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Tote des 17. Juni 1953
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Ernst Jennrich

15.11.1911 - 20.3.1954
hingerichtet gegen 4.00 Uhr in Dresden


Ernst Jennrich wird am 15. November in Wedringen geboren, er hat acht Geschwister, der Vater ist Töpfer (Steingutdreher), seine Kindheit ist, nach eigenem Zeugnis, in mancher Hinsicht entbehrungsreich. Er besucht die Volksschule und schließt eine Gärtnerlehre als Gehilfe ab. In der Nazizeit wird er zu sogenannten "Notstandsarbeiten" herangezogen und ist unter anderem am Bau des Mittellandkanals beteiligt, ist ab 1940 in den Junkerswerken dienstverpflichtet, bis man ihn 1942 zur Wehrmacht einberuft. Durch mehrere Granatsplitter schwer versehrt, desertiert er kurz vor Kriegsende und kommt in amerikanische Gefangenschaft, aus der man ihn nach Kurzem wieder entlässt. Er tritt in die SPD ein, wird in die SED übernommen, aus der er 1947 jedoch austritt.

Am 17. Juni 1953 lebt Ernst Jennrich mit seiner Frau und vier Kindern in Magdeburg, wo er bei einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) als Gärtner beschäftigt ist. Mit dem Auftrag, eine "Holzfreigabe" zu besorgen, fährt er morgens mit dem Rad zur LPG-Verwaltung und ist verwundert über die vielen Menschen auf den Straßen. "Ich wusste ja gar nicht, wie ein Streik aussieht, denn ich habe ja noch keinen mitgemacht." (1) Er fährt zu der Möbelfabrik, in der seine Frau arbeitet, berichtet aufgeregt vom Streik, und fragt, ob man hier nicht auch streiken wolle, was ihm später vor Gericht als Boykotthetze ausgelegt wird.

Zusammen mit einem seiner Söhne durchstreift er die Stadt. "Da wurde von der Masse gerufen, vor dem Polizeipräsidium und vor der Haftanstalt, da würde geschossen werden. Da hab ich zu meinem Sohn gesagt, wir wollen da mal gucken." (2) Als er vor der Haftanstalt Sudenburg eintrifft, sind die Wachposten bereits entwaffnet. Jennrich nimmt einem Halbwüchsigen den Karabiner aus der Hand und gibt zwei Schüsse ab, über deren Absicht, Richtung und Wirkung es sehr unterschiedliche Aussagen gibt. Nach seinen eigenen Angaben gibt er auf Drängen der Demonstranten zwei ungezielte Schüsse auf die Mauer der Haftanstalt und in die Luft ab, um das Gewehr zu entladen. Zuletzt zerschlägt er die Waffe.

In der Nacht zum 19. Juni wird er verhaftet und nach einem Verhör durch russische Vernehmer den deutschen Behörden überstellt und angeklagt, "Boykott und Mordhetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen betrieben und hierbei nach dem 8.5.1945 durch Propaganda für den Faschismus den Frieden des deutschen Volkes gefährdet zu haben; in Tateinheit damit aus niedrigen Beweggründen heimtückisch, um eine andere Straftat zu ermöglichen, vorsätzlich einen Menschen getötet zu haben." (3)

Trotz gesteuerter Zeugenaussagen gelingt es nicht, Ernst Jennrich den gezielten Schuss auf einen diensttuenden Volkspolizisten nachzuweisen; das Gericht hat erhebliche Zweifel daran und das Urteil vom 25. August lautet deshalb auf eine lebenslange Zuchthausstrafe. (4) Dagegen legt der Staatsanwalt am 27. August Protest ein: "Der Schutz unseres friedliebenden Staates erfordert für das vom Angeklagten begangene Verbrechen die Todesstrafe." (5)

Am 6. Oktober verurteilen dieselben Richter, die das erste Urteil gefällt hatten, auf Weisung des Obersten Gerichtes der DDR Ernst Jennrich zum Tode.

