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Tote des 17. Juni 1953
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Herbert Kaiser

9.5.1913 - 15.12.1953
hingerichtet in Moskau zu unbekannter Stunde


Herbert Kaiser wird am 9. Mai 1913 in Leipzig als Sohn eines Arbeiters, der bei der Straßenbahn tätig ist, geboren. Er erlernt den Beruf eines Bäckers. 1940 wird er zur Wehrmacht eingezogen und dient, durch Verwundungen unterbrochen, als Stabsgefreiter.

Aus dem Krieg zurück wird er 1945 Mitglied der KPD, später SED; 1951 tritt er wieder aus. In den Akten ist vermerkt, dass er den Mitgliedsbeitrag nicht mehr bezahlen könne. Am 1. Juli 1948 tritt er in die Deutsche Volkspolizei ein und leistet zuletzt als Oberwachtmeister Dienst auf der Transportpolizeiwache auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Am 3. Juni 1951 wird er "wegen Untauglichkeit" aus dem Dienst der Volkspolizei entlassen. Ob es sich um eine politische oder eine gesundheitliche "Untauglichkeit" handelt, ist nicht mehr feststellbar. Herbert Kaiser findet bei der Deutschen Handelszentrale (DHZ) eine neue Beschäftigung als Transportarbeiter. Er ist verheiratet und hat vier Kinder, die zwischen zwei und 18 Jahre alt sind. (1)

Am 17. Juni ziehen gegen 11.00 Uhr die ersten Demonstranten am Hauptbahnhof vorbei. Einige halten an und reißen die riesigen SED Propagandatransparente herunter. Bereits in den Mittagsstunden wird für die Transportpolizei im Bahnhof die höchste Alarmstufe ausgelöst. Auch Herbert Kaiser ist unter den Demonstranten, als diese gegen 14.30 Uhr in den Wachraum der Transportpolizei (Trapo) am Hauptbahnhof eindringen. Der Amtsleiter hat kurz zuvor angewiesen, alle Waffen einzuschließen. Herbert Kaiser soll der Anführer gewesen sein, was er allerdings in den Vernehmungen bestreitet.

Ein ehemaliger Kollege gibt der Staatssicherheit als Zeuge zu Protokoll, Kaiser habe nach eigenem Bekunden mit einigen Leuten persönlich abrechnen wollen und sich damit gebrüstet, dass er bei Zeiten erkannt habe, wohin die Politik der SED führen würde; deshalb habe er den Dienst quittiert. Ein anderer Zeuge überliefert als Äußerung Kaisers: "In diesem Raum wollte man mich zum Vaterlandsverräter erziehen." (2)

Durch seinen Dienst bei der Trapo am Hauptbahnhof kennt sich Herbert Kaiser mit den Gegebenheiten bestens aus. Die Demonstranten haben zunächst Erfolg, sie können einigen Polizisten ihre Waffen entreißen, als sie gerade weggeschlossen werden sollen. Sie erbeuten den Schlüssel zum Waffenschrank, durchsuchen die Räume, zerstören Bilder und "Losungen". Erst sowjetische Soldaten bereiten der Aktion ein Ende. Die Waffen werden später unbenutzt wieder aufgefunden und vollzählig eingesammelt, in der Statistik über Waffenverluste tauchen sie deshalb nicht auf. (3)

Herbert Kaiser wird noch am 17. Juni verhaftet (4) und um 23.00 Uhr in die MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße eingeliefert. (5) Die erste Vernehmung beginnt noch in der Nacht um 0.30 Uhr. Der Haftbefehl, der ihm "Boykotthetze" nach dem berüchtigten Artikel 6 der DDR-Verfassung vorwirft, wird am nächsten Tag erlassen. (6) Das MfS leitet ein Ermittlungsverfahren mit einem Untersuchungsvorgang ein und vernimmt einige VP-Zeugen.

Am 19. Juni wird der Vorgang "dem Tribunal übergeben". Herbert Kaiser wird gemeinsam mit den weiteren vier an der Entwaffnung der Polizeiwache beteiligten Personen "dem Freund überstellt", worunter das MfS die sowjetische Besatzungsmacht versteht. (7)

Noch am gleichen Tag legt der NKWD einen eigenen Untersuchungsvorgang an und vernimmt Herbert Kaiser am 19. und 20. Juni. Bereits am Abend des 20. Juni wird ihm die Anklageschrift bekannt gegeben. Das sowjetische Militärtribunal des Truppenteils 08640 verurteilt ihn am 21. Juni in Leipzig zum Tode. Vorgeworfen werden ihm "Einmarsch in die Sowjetunion zwecks Abtrennung von Teilen von ihr" und "illegale Gruppenbildung" nach dem Strafgesetzbuch der RSfSR §58, Abs. 2 und 11.

In den folgenden Tagen erleidet Herbert Kaiser vermutlich eine Transporttortur in die Sowjetunion. Dort lehnt der Oberste Sowjet am 15. Dezember 1953 sein Gnadengesuch ab und teilt dies dem Tribunal des Truppenteils 48420 mit. Herbert Kaiser wird noch am gleichen Tag hingerichtet.

