|
|
Willi Göttling
14.4.1918 - 18.6.1953
hingerichtet am Nachmittag in Ost-Berlin an unbekanntem Ort
Willi Göttling wird am 14. April 1918 geboren. Seit 1941 verheiratet, wohnt das Ehepaar Göttling am 16. Juni 1953 mit zwei schulpflichtigen Töchtern im Alter von sechs und sieben Jahren im Westteil der Stadt. Bis 1952 hat Willi Göttling als Chauffeur bei einer Seifengroßhandlung gearbeitet, dann wird er arbeitslos. Nach Auskunft seiner Mutter verlässt er am Morgen des 16. Juni die Wohnung, um wie immer am Dienstag zum Arbeitsamt in die Sonnenallee zu fahren und sich seine Unterstützung abzuholen. Zum Mittagessen habe er sich sein Lieblingsgericht, Fleischklößchen mit Blumenkohl, bestellt. (1)
Ein Augenzeuge berichtet elf Tage später, dass er am Mittag des 17. Juni mit Willi Göttling vom Potsdamer Platz aus in den Ostteil gelaufen wäre, dabei habe dieser ihm berichtet, dass er bereits am Vorabend von der Volkspolizei festgenommen worden sei und die Nacht auf der Wache verbracht habe. Mit einem Demonstrationszug seien sie dann zusammen durch Ost-Berlin gezogen und gegen 13.00 Uhr in der Leipziger Straße angekommen, niemand habe zu diesem Zeitpunkt etwas über den inzwischen verhängten Ausnahmezustand gewusst. Vor dem Sitz der DDR-Regierung sei ihnen eine lange Sperrkette der Kasernierten Volkspolizei entgegen gekommen. Wahllos seien Männer und Frauen verhaftet worden, so auch Willi Göttling. (2) Was mit Willi Göttling dann geschieht, ist bislang nur bruchstückhaft bekannt.
Es gibt einen Vermerk des MfS, dass man ihn am 18. Juni um 16.00 Uhr "an die Freunde Zimmer 21" übergeben habe. (3) Ein West-Berliner Student mit Namen Gottschling, den man am 17. Juni ebenfalls inhaftiert hat, erinnert sich, dem am Kopf verletzten Willi Göttling in der Haft begegnet zu sein. Er sei offenbar geschlagen worden und habe deshalb einen Stirnverband getragen. In den nächsten Tagen sei er, Gottschling, mehrfach als "Göttling" angesprochen worden, weshalb ihn die Frage quäle, ob vielleicht er statt des Willi Göttling hätte hingerichtet werden sollen. (4)
Von Nachbarn erfährt die Mutter am 18. Juni, dass einer Radiomeldung zufolge ihr Sohn erschossen worden sei. Am selben Tag wird eine "Bekanntmachung des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin" in den DDR-Medien verbreitet: "Hiermit wird bekanntgegeben, dass Willi Göttling, Bewohner von West-Berlin, der im Auftrage eines ausländischen Aufklärungsdienstes handelte und einer der aktiven Organisatoren der Provokationen und der Unruhen im sowjetischen Sektor von Berlin war und an den gegen die Machtorgane und die Bevölkerung gerichteten banditenhaften Ausschreitungen teilgenommen hat, zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Das Urteil wurde vollstreckt. Militärkommandant des sowjetischen Sektors von Berlin. gez. Generalmajor Dibrowa." (5)
Nachdem die Moskauer Führung am 17. Juni beschlossen hatte, den Ausnahmezustand zu verhängen und die Menschenmassen mit allen Mitteln zu zerstreuen, wurden Abschreckungsmaßnahmen angeordnet, nämlich die "Rädelsführer" zu verhaften und standrechtliche Erschießungen vorzunehmen. Der damalige Hohe Kommissar der UdSSR für Deutschland, Wladimir S. Semjonow, erinnert sich: "Um 11.00 Uhr erhielten wir die Weisung aus Moskau, das Feuer auf die Aufrührer zu eröffnen, militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen. Die Mitteilung über die Exekutionen sollten in der Stadt ausgehängt werden. (...) Die Plakate an den
Litfasssäulen hatten einschüchternde Wirkung. Es gelang uns, die Flamme zu löschen, bevor sie sich ausbreitete. Der 'Tag X' fand nicht statt." (6) Die Einschüchterung der ostdeutschen Bevölkerung mittels einer von Moskau verordneten Erschießungsquote war also das Hauptmotiv.