Dieser Prozess dauert nur 15 Minuten, eine neue Beweisaufnahme wird für nicht erforderlich erachtet. In den Formalien ist eine letzte Spur von traditioneller Rechtskultur erkennbar, der Angeklagte hat in der Verhandlung am 25. August das letzte Wort zu seiner Verteidigung: "Ich kann nur sagen, dass ich niemals zu einem Mörder werden wollte und auch niemals einen Mord begangen habe", sagt Ernst Jennrich. "Ich habe niemals einen Schuss durch das rechte Fenster auf einen VP-Angehörigen abgegeben. Ich habe auch niemals den Vorsatz gehabt, als ich den Karabiner in die Hand nahm, ein Menschenleben zu löschen. Den VP-Angehörigen Gaidzik habe ich nicht erschossen." (6) – "In Anbetracht dieser Gefährlichkeit erfordert es der Schutz unserer Gesellschaftsordnung, dass auf das höchste Strafmaß, nämlich die Ausmerzung des Angeklagten aus unserer Gesellschaft und somit die Todesstrafe erkannt wird", heißt es jedoch in der neuen Urteilsbegründung vom 6. Oktober. (7)

Ernst Jennrich schreibt ein ausführliches Gnadengesuch an den Präsidenten Wilhelm Pieck, worin er bekundet, auch schwerste Arbeitsbedingungen auf sich zu nehmen, "damit ich später einmal wieder als Mensch in der Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik aufgenommen werden kann." (8)

Das Gnadengesuch wird ebenso wie die Berufung abgelehnt, das Urteil am 20. März 1954 um 4.00 Uhr durch die "Fallschwertmaschine" vollstreckt. (9) Auf dem Bestattungsschein sind "Pneumonie" und "akute Kreislaufinsuffizienz" als Todesursachen vermerkt. (10)

Es zeugt für die spezifische Auffassung von Recht in der damaligen DDR, dass Hilde Benjamin, die amtierende Justizministerin, dieses Urteil schon Anfang August (vor Prozessbeginn) persönlich anweisen konnte. Und es zeugt von einer auch in der DDR fortlebenden Zivilcourage, dass einer der am Prozess beteiligten Schöffen sein Amt in der Verhandlung am 6. Oktober 1953 aus Gewissensgründen niederlegte. (11)

Ernst Jennrich wird am 20.8.1991 vom Bezirksgericht Magdeburg rehabilitiert.





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1 Gnadengesuch von Ernst Jennrich vom 29.11.1953, in: BStU, Ast. Magdeburg I/1744/53, Bd. 1, Bl. 59-65. 69 Ebd.
2 Aus der Anklageschrift vom 5.8.1953, in: BStU, Ast. Magdeburg, AU 141/53, Beiakte, Bl.
3 ff. Die Texte der Anklageschrift und der verschiedenen Urteile sind veröffentlicht, in: "Magdeburg 17. Juni 1953". Magdeburger Museumshefte 2, Magdeburg 1993, S. 90 ff.
4 Der Zeuge Erich Sch. entlastet Jennrich mit seiner Aussage vor der Kriminalpolizei am 17.6.1953 (LHASA, Abt. Magdeburg, Rep. M 24 1952-1960, Nr. 183, Bl. 5) und vor Gericht (BStU, Ast. Magdeburg, AU 141/53, Beiakte, Bl. 107): der Schuss aus dem rechten Fenster habe niemanden getroffen, und die Person am linken Fenster sei mit Jennrich wahrscheinlich nicht identisch.
5 Protest des Staatsanwaltes des Bezirks Magdeburg gegen das Urteil des 1. Strafsenats des Bezirksgerichts Magdeburg in Sachen Ernst Jennrich vom 27.8.1953 (Archiv Gedenkstätte Magdeburg Moritzplatz).
6 Hauptverhandlung vom 25.8.1953 vor dem Bezirksgericht Magdeburg, in: BStU, Ast. Magdeburg, AU 141/53, Beiakte, Bl. 112.
7 Urteil des Bezirksgerichtes Magdeburg vom 6.10.1953, in: Ebd., Bl. 149 f.
8 Gnadengesuch vom 29.11.1953, in: BStU, ASt. Magdeburg I/1744/53, Bd. 1, Bl. 59-65.
9 Meldung des Staatsanwaltes Piehl, in: BStU, Magdeburg, ASt. I/1744/53, Bd. 1, Bl. 67. Die Sterbeurkunde vermerkt als Zeitpunkt des Todes 4.30 Uhr.
10 Bestattungsschein o.Datum (Archiv der Gedenkstätte Magdeburg Moritzplatz). Bestattet wird die Urne in Dresden Tolkewitz. Sie wurde nach dem Ende der DDR nach Magdeburg umgebettet. Vgl. dazu auch: Ina Weisse, Wofür brauchten sie sein Leben? In: Der Tagesspiegel, 28.3.2004, S. 3.
11 BStU, Ast. Magdeburg, AU 141/53, U-Vorgang, Bl. 106.


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