In den Akten steht: "Am 15.12.1953 erschossen in Moskau". (8) Für die Familie bleibt Herbert Kaiser nach dem 17. Juni 1953 einfach verschwunden. Alles, was ihnen staatliche Stellen auf die regelmäßigen Nachfragen mitteilen, ist der lakonische Satz: "Vielleicht hat er sich nach Westdeutschland abgesetzt."

Erst 1967 erhält die Familie eine offizielle Sterbeurkunde, auf der das Datum 15.12.1953 und als Sterbeort Moskau vermerkt ist. (9) Weitere Auskünfte werden den Familienangehörigen nicht gegeben.

Die Stasi jedoch weiß sehr genau, was passiert ist. Im August 1989 arbeitet die BVfS Leipzig mit Eifer an der Ausgestaltung eines Traditionskabinetts. Die Tafel Nummer 7 soll den Titel "17.6.1953 - Konterrevolution auch in Leipzig geschlagen" tragen. Der Untersuchungsvorgang Kaiser soll eine zentrale Rolle spielen. (10)

Was nach der Verhaftung mit Herbert Kaiser geschieht, erfahren die Angehörigen erst nach der friedlichen Revolution aus den Stasi- und Volkspolizeiakten. Erst im Jahr 2004 wird bekannt, dass die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft Herbert Kaiser am 23. Mai 2003 rehabilitiert hat.

Ein Grab gibt es für Herbert Kaiser nicht. Was nach der Hinrichtung geschah, ist ungewiss. In der Grab- und Gedenkanlage für die Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft im Urnengarten Nord auf dem Leipziger Südfriedhof ist der Name von Herbert Kaiser gemeinsam mit den anderen Opfern seit 1994 auf einem Gedenkstein vermerkt. (11)




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1 Vgl. Beschuldigtenvernehmung Herbert Kaiser der Abteilung IX der BVfS Leipzig vom 17.6.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AU 201/55, Bl. 6-9; sowie Angaben in der Akte des Moskauer FSB-Archives II-8528.
2 Vgl. Dienstliche Meldung der Transportpolizei Leipzig, Abt. K, vom 17.6.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, AU 201/55, Bl. 5; Beschuldigtenvernehmung Herbert Kaiser der Abteilung IX der BVfS Leipzig vom 17.6.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AU 201/55, Bl. 6-9; Zeugenvernehmung der Abteilung IX der BVfS Leipzig vom 18.6.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AU 201/55, Bl. 10-12; Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 133/134.
3 Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 134.
4 Ein Zeuge gab gegenüber der Staatssicherheit an, dass Herbert Kaiser am Abend, als der Bahnhof bereits von sowjetischen Truppen bewacht wurde, auf der Transportpolizeiwache festgehalten wurde. Vgl. Zeugenvernehmung der Abteilung IX der BVfS Leipzig vom 18.6.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, Lpz AU 201/55, Bl. 10-12.
5 Karteikarte zu Herbert Kaiser aus der Gefangenenkartei der Abt. XIV der BVfS Leipzig, in: BStU, Ast. Leipzig.
6 Vgl. Beschuldigtenvernehmung Herbert Kaiser der Abteilung IX der BVfS Leipzig vom 17.6.1953, in: BStU, Ast.Leipzig, Lpz AU 201/55, Bl. 6-9, sowie Haftbefehl des Kreisgerichtes Leipzig vom 18.06.1953, in: BStU, Ast. Leipzig, AU 201/55, Bl. 3.
7 Aktenvermerk der Abt. IX der BVfS Leipzig zur "Aktion 17.6 - 29.6.1953", in: BStU, Ast. Leipzig, Leitung 00251, Bl. 23/24.
8 Alle Angaben nach der Akte des Moskauer FSB-Archives _-8528. Kopien aus dieser Akte erhielt die Dok.-Stelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Dresden (Dr. Klaus-Dieter Müller) im Rahmen der Rehabilitierung, die die Familienangehörigen von Herbert Kaiser beantragt hatten.
9 Schreiben des Rates der Stadt Leipzig, Urkundenstelle, vom 20.7.1967 an den Vater von Herbert Kaiser, Privat. Der Todesfall wurde beim Standesamt I von Groß-Berlin unter der Nr. 1307/1964 bereits im Jahre 1964 eingetragen. Der Eintrag erfolgte auf mündliche Anzeige "vom Gen. [Genossen] Schraub vom MdI" am 7.9.1964 [Standesamt I in Berlin, Sachgebiet V - Urkundenstelle].
10 Schreiben zur "Gestaltung der Tafel 7 des Traditionskabinetts, 17.6.1953 - Konterrevolution auch in Leipzig geschlagen" vom 31.8.1989, in: BStU, Ast. Leipzig, AKG 00131, Bl. 18, zit. nach: Beate Berger/Heidi Roth, Ausnahmenzustand. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig, Leipzig 2003, S. 134.
11 Schreiben des Grünflächenamtes Leipzig, Abt. Friedhöfe an das Bürgerkomitee Leipzig e.V. vom 2.2.2004, sowie mündliche Auskünfte. - Siehe auch: Kaminsky (Hg.), Orte des Erinnerns, S. 323/324.


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