juni und der Westen
Für die SED war es nicht genug, die Drahtzieher des Aufstandes im Westen auszumachen, obwohl die Realität anders aussah. Zwar hatten kleine politische Gruppen von Westberlin aus die Revolte propagandistisch unterstützt und die bundesrepublikanischen und Westberliner Medien als Nachrichtenübermittler eine große Rolle gespielt, zwar nahmen die Westberliner engagiert Anteil an den Vorgängen, was einer von ihnen mit dem Leben bezahlen musste. Auch von den verantwortlichen Politikern gab es eindrückliche Zeichen, Erklärungen und Bekundungen der Solidarität sowie Kritik an der militärischen Unterdrückung, doch der politischen Botschaft des Aufbegehrens gegenüber zeigte sich der Westen hilflos. Nicht einmal das Ausmaß des Aufstandes wurde erfasst. Die Bundesrepublik feierte schließlich den Aufstand als nationales Ereignis und nutzte den zum Feiertag erhobenen 17. Juni in der Systemsauseinandersetzung. Der Aufstand legitimierte die bürgerliche Demokratie in ganz Deutschland, für die im Osten Tausende Menschen schwere Opfer gebracht hatten.
Für die Deutschlandpolitik Adenauers, die auf Westintegration festgelegt war, war der Aufstand eher ein Hemmnis. Die Ablehnung der kommunistischen Wiedervereinigungsvorstellungen war ein Akt der Selbstbehauptung, aber die Intensität des Rufes nach Einheit auf der Grundlage von freien Wahlen, wie sie die Aufständischen forderten, hätte in der Krise der SED mehr Aufmerksamkeit erfordert. Die innere Stabilität der DDR wurde zum Sicherheitsfaktor der Bundesrepublik. Für eine interne DDR-Opposition als ernstzunehmende Größe gab es in diesem Konzept keinen politischen Platz mehr. So tröstete am Abend des 18. Juni der Chefkommentator des RIAS, Egon Bahr, die Ostdeutschen, dass die Relationen zur weltpolitischen Lage hergestellt werden müssten. Mehr konnten sich die KPdSU und die SED nicht wünschen. Die Ostdeutschen haben damals auf Hilfe aus dem Westen gehofft. Als die ausblieb, haben diejenigen, die dort nichts mehr zu erwarten hatten, die DDR verlassen. Oppositionelle und Widerständler mussten die Konsequenzen ziehen, dass wenn überhaupt, sich nur in der DDR und außerhalb der SED das System verändern oder aufheben ließ. Mit der Niederschlagung des Aufstandes waren aber solche Möglichkeiten für eine unabsehbare Zeit verschlossen.
Die Westalliierten in Berlin versuchten am 16. Juni abends zu verhindern, dass im RIAS der Aufruf zum Generalstreik verbreitet wurde. Sie lösten die Demonstrationen an der Sektorengrenze auf. Und als alles vorbei war, organisierte die amerikanische Regierung eine propagandistisch groß angelegte Hungerhilfe für die Ostzone. Grüber predigte dazu am 26. Juli 1953 in der Marienkirche in Berlin: "In den streikenden Arbeitern, in den verzweifelten Müttern, in den hungernden Alten spricht Christus uns an (...) Wenn du aber Almosen gibst, so lass es nicht posaunen wie die Heuchler" (Seidel 1989, 403).