Russischen Quellen ist zu entnehmen, dass sich Göttling bereits am 16. Juni an der Demonstration der Bauarbeiter beteiligt und bei der Eroberung eines Lautsprecherwagens der FDJ mitgewirkt haben soll. (7) In seinen Vernehmungen habe er ausgesagt, am 16. Juni auf dem West-Berliner Arbeitsamt einem amerikanischen Offizier vorgeführt worden zu sein, der die Verlängerung seiner Arbeitslosenunterstützung davon abhängig gemacht habe, dass er sich an den "Provokationen" im "demokratischen Sektor" (Ost-Berlin) beteilige. Göttling habe eingeräumt, sich daraufhin in den Ostsektor begeben und am Rosenthaler Platz zusammen mit anderen Demonstranten einen Lautsprecherwagen demoliert und okkupiert zu haben. Der Wahrheitswert derartiger "Geständnisse" ist allerdings mehr als zweifelhaft.
"Am 18. Juni 1953", heißt es in der russischen Quelle weiter, "wurde die Anklageschrift verfaßt, auf deren Grundlage Göttling der Verbrechen nach §§58-2, 58-6, 58-8 und 58-11 des Strafgesetzbuches der RSFSR (Blatt 48-49 der Akte) angeklagt wurde. Die Anklageschrift wurde vom Stellvertreter des Bevollmächtigten des MVD [Innenministerium, d. Vf.] der UdSSR in Deutschland bestätigt." - Allerdings nicht von der Militärstaatsanwaltschaft. Deren Einschaltung hält die sowjetische militärische Führung offenbar für überflüssig. Es gibt keine Verhandlung und für Willi Göttling keine Möglichkeit der Verteidigung, denn in der Quelle heißt es weiter: "Anordnungen über eine Übergabe der Strafsache an die Militärstaatsanwaltschaft zwecks Bestätigung der Anklageschrift gibt es in den Materialien der Strafsache nicht."
Nicht ein Militärtribunal, sondern die militärische Führung der Gruppe der sowjetischen Besatzungsmacht selbst entscheidet über das Schicksal des 35-jährigen Familienvaters: "Gemäß Anweisung des Militärrats der Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland vom 18. Juni 1953 wird Göttling, Willi, Jahrgang 1918, zur Höchststrafe durch Erschießen verurteilt", so die Quelle, und es folgt der Satz: "In der Anweisung heißt es: 'Göttling, Willy, geboren 1918, ist der Höchststrafe durch Erschießen zu unterziehen. Das Urteil ist unverzüglich zu vollstrecken'." (8)
Wann und wo das Urteil vollstreckt wurde, ist bisher nicht bekannt. Trotz des Ausnahmezustandes kommt es in Ost-Berliner Betrieben zu Solidaritätsaktionen. Der sowjetische Militärkommandant vermerkt am 19. Juni, dass im Waggoninstandsetzungswerk Treptow und in einem Stahlwerk in Lichtenberg die Fahnen "anlässlich des erschossenen Willi Göttling" auf Halbmast gesetzt worden seien. "Die Fahnen wurden von der Volkspolizei abgenommen." (9)
Vergebens bemüht sich der West-Berliner Senat um den letzten Wunsch der Familie Göttling für ihren unschuldig erschossenen Angehörigen: die Überstellung des Leichnams. Der Sarg, der während der Trauerfeier des West-Berliner Senats auf dem Rudolph-Wilde-Platz vor dem Rathaus Schöneberg am 23. Juni 1953 an den Toten erinnert, bleibt leer. Auf dem Friedhof Seestraße wird Willi Göttling eine Gedenkplatte gesetzt.
