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Tote des 17. Juni 1953
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Vermeindliche und ungeklärte Todesfälle: B e r l i n

Als erster Toter des Volksaufstandes gilt eine unbekannte Person, die am Vormittag des 17. Juni 1953 vor dem Zeughaus Unter den Linden von einem Panzerspähwagen oder Schützenpanzerwagen überrollt worden sein soll. Um 10.25 Uhr meldet ein am Strausberger Platz postierter Volkspolizist namens Schulz dem Operativstab der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, was ihm zu Gehör gekommen ist: "Ihm wurde vom Marx-Engels-Platz mitgeteilt, dass ein Schützenpanzerwagen der Freunde einen jungen Mann überfahren haben soll, der tot sein soll. Genaues nicht bekannt." (1)

Der "General-Anzeiger" berichtet: "Am Alexanderplatz wurde Mittwoch Vormittag von durch die Menge rasenden sowjetischen Spähwagen ein demonstrierender Eisenbahner des Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) Revaler Straße überfahren. Er war sofort tot. Der Demonstranten bemächtigte sich ungeheure Empörung über diesen Zwischenfall." (2)

Demonstranten errichten an dieser Stelle spontan ein provisorisches Holzkreuz aus Latten. Eine Bestätigung der Meldung des Volkspolizisten oder des Zeitungsberichts durch offizielle Quellen oder Augenzeugen gibt es bis heute nicht. Das Kreuz, immerhin, taucht in den Berichten der Volkspolizei auf: "13.50: Ein Mitglied des Bundesvorstandes des FDGB meldet, dass unweit der Marx-Engels-Brücke am Museum für Deutsche Geschichte ein Holzkreuz errichtet wurde mit der Aufschrift: ‚Von den Sowjets ermordet.‘" (3) Und an anderer Stelle: "Am Museum für Deutsche Geschichte wurde ein Holzkreuz aufgestellt, an deren (sic!) Stelle eine Person überfahren sein soll, von den Sowjets ermordet. Es wird gebeten, dieses Holzkreuz wieder zu entfernen." (4) Das Kreuz ist tatsächlich bald von bewaffneten Kräften entfernt worden.

Über den nicht identifizierten toten RAW-Beschäftigten ist in den zurückliegenden 50 Jahren mehr nicht bekannt geworden. Möglicherweise hat sich der für tot Gehaltene doch noch entfernen können. Die West-Berliner Polizei befragte einen 23-jährigen Ost-Berliner Beschäftigten der Reichsbahndirektion Berlin zu dem Vorfall. (5) Dieser hatte sich am 17. Juni, von einem sowjetischen Panzerspähwagen in der Nähe des Lustgartens schwer verletzt, in das Jüdische Krankenhaus in West-Berlin geschleppt. Als Angehöriger eines Bautrupps hatte er mit allen übrigen Kollegen die Arbeit in Köpenick ruhen lassen, um sich den Demonstrationen anzuschließen. Auf dem Weg vom Alexanderplatz zum Lustgarten, berichtete er der West-Berliner Polizei, seien wiederholt sowjetische Panzer vom Typ T-34 in unmittelbarer Nähe an den Demonstranten vorbeigefahren.

Ein Polizei-Protokoll hält als Ergebnis seiner Befragung fest: "Plötzlich kamen aus Richtung Königstraße 2 russ. Panzerspähwagen in rücksichtsloser Fahrt auf die Demonstranten [am Lustgarten, d.Vf.] zu, die diese mit Johlen und Pfeifen empfingen. Durch die in die Menge fahrenden Panzerspähwagen wurde erstere zusammengedrängt und der Vorgenannte gegen die vordere Kante eines Panzerspähwagens gedrückt. Durch die Wucht des Anpralles überschlug er sich, wobei er mit dem Gesicht auf das Fahrzeug aufschlug und sich außerdem eine linke Wadenbeinfraktur und eine Fraktur im linken Handgelenk zuzog. Er schleppte sich mit Unterstützung von Arbeitskollegen bis zur Post in der Königstraße, wo er notdürftig verbunden wurde.

Als er hörte, dass Einweisungen in Krankenhäuser nur über die Volkspolizei möglich seien, ließ er sich mit Hilfe eines Motorrades bis in die Nähe der Sektorgrenze am Vinetaplatz bringen, wo er sich dann durch weitere Unterstützung von Kollegen zu Fuß bis zu einem West-Berliner Arzt schleppte und anschließend dem Jüdischen Krankenhaus zugeführt wurde. Sonstiges kann Obengenannter, der unterwegs zeitweilig bewusstlos war, ebenfalls nicht machen (sic!)." (6) Möglicherweise ist dieser verletzt Überlebende identisch mit dem vermeintlich Getöteten.