6. Grenzüberschreitender Widerstand
6.1 Ostbüros der Parteien
Bereits seit 1946 gewann für den sozialdemokratischen Widerstand nach der Gründung der SED zeitweise das Ostbüro der in den Westzonen unter Schumacher frei agierenden SPD an Bedeutung. Gleichzeitig bereitete Schumacher die illegale Weiterarbeit der SPD für den Fall der Zwangsvereinigung vor. Dem sollte das Ostbüro dienen, das sich zunächst als "Betreuungsstelle Ost" seit Februar 1946 um die zahlreichen sozialdemokratischen Flüchtlinge kümmerte. Erster Leiter der Stelle war Rudi Dux, ein aus Magdeburg stammender Sozialdemokrat. Seit Mitte 1947 leiteten Siegmund Neumann, ein ehemaliger Kommunist, und Stephan Thomas das Ostbüro. Sie bauten einen Kurierdienst auf, der die Verbindung zu zahlreichen ostdeutschen Sozialdemokraten hielt und die Genossen mit Propagandamaterial und anderen praktischen Hilfen versorgte, wobei vielfach die Erfahrungen aus der illegalen Arbeit der Partei während des Nationalsozialismus genutzt wurden. Der sowjetische Geheimdienst konnte dennoch eine ganze Reihe von Kurieren und Vertrauensleuten verhaften. Unter Druck und Folter wurden Geständnisse erpresst und viele illegale SPD-Gruppen aufgedeckt. Die Verhaftungen gingen allein bis 1949 in die Tausende, und in den Prozessen vor sowjetischen Militärtribunalen wurden fast immer hohe Freiheitsstrafen ausgesprochen. Viele Sozialdemokraten kamen ums Leben, andere blieben verschollen, ihr Schicksal konnte nie aufgeklärt werden. Zumeist genügte zur Begründung des Spionage-Vorwurfs schon ein Besuch in der Arbeitsstelle des Ostbüros in Westberlin oder ein flüchtiger Kontakt mit einem Kurier oder ostdeutschen Vertrauensmann. Größere Öffentlichkeit erlangten die Fälle der Sozialdemokraten Arno Wend, Max Frank, Fritz Drescher sowie Paul und Hermann Kreutzer, die viele Jahre in ostdeutschen Zuchthäusern verbrachten.
Der Plan des Ostbüros, überall in der SBZ Stützpunkte der SPD aufzubauen, musste trotz der allmählichen Verbesserung der konspirativen Arbeitsmethoden unter dem Druck der östlichen Geheimdienstaktivitäten und der politischen Justiz fallengelassen werden. So konnten in der Regel nur noch Einzelkontakte zu Sozialdemokraten aufrechterhalten werden. Das Ostbüro koppelte seine Aufklärungs- und Propagandatätigkeit daher weitgehend von den letzten noch illegal arbeitenden Gruppen der SPD ab. Ähnlich den Sozialdemokraten unterhielten auch die CDU und FDP Ostbüros, die ebenfalls dauerhaft unter den MfS-Aktivitäten zu leiden hatten.
6.2 Gesellschaftliche Gruppen
Zu den wichtigen Widerstandsorganisationen gehörte der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ) (vgl. 19.3), der zunächst 1949 in der DDR gegründet worden war und streng konspirativ arbeitete. In ihm fanden sich Juristen zusammen, die Menschenrechts- und Rechtsverletzungen registrierten und im Westen veröffentlichten. Der Ausschuss hatte in Westberlin sein organisatorisches und logistisches Zentrum. Neben westdeutschen Juristen rekrutierte er sich aus Personen, die aus der SBZ bzw. der DDR geflohen waren, wie dem Hallenser Rechtsanwalt Siegfried Mampel. Der erste Vorsitzende des UFJ war Horst Erdmann. Der Schwerpunkt der Arbeit verlagerte sich jedoch bald nach Westberlin, in der DDR wurden nur Einzelkontakte gepflegt. Die Westberliner Zentrale wurde von Hunderten DDR-Bürgern besucht, die sich rechtlich beraten ließen. Der Ausschuss nahm durch Flugblätter, Konferenzen und Öffentlichkeitsarbeit auch politisch Einfluss, so dass das MfS stets mit großer Energie gegen die UFJ arbeitete. Es kam zu zahlreichen Schauprozessen und Verurteilungen von Menschen, die zum UFJ Kontakt hatten. 1952 wurde der Mitarbeiter des Ausschusses, Walter Linse, nach Ostberlin entführt und bald darauf in der UdSSR ermordet. Die von der DDR aus gesteuerten Verleumdungskampagnen blieben nicht ohne Wirkung im Westen.