Am 24. Juni trifft sich der Kommandant des französischen Sektors von Berlin, Brigadegeneral P. Manceaux-Démiau, mit dem Militärkommandanten des sowjetischen Sektors, Generalmajor Dibrowa, und bittet diesen um die Übergabe des Erschossenen. Darauf Dibrowa: "Die Bitte um Herausgabe der sterblichen Hülle des erschossenen Willi Göttling kann nicht erfüllt werden, weil der erwähnte Göttling von militärischen Mächten als Verbrecher, als Provokateur erschossen wurde, als für die Stadt das Kriegsrecht verhängt wurde, und ich damit die Frage für erledigt halte." (10)
Wie erst im Frühjahr 2004 bekannt wird, wird Willi Göttling am 25. März 2003, kurz vor dem 50. Jahrestag des Volksaufstandes durch den Militäroberstaatsanwalt der Russischen Föderation rehabilitiert und als "aus politischen Motiven repressiert" anerkannt. (11) Das der Rehabilitierung zu Grunde liegende Gutachten kommt zu dem Schluss: "Somit gibt es in den Materialien der Strafsache nicht einen einzigen Beweis für die Schuld Göttlings, die ihm in der Voruntersuchung zur Last gelegten Verbrechen begangen zu haben. Göttling hat keinerlei rechtswidrige Handlungen gegen die sowjetischen Truppen in Deutschland begangen. Für jene ihm von den Organen des MVD [Innenministerium, d. Vf.] der UdSSR in Deutschland inkriminierten Handlungen hätte er nur nach den Gesetzen der DDR belangt werden können. Unter Berücksichtigung dessen, dass er auf Beschluß der mit solchen Funktionen nicht ausgestatteten Führung der sowjetischen Besatzungstruppen erschossen worden ist, ist anzuerkennen, dass er aufgrund politischer Motive repressiert worden ist." (12)
|
|
|
---
1 |
Vgl. Der Tagesspiegel, 19.6.1953. |
2 |
"Die letzten Stunden Willi Göttlings", in: Berliner Morgenpost, 28.6.1953. |
3 |
BStU, MfS, AS 123/79, Nr. 1048/53, Bl. 1. |
4 |
Frankfurter Rundschau, 17.6.2003. |
5 |
Neues Deutschland, 19.6.1953. |
6 |
Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, Berlin 1995, S. 296 ff. |
7 |
Dokument im Privatarchiv Dr. Horst Hennig. |
8 |
Dokument im Privatarchiv Dr. Horst Hennig. |
9 |
Chef der Garnison und Militärkommandant von Berlin, Schreiben an den Chef des Stabes der Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland und Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland, Genossen Semjonow: Meldung über die Lage im sowjetischen Sektor der Stadt Berlin, Stand: 19.6.1953, 22.00 Uhr (deutsche Übersetzung). |
10 |
Chef der Garnison und Militärkommandant von Berlin, Aufzeichnung des Gesprächs vom 24.6.1953 mit dem Kommandanten des französischen Sektors von Berlin, Brigadegeneral P. Manceaux-Démiau, der im Namen der Kommandanten der drei Sektoren sprach. |
11 |
"Auf der Grundlage der Punkte 'a' u. 'b', S. 3, u . des Punktes 2 von S. 8 des Gesetzes der Russischen Föderation ,Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen' vom 18. Oktober 1991 wird der Bürger Göttling, Willi, rehabilitiert" (Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation/Militärhauptstaatsanwaltschaft, Rehabilitierungsbescheinigung Willy Göttling, Moskau, 25.3.2003, in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dokumentationsstelle für Widerstands- und Repressionsgeschichte.) |
12 |
Dokument im Privatarchiv Dr. Horst Hennig. |
|
|
|