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Erich Kunze
22.10.1924 - 19.6.1953
gest. um 2.12 Uhr in der Universitätsklinik Leipzig
Erich Kunze wird am 22. Oktober 1924 in Arnsgrün, Kreis Oelsnitz (Vogtland), als Sohn des Bürgermeisters geboren. Er absolviert im Rathaus des nahegelegenen Ortes Adorf eine Verwaltungsausbildung und arbeitet dort - nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft - im Pass- und Meldewesen. 1946 wird er Leiter der Kreisstelle Oelsnitz. Nachdem die Volkspolizei diesen Verwaltungsbereich übernommen hat, avanciert er zum VP-Rat.
Nach Auskunft seiner Witwe Johanna Kunze wollte er eigentlich nie zur Polizei und weigerte sich, eine Uniform zu tragen, bis er deswegen ermahnt wurde. 1948 wird er Leiter des Oelsnitzer Pass- und Meldewesens. Im selben Jahr heiratet er seine Frau Johanna, die 1946 als Vertriebene mit einem Kind nach Adorf gekommen war. Im gleichen Jahr kommt das erste gemeinsame Kind zur Welt; bis 1952 folgen drei weitere. Des zu geringen Verdienstes wegen beantragt er seine Versetzung nach Leipzig und bekommt dort schließlich auch einen besser dotierten Posten. 1952 zieht die siebenköpfige Familie in die Messestadt. Erich Kunze ist auch dort sehr beliebt und hat einen großen Freundeskreis. (1)
Im Juni 1953 arbeitet er als Referatsleiter in der Abteilung Pass- und Meldewesen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Leipzig. Wo er sich am Tag des Volksaufstandes aufhält, ist nicht überliefert. Am Abend des 18. Juni ist Erich Kunze gegen 22.00 Uhr mit drei Kollegen auf Streifenfahrt in Richtung Delitzsch unterwegs. Ein Volkspolizeioberrat sitzt neben dem Fahrer und weist an, auf die Gaststätten und eventuelle Gäste zu achten.
Am Nachmittag des 17. Juni hatte der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand verhängt, es herrscht also Ausgangssperre und jeder Verkehr nach 21.00 Uhr ist verboten. (2)
Hinter dem Fahrer des offenen Kübelwagens F9 sitzt Erich Kunze. Sie fahren im starken Regen durch Leipzig- Gohlis, ein Stadtviertel, in dem sich auch die sowjetische Stadtkommandantur befindet. Als sie gegen 22.15 Uhr die Balzacstraße passieren, hören sie einen Schuss. Der Fahrer bremst sofort. In seinem Bericht vom 19. Juni 1953 gibt er zu Protokoll: "Noch bevor der Wagen hielt, sah ich in meinem Scheinwerfer einen sowjetischen Soldaten auf der Fahrbahn vor mir auftauchen. Er stand mit gespreizten Beinen und die MPi im Anschlag da. Ich beugte mich nach links aus dem noch fahrenden Wagen heraus, um besser sehen zu können." (3) In diesem Moment feuert der sowjetische Posten auf das Fahrzeug; zwei Schüsse gehen in Kopfhöhe des Fahrers durch die Windschutzscheibe und treffen den dahinter sitzenden Erich Kunze.
Die drei Polizisten dürfen umkehren; sie bringen den Schwerverletzten erst zur Dienststelle und später ins Polizeikrankenhaus Leipzig-Wiederitzsch. Von dort wird er wegen seiner schweren Kopfverletzungen in die Neurochirurgische Abteilung der Universitätsklinik verlegt, wo er in der Nacht zum 19. Juni stirbt. (4)
Die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei werden noch am gleichen Tag geschlossen. Der Staatsanwalt genehmigt die Feuerbestattung. (5) Erich Kunze wird am 22. Juni um 10.45 Uhr auf dem Leipziger Südfriedhof eingeäschert (6) und die Urne in die alte Heimat nach Adorf überführt. (7) Erich Kunze wird posthum zum VP-Oberrat befördert und zum Helden stilisiert, der angeblich "im Kampf gegen die Putschisten" sein Leben geopfert hätte." (8) Auf seinem Grabstein wird später stehen: "Er starb im Kampf für die Einheit Deutschlands."
Die Trauerfeier in Adorf findet am Vormittag des 23. Juni statt. Der Tod und die Beisetzung Erich Kunzes werden propagandistisch missbraucht. Die BDVP Leipzig weist ein Salutschießen an; die Volkspolizei hält Ehrenwache. (9)
Doch die Witwe misstraut dieser Inszenierung. All ihre Nachforschungen laufen jedoch ins Leere: Den Fahrer jenes Streifenwagens hat sie ausfindig gemacht, obwohl man ihn rasch versetzt hatte. Er darf nicht mit ihr reden und bittet sie, nicht mehr wiederzukommen. Stundenlang wartet sie auf seinen Dienststellenleiter, doch der lässt sich verleugnen und die allzu hartnäckige Witwe schließlich im Wald aussetzen. (10)
Erst nach der friedlichen Revolution von 1989 erfahren die Angehörigen und die Öffentlichkeit, was am 18. Juni 1953 wirklich geschah.
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1 |
Gespräch mit Johanna Kunze, der Witwe von Erich Kunze, am 29.1.2004 (Archiv Bürgerkomitee Leipzig e.V.).
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2 |
Vgl. "Befehl des Militärkommandanten des Bezirkes Leipzig" vom 17.6.1953, in: Sächs- StAL, SED V/5/01/475, unpag.
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3 |
BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK, "Vernehmung eines Zeugen" vom 19.6.1953, in: Sächs-StAL, BDVP 2274, unpag.; Darstellung nach BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK, Leichensache Kunze, in: SächsStAL, BDVP 2274, Bl. 1.
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4 |
Zwischenbericht der BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK vom 19.6.1953, in: SächsStAL, BDVP 2274, Bl. 9.
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5 |
Beerdigungsschein des Staatsanwaltes des Bezirkes Leipzig vom 19.6.1953, in: SächsStAL, BDVP 2274, Bl. 2.
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6 |
Auskunft des Grünflächenamtes der Stadt Leipzig. Im Kremationsbuch des Leipziger Südfriedhofs ist die Einäscherung unter der Einäscherungsnummer 138897 vermerkt.
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7 |
Die Grabstätte auf dem kirchlichen Friedhof in Adorf existiert nicht mehr; es wurde aber eine Gedenktafel angebracht.
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8 |
Vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 182.
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9 |
Fernschreiben der Dienststelle Ölsnitz an die Einsatzleitung der BVfS Karl-Marx-Stadt vom 23.6.1953, 10.30 Uhr, in: BStU, Ast. Chemnitz, C XX-309, Bl. 14. Die Witwe dagegen erinnert sich: "Nur die Eltern und Geschwister durften kommen. Ich habe damals schon gewusst, dass etwas nicht stimmte", vgl. Märtyrertod war Geschichtsfälschung, in: Leipziger Volkszeitung, 5.1.1995, S. 13.
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10 |
Vgl. Märtyrertod war Geschichtsfälschung, in: Leipziger Volkszeitung, 5.1.1995, S. 13.
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