Im Herbst 1948 bildete sich in Westberlin die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), die von jungen Menschen getragen wurde, die wie Gerhard Finn in der SBZ inhaftiert gewesen waren oder wie Rainer Hildebrandt, dem ersten Vorsitzenden der KgU, aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus kamen. Die Gruppe begann mit einer Suchdienstkartei für in der SBZ Verschwundene. Bald darauf wurden Menschenrechtsverletzungen erfasst und auch eine Denunziantenkartei angelegt. 1949 wurde die KgU von der Alliierten Kommandatur anerkannt und bekam damit einen besseren Status. Sie verbreitete Flugblätter, betrieb Öffentlichkeitsarbeit und unterhielt zahlreiche konspirative Kontakte in den Osten. Das Berliner Büro erhielt großen Zulauf von Ostdeutschen, die sich am Widerstand beteiligen wollten oder bereits selbst als einzelne oder in Gruppen aktiv waren. Das MfS hat die KgU mit allen Mitteln bekämpft, da deren Informationen das System empfindlich trafen. Im Februar 1952 wurde der KgU-Mitarbeiter Wolfgang Kaiser aus Westberlin entführt und bald darauf hingerichtet.
Die SED-Propaganda versuchte bei möglichst vielen Widerstandsgruppen, die entdeckt worden waren, eine Verbindung zur KgU zu konstruieren und konnte relativ erfolgreich in Westdeutschland das Bild einer kriminellen, gewalttätigen und skrupellosen Organisation etablieren. Die KgU wurde auch für die Vorbereitung und Koordinierung des 17. Juni verantwortlich gemacht, obwohl sie von den Ereignissen überrascht wurde und sich nur mit Flugblättern beteiligte. Organisationen wie der UFJ und die KgU haben den Widerstand in der SBZ/DDR zwar unterstützt und durch ihre Hilfen kanalisiert. Sie konnten aber nur auf dem vorhandenen Widerstandspotential aufbauen.
7. Widerstandstradition
Die Stalinisierung Ostdeutschlands begründete eine 40jährige Kontinuität der Herrschaft der Kommunisten. Sie schlug sich in der institutionellen Stabilisierung der SED und ihres Organisationsgeflechtes sowie in der Konsistenz der kommunistischen Kader oder auch kommunistischer Familientraditionen nieder. Mielke verkörperte die kriminelle Energie der stalinistischen Kommunisten von den dreißiger Jahren bis zum Ende der DDR. Honecker befand sich als entlassener Häftling eines NS-Zuchthauses von 1946 bis zu seinem Sturz 1989 in Spitzenpositionen der Macht. Hans Modrow durchlief die klassische Kaderkarriere vom FDJ-Funktionär der DDR-Gründerzeit über Parteipositionen bis zum Wendepolitiker der PDS. Die Kaderfamilie Gysi war von 1945 bis 1989 operativ in allen Brennpunkten kulturellen und kirchlichen Widerspruchs zur Herrschaftssicherung eingesetzt.
Auf der anderen Seite begründete der Widerstand gegen die Stalinisierung Ostdeutschlands bis 1953 ebenfalls Traditionen, deren Linien allerdings starken Brechungen ausgesetzt waren. Aus dem Widerstand gegen das NS-Regime erwuchs eine antitotalitäre Haltung, die sich gegen die SED richtete und in der DDR weitergeführt wurde. Dafür steht vor allem Bischof Dibelius. Die andere in der DDR oft bestimmende Haltung gegenüber dem stalinistischen Antifaschismus war die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus, die erst Mitte der fünfziger Jahre wieder politische Gestalt gewann, nachdem sie im Zuge der Stalinisierung ins Abseits gedrängt worden war. Für eine legale, liberale, demokratische Opposition fehlte aber schließlich die Voraussetzung, und nur ersatzweise konnte diese Linie noch in den Kirchen wahrgenommen werden. So brach deren Kontinuität allmählich ab. Spezifische Interessen sozialer Schichten, die einen sozialen Widerstand hätten begründen können, konnten sich mit der zunehmenden Entrechtung der Arbeiterschaft, den Enteignungen und der Zerschlagung des Mittelstandes kaum noch politisch artikulieren.
