|
|
Eberhard von Cancrin
8.9.1910 - 18.6.1953
gest. zu unbekannter Stunde in Leipzig oder in Espenhain
Eberhard von Cancrin wird am 8. September 1910 in Rothspalk/Mecklenburg geboren. In dem kleinen Dorf zwischen Güstrow und Teterow besitzen die Eltern einen Gutshof. In der Folge von Inflation und Weltwirtschaftskrise geraten die von Cancrins in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die sie dazu bewegen, 1929 nach Chile auszuwandern.
Der Sohn Eberhard kehrt mit gleichaltrigen Landsleuten im Frühjahr 1939 nach Deutschland zurück und arbeitet zunächst bei den Heinkel-Flugzeugwerken in Rostock. Hier lernt er seine spätere Frau Ruth kennen. Sie heiraten 1940 und ziehen in die nähe von Breslau (Schlesien). Ein Jahr später wird Tochter Gabriele geboren. Wenig später wird er zur Deutschen Polizei einberufen. Das erspart ihm 1945 die Kriegsgefangenschaft. Nach dem Kriegsende verschlägt es ihn zunächst in die Gegend von Kassel. Ziel aber ist seine Familie, die seit Februar 1945 kriegsbedingt in Geithain lebt. Hier arbeitet er kurzzeitig bei der neugebildeten Ortspolizei, ehe er in der Brikettfabrik Espenhain, einer Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG), Arbeit als Mühlenwärter findet. 1950 wird die zweite Tochter Christine geboren. (1)
Am 17. Juni 1953 ist die sowjetische Präsenz in den SAG-Betrieben verstärkt worden. Zeitzeugen erinnern sich, dass an diesem Tag in Espenhain "bald an jedem Tor ein Posten mit MPi" gestanden hätte. (2) Nachdem gegen 13.30 Uhr der Arbeiterzug aus Leipzig eingetroffen ist, entsteht im Kombinat Espenhain "eine zugespitzte Situation". (3) In Leipzig wird schon seit den Morgenstunden gestreikt. In der Brikettfabrik II trifft man sich kurz nach Schichtbeginn in der "roten Ecke" zu einer bereits länger geplanten Gewerkschaftsversammlung, die den Funktionären allerdings zunehmend aus dem Ruder läuft. Zwei Leipziger Arbeiter erheben Forderungen, die an diesem Tag überall in der DDR die Menschen auf die Straßen bringen: Solidarität mit den Streikenden, Sturz der Regierung und freie Wahlen, Freilassung der aus politischen Gründen Inhaftierten, Senkung der HO-Preise.
Etwa 100 Mitarbeiter unterschreiben eine entsprechende Resolution, zu einem Streik kommt es im streng überwachten SAG-Betrieb Espenhain aber nicht. Auf dieser Gewerkschaftsversammlung meldet sich auch Eberhard von Cancrin zu Wort und vertritt offenbar die Interessen der protestierenden Arbeiter. Was er im Einzelnen sagt, ist nicht überliefert, in den MfS-Berichten wird er nicht als "Wortführer" genannt. Dennoch wird er zusammen mit sieben anderen sogenannten "Rädelsführern" von den sowjetischen Wachmannschaften abgeführt. Während die anderen bis Anfang Juli wieder zu ihren Familien zurückkehren können, bleibt von Cancrin verschollen. (4)
Da Eberhard von Cancrin nicht wie gewohnt nach Hause kommt, fragt seine Frau erst im Betrieb, dann bei der Polizei in Geithain und Borna, zuletzt bei der Mordkommission in Leipzig nach, erhält aber keinerlei Auskunft. Auch die Belegschaft der Brikettfabrik bedrängt den Betriebsleiter am Mittag des 18. Juni Auskunft über den Verbleib der verhafteten Kollegen bei der sowjetischen Generaldirektion zu verlangen. (5) Erst am 8. August erhält die Ehefrau die Nachricht, dass ihr Mann am 18. Juni verstorben sei und die Urne mit seiner Asche abgeholt werden könne. (6)
Die Umstände des Todes sind noch immer weitgehend ungeklärt. In einem Bericht des MfS ist vermerkt, dass von Cancrin wegen der "Aufstellung von Forderungen" an die Untersuchungsabteilung der Staatssicherheit eingeliefert worden sei. (7) Die SED-Kreisleitung Borna berichtet, dass Eberhard von Cancrin zunächst beim MfS einsaß und später von der Kreisdienststelle Borna "wegen Aufwiegelung und Aufruhr (...) den sowjetischen Dienststellen übergeben" wurde. (8) In einem Bericht der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit wird festgehalten, dass er "durch die Freunde erschossen" worden sei. (9)
Zeitzeugen berichten, von Cancrin sei von den Russen in einem Jeep auf die Hochkippe Mölbis bei Espenhain verfrachtet worden und von dort nicht zurückgekehrt. (10)
Laut Sterbeurkunde ist er "am 18. Juni 1953 zu unbekannter Stunde in Leipzig verstorben". Diese Urkunde wurde allerdings erst am 18. August ausgestellt. Im Einäscherungsbuch des Krematoriums ist "Herzversagen" angegeben.
