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Tote des 17. Juni 1953
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Gerhard Schmidt

26.9.1926 - 17.6.1953
gest. um 14.00 Uhr in Halle am Zuchthaus "Roter Ochse"


Gerhard Schmidt wird am 26. September 1926 als Sohn eines Juristen geboren, nach dem Krieg studiert er Landwirtschaft an der Martin-Luther-Universität Halle.

Am 17. Juni 1953 ist der jungverheiratete Doktorand mit seiner Frau unterwegs zu den Schwiegereltern. Eher zufällig geraten sie in den Tumult vor dem "Roten Ochsen"; Gerhard Schmidt wird von einer