Die SED konnte zwar den politischen und ökonomischen Umbau und die Kontrolle des öffentlichen kulturellen Lebens machtpolitisch durchsetzen. Sie konnte aber das Wertebewusstsein und die geistigen Orientierungen nicht so vollständig verändern, dass das sozialistische Organisationssystem von vollständiger Überzeugung und Loyalität gestützt worden wäre. Der gesellschaftliche Umbau war in dieser Hinsicht lediglich eine Entstrukturierung und Zerstörung der traditionellen sozialen Bindekräfte und der traditionellen Milieus. So musste die SED 1952 ein "Gesetz zum Schutz des Volkseigentums" erlassen, um die einsetzende Selbstbedienungsmentalität im Umgang mit dem Volkseigentum durch rigide Bestrafungen abzufangen. Es kam bis 1953 zu Verurteilungen von einigen tausend Menschen allein aus diesem Grund.
Die Strategie brach aber schon in den fünfziger Jahren zusammen, weil dem Problem mit administrativen Instrumenten nicht beizukommen war. Der Mangel an systemtragenden Werten musste durch die ideologische Legitimation der SED-Herrschaft ausgeglichen werden. In immer neuen Versionen besetzte die SED durch die Inanspruchnahme der sozialistischen Tradition die Werte Gleichheit und Gerechtigkeit. Noch wirksamer war die Behauptung, die SED sei die einzige, authentische antifaschistische Kraft in Deutschland. Damit bekam das Thema Frieden eine große Bedeutung, da es zur entscheidenden Chiffre in der Systemauseinandersetzung als Folge des von Deutschland verursachten Krieges wurde.
Die kommunistischen Staaten kündigten 1949 den Konsens der Kriegsalliierten auf, als sie neben dem internationalen Organ zur kollektiven Sicherheit, der UNO, eine eigene internationale Friedensorganisation, den Weltfriedensrat, schufen. Im Mai 1949 wurde als nationale Organisation das Deutsche Komitee der Friedenskämpfer gegründet, das sich später in Friedensrat der DDR umbenannte. Dieser von der SED abhängige Friedensrat wurde zum Träger einer "einheitlichen" Friedensbewegung erklärt. Die einseitig ausgerichtete Friedenspropaganda, besonders im Zusammenhang mit dem Koreakrieg seit 1950, wurde zum Instrument der Unterwerfung. Tatsächliche oder willkürlich herbeidefinierte Gegnerschaft zur SED wurde zur "Boykott-, Kriegs- und Mordhetze" erklärt, wie es in dem berüchtigten Artikel 6 der DDR-Verfassung von 1949 hieß. Er war über Jahre die strafrechtliche Grundlage der Willkürjustiz. Unmittelbare Folge dieser Tendenz war die lange Zeit negativ besetzte Bedeutung des Wortes Frieden in der DDR. In kirchlichen Kreisen war bis in die siebziger Jahre das Wort "Friedens-Pfarrer" ein Synonym für Kollaborateure. Politische Gegner mussten sich des ideologischen Zugriffs entwinden, der Entwertung von Sprache und Worten erwehren und die geistig-kulturellen Stützen der SED angreifen. Zwar wurde der Versuch, in der DDR politische Gegnerschaft auf eine rechtliche Grundlage zu stellen, nie ganz aufgegeben, aber die politische Auseinandersetzung in der DDR verlagerte sich seit Anfang der fünfziger Jahre auf die kulturelle und zivilisatorische Ebene.
Die geistige Auseinandersetzung musste angesichts der uneingeschränkten Macht der SED seit Ende der vierziger Jahre den von der Partei geschaffenen Bedingungen Rechnung tragen und konnte deren Legitimation entweder aus den Voraussetzungen der marxistischen Theorie kritisieren oder durch die Verteidigung traditioneller geistiger Werte hinterfragen. Beide Linien, die sich vielfältig ineinander verschlangen, durchzogen die Widerstandsgeschichte von 1945 bis 1989. Mit den Metaphern Gerechtigkeit und Frieden wurde um die kulturelle und politische Hegemonie gekämpft. Es war im Grunde die uralte Auseinandersetzung um den Ort des Individuums in der Gesellschaft, um seine Freiheit und seine Rechte. Als Trägerin dieser Auseinandersetzung kam nach der Beseitigung sozialer Schichten nur die von der SED selbst herangezogene Intelligenz in Frage. Tatsächlich erwuchsen der SED später durch ideologische Abweichungen und geistige Emanzipation aus dieser Gruppe wichtige Gegner.