Im Aktenvermerk der Kriminalpolizei über die Einäscherung von sieben Leipziger Todesopfern am 20. Juni wird Eberhard von Cancrin unter der Nr. 5 als "unbekannt" aufgeführt. (11) Erst am 15. Juli - vier Tage nach Aufhebung des Kriegsrechtes in Leipzig - gibt der Staatsanwalt die Urne zur Bestattung frei. Sie wird am 19. August vom Leipziger Südfriedhof an den Friedhof in Geithain überführt. (12) Die Urnenbeisetzung in Geithain ist an die Auflage gebunden, dass nicht mehr als 15 Personen an der Trauerfeier teilnehmen. (13) Die Überwachung der Trauerfeier wurde dem Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) Geithain übertragen. (14)
Die Witwe des Erschossenen wird zwei Jahre später im Überprüfungsvorgang "Canalie" von der Staatssicherheit beobachtet. (15) In einem Zwischenbericht heißt es: "Ihr Ehemann wurde als Provokateur (Werk Espenhain) erschossen." (16) Der Inoffizielle Mitarbeiter "Bärbel" berichtet über "die Frau des am 17.6.1953 hingerichteten Provokateurs" (17) und der Inoffizielle Mitarbeiter "Marion" über den "am 17.6.1953 als Rädelsführer hingerichteten von Cancrin". (18) Ein IM "Hans Meier" berichtet am 17. September 1955 gar, er habe in "der Grünen Aue in Geithain" gehört, dass ein leitender Mitarbeiter aus dem Werk Espenhain "am 17.6.1953 Cancrin als Spion hingestellt haben" solle, um eigene Vergehen zu vertuschen. (19) Im Zusammenhang mit der Klärung dieses Vorwurfs erklärt der zuständige Stasi-Offizier in Espenhain, dass von Cancrin am 17. Juni 1953 von den Freunden abgeholt worden wäre, weil er "im Presshaus zu Espenhain den Streik auslösen" wollte. (20)
Auch wenn offenbar schon in den fünfziger Jahren in Geithain alle von einer bewußten Erschießung des Eberhard von Cancrin durch die sowjetische Besatzungsmacht ausgehen, bleiben die wahren Hintergründe seines Todes bislang im Dunkeln. Die Einsicht in russische Archive könnte hier vielleicht noch weiterhelfen. In der Grab- und Gedenkanlage für die Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft im Urnengarten Nord des Leipziger Südfriedhofs ist der Name Eberhard von Cancrin gemeinsam mit anderen Opfern seit 1994 auf einem Gedenkstein vermerkt. (21)
Bittere Ironie der Geschichte: Ein Vorfahre, Franz Ludwig Cancrin, folgte einem Ruf Katharinas II. von Russland, um die bedeutende Saline von Staraja Russa zu leiten. Er verstarb in Petersburg. Dessen Sohn, Georg Graf von Cancrin war 1844 Finanzminister des russischen Zaren. (22)
|
|
|
---
1 |
Gottfried Senf, In memoriam Eberhard von Cancrin, in: Geithain Journal II - Beiträge zur Stadt- und Schulgeschichte (erscheint im Dezember 2004; für Juni 2004 ist ein Vorabdruck in der Leipziger Volkszeitung geplant). Vgl. auch Gespräch mit Gabriele Martin, der Tochter von Eberhard von Cancrin, am 10.2.2004 (Archiv Bürgerkomitee Leipzig e.V.). - Heidi Roth zufolge ist er als "Dienstverpflichteter" in den SAG-Betrieb nach Espenhain gekommen (vgl. Heidi Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999, S. 155). |
2 |
Hofmann, Die Kohlearbeiter, S. 105, zit. nach: Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 153.