Eine unbekannte Person ist als Kontrollposten der Kasernierten Volkspolizei an der Sektorengrenze zwischen Neukölln und Treptow eingesetzt. Er wird am 21. Juni 1953 gegen 24.00 Uhr von einem Kameraden der KVP erschossen, weil er beim Anruf nicht stehen bleibt. (7) Dass er in den Westen fliehen wollte, ist wahrscheinlich. Was die Morduntersuchungskommission herausgefunden hat, die laut Volkspolizeibericht vor Ort war, bleibt ebenso offen wie die Personalien und die Beweggründe des getöteten Volkspolizisten.

Vier Todesfälle, von denen Bernd Priesemuth meinte, sie "könnten im Zusammenhang mit dem Volksaufstand gestanden haben", sind bis heute nicht aufgeklärt (8): Der Feinmechaniker Erich Pannewitz, geboren am 25.8.1891, stirbt am 17. Juni 1953 im Hedwigs-Krankenhaus, wo er am selben Tag mit einem komplizierten Schädelbasisbruch und Gesichtsverletzungen eingeliefert worden ist. (9) Der Volkspolizist Wolfgang Naumann aus Arnstadt wird am 17.1.1934 geboren und stirbt am 23.10.1953 im sowjetischen Hospital Berlin-Karlshorst; "Brustdurchschuss durch Karabiner" ist auf dem Totenschein vermerkt. (10) Der Volkspolizist Ulrich Manske aus Schönefeld bei Angermünde wird am 6.4.1934 geboren und stirbt am 28.8.1953 im Krankenhaus Berlin-Köpenick. Als Todesursache ist "Erschießen" vermerkt. Er ist auf dem Friedhof seines Heimatortes Schönefeld beigesetzt. (11) Der Steinsetzer Richard Prey aus Berlin (letzte Adresse: Muskauer Straße 39) wird am 4.10.1908 geboren, er stirbt am 18.12.1953 im Krankenhaus Berlin-Friedrichshagen. Als Todesursache wird "Bauchschuss" vermerkt. Er ist in Frieden/Nordend beigesetzt. (12) Nachforschungen zu diesen Toten wie dem unbekannten kasernierten Volkspolizisten müssten einen Zusammenhang mit dem 17. Juni allerdings erst beweisen, bevor man die fünf Toten dem Volksaufstand zurechnen kann.

Diese Feststellung gilt auch für folgende Behauptung Priesemuths: "In Berlin wurden auch 23 sowjetische Soldaten erschossen, die sich geweigert hatten, auf Deutsche zu schießen." (13) Bis heute gibt es keinen durch ein Dokument oder Augenzeugen gesicherten Hinweis, der es rechtfertigen würde, diese Behauptung als Tatsache darzustellen. (14)




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1 Lagemeldungen des HVDVP-Operativstabs vom 16. und 17. Juni 1953, in: BA, DO-1/11.0/304, Bl. 99.
2 General-Anzeiger, 17.6.1953. 3
3 VPI Mitte, Lagefilm vom 17. Juni 1953, 8.00 Uhr – 18. Juni 1953, 8.00 Uhr, o.O., in: PHS/Polpräs. Berlin, PdVP/Stab Operativ/Rapporte, 15.-30.6.1953, Nr. 8012.
4 Lagebericht Nr. 168 des Operativstabes PDVP vom 17.6.1953, in: PHS/Polpräs. Berlin, PdVP/Stab Operativ/Rapporte, 15.-30.6.1953, Nr. 8012.
5 Polizeiinspektion Wedding/Polizeirevier 46/47, Betr.: Anläßlich der Unruhen im Ostsektor verletzte Personen, Berlin, den 19. Juni 1953, in: PHS/Polpräs. Berlin, Bestand 17. Juni 1953.
6 Ebd.
7 Vgl. Lagebericht Nr. 172 des Operativstabes PDVP vom 21.6.1953, in: PHS/Polpräs. Berlin, PdVP/Stab Operativ/Rapporte, 15.-30.6.1953, Nr. 8012.
8 Bundesministerium für Familie und Senioren, Deutsche Opfer der Stalinistischen Gewaltherrschaft. Die Toten, Informationsbericht, 3. Lieferung, Bearbeiter: Bernhard Priesemuth, vorgelegt Mai 1992, Berlin 1992, Bl. 50 (im Folgenden zit. als: Priesemuth, Die Toten). – Hervorhebung v. d. Vf.
9 Ebd. Bl. 50.
10 Ebd., Bl. 51.
11 Ebd., Bl. 51.
12 Ebd., Bl. 51.
13 Ebd., Bl. 51.
14 "Ein sowjetischer Oberst, der ab 1959 in der DDR stationiert war, behauptete, er habe ein SED-Dokument gesehen, in dem neben den 18 Sowjetsoldaten von Magdeburg die Erschießung von 23 russischen Soldaten im Berliner Raum belegt sei. Auch dieses Dokument konnte jedoch bis heute nirgends gefunden werden", schreibt etwa Torsten Diedrich (in: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003, S. 170/171). Ähnlich zurückhaltend äußern sich Stefan Wolle und Ilko-Sascha Kowalczuk (in: Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR, Berlin 2001, S. 178).


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