Anfang der fünfziger Jahre war aber die Kirche als nichtangepasste Institution mit einer eigenen Weltanschauung das wichtigste Reservoire des geistigen Widerspruchs. Eine größere Anzahl einzelner Akteure, die damals aus unterschiedlichen Gründen in politische Konflikte verstrickt waren, begannen in dieser Zeit ihre widerständige und oppositionelle Karriere, die weit in die DDR-Zeit oder bis zum Ende der SED-Herrschaft reichte. Dazu zählte der Theologe Ulrich Woronowicz (vgl. 39.3.1), der 1950 in der studentischen liberalen Opposition in Rostock aktiv war und nach einem lebensrettenden Exil zwischen 1950 und 1953 in Westberlin bis zum Ende der DDR zur antitotalitären Opposition gehörte. Der Theologe Hans-Jochen Tschiche (vgl. 39.,2.2) kam nach einer FDJ-Episode in den vierziger Jahren in Konflikt mit der SED, als sich der umgeschulte Neulehrer weigerte, in eine kommunistische Massenorganisation einzutreten. Seit dieser Zeit war er bis 1989 an allen oppositionellen Aktivitäten der kirchlich geprägten Opposition beteiligt. Andere nahmen aus einer Opfersituation heraus schon seit dieser Zeit bis 1989 den Widerstand auf wie etwa der Theologe Erich Kranz (vgl. 57.2.2.3), der 1949 als Jugendlicher verurteilt wurde und bis 1956 in Bautzen einsaß, sich in der Opposition engagierte.
Unter den evangelischen Theologen gab es dabei vielfältige oppositionelle Familientraditionen. So wurde der bereits in Unterschichtenmilieus der fünfziger Jahre lebende Pfarrer Walter Schilling (vgl. 23.5), dessen Vater BK-Pfarrer war, Ende der sechziger Jahre zum Organisator von sozial Ausgegrenzten und auch seine Tochter Katharina gehörte wie er selbst zur kirchlichen Opposition in den achtziger Jahren. Familiäre Traditionen konnten oppositionelle Aktivitäten aber auch im Wege stehen oder diesen eine bestimmte Richtung geben. Gerade in der protestantischen Opposition hatten viele Akteure die NS-Vergangenheit ihrer Eltern aufzuarbeiten und mussten sich der bindenden Kraft des Antifaschismusanspruches der SED entledigen und eine eigene Antwort auf die Schuldfrage finden.
Für viele Formen des Widerstandes sorgte die SED schon seit den ersten Jahren ihrer Herrschaft selbst. Immer wieder begehrten einzelne und Gruppen spontan auf, oft aus Verzweiflung und tiefer Verletzung, und ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen, und initiierten widerständigen Aktionen. Auch die Inhalte und Ziele organisierter und zielgerichteter oppositioneller Politik bestimmte die SED selbst, da ihre Herrschaft von Beginn an Recht und Menschenrecht, ökonomische, soziale und politische Beteiligung, Meinungs- und Gewissensfreiheit und nationale Selbstbestimmung einschränkte.
Während des Zusammenbruchs der SED-Herrschaft 1989 konnte die Brücke zu den oft durch Verfolgung zum Schweigen gezwungenen Oppositionellen der ersten Stunde geschlagen werden. In den Monaten der Herbstrevolution 1989 meldeten sich Menschen, die in den vierziger und fünfziger Jahren Widerstand geleistet hatten. In Berlin und Leipzig kamen zur neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) mehrere ältere SPD-Genossen. Auch traten politisch Verfolgte der frühen DDR-Zeit in anderen Oppositionsbewegungen auf. Als die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik gefallen war, kehrten zahlreiche in den Westen vertriebene Gegner zurück, die sich in den vierziger Jahren der Stalinisierung Ostdeutschlands widersetzt hatten.
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