|
3 |
SED-KL Borna, KPKK vom 20.8.1953, in: SächsStAL, SED IV/4/02/106, zit. nach: Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 154. |
4 |
Vgl. Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 154 ff.; sowie Senf, In memoriam Eberhard von
Cancrin. |
5 |
Ermittlungsbericht der KDfS Borna "Betr. Vorkommnis am 18.6.1953, gegen 13.55 Uhr, Brikettfabrik Kombinat Espenhain" vom 18.6.1953, Kopie aus bisher nicht wieder aufgefundenen Akten. |
6 |
Senf, In memoriam Eberhard von Cancrin. |
7 |
Undatierter Berichtsauszug (vermutlich Fernschreiben), Kopie aus bisher nicht wieder aufgefundenen Akten der BStU, Ast. Leipzig. |
8 |
Tatsachenmaterial der SED-KL Borna "über faschistische und andere reaktionäre Kräfte" vom 25.6.1953, in: SächsStAL, SED IV/4/02/125, unpag. Bestätigt wird diese Übergabe auch durch einen Bericht KDfS Borna über die "Liquidierung von Agenten des 17.6.1953, o.D., in: BStU, Ast. Leipzig, Leitung 00019, Bd. 2, Bl. 86, zit. nach Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 155. |
9 |
Bericht der BVfS Leipzig über die "Überprüfung und Anleitung der Kreisdienststelle Borna am 18. und 24.9.1953, in BStU, Ast. Leipzig, Leitung 00019, Bd. 2, Bl. 101, zit. nach: Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 155. |
10 |
Nicos Natsidis in der Leipziger Volkszeitung vom 17.6.2003, S. 23. |
11 |
Aktenvermerk der BDVP Leipzig vom 20.6.1953, in: SächsStAL, BDVP 24/42, Bl. 367. m Kremationsbuch des Leipziger Südfriedhofs ist die Einäscherung um 6.10 Uhr vermerkt. Die Erfassung erfolgte allerdings erst am 18.8.1953 unter der Einäscherungsnummer 138974. Die entsprechende Bescheinigung des Friedhofsamtes datiert bereits vom Vortag.
|
12 |
Aktenvermerk der BDVP Leipzig vom 15.7.1953, in: SächsStAL, BDVP 24/42, Bl. 368. |
13 |
Senf, In memoriam Eberhard von Cancrin. |
14 |
Aktenvermerk der BDVP Leipzig "Freigabe der Urnen zur Beisetzung" vom 22.8.1953, in: SächsStAL, BDVP 24/42, Bl. 371. Die Grabstelle auf dem Friedhof in Geithain im Bereich F (links vom Hauptweg) existiert nicht mehr; der Bereich wurde neu belegt.
|
15 |
Überprüfungsvorgang "Canalie", Reg.-Nr. 162/55, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56. |
16 |
Bericht der BVfS Leipzig "über die durchgeführte Überprüfung der KD Geithain" vom 28.9.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Leitung 00048, Bd. 2, Bl. 31. Ebenso heißt es in der Begründung für das Anlegen des Vorgangs: "Der von Canrin wurde am 17.6.1953 als Provokateur erschossen", vgl.: Beschluß über das Anlegen eines Überprüfungsvorganges vom 27.6.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56, Bl. 18.
|
17 |
Bericht des GI "Bärbel" der KDfS Geithain vom 19.4.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56, Bl. 16. |
18 |
Bericht des GI "Marion" der Abteilung XIII der BVfS Leipzig, Anschreiben vom 22.3.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56, Bl. 13/14. |
19 |
Bericht des GI "Hans Meier" der KDfS Geithain vom 17.9.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56, Bl. 30. |
20 |
Aktennotiz zur Überprüfung des GI-Berichtes "Hans Meier" im Werk Espenhain vom 10.10.1955, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AOP 180/56, Bl. 31. |
21 |
Schreiben des Grünflächenamtes Leipzig, Abt. Friedhöfe, an das Bürgerkomitee Leipzig e.V. vom 2.2.2004, sowie mündliche Auskünfte. - Siehe auch: Kaminsky, Orte des Erinnerns, S. 323/324. |
22 |
Vgl. Meyers Konversations-Lexikon, Ausgabe 1888, Bd. 3, S. 777. |
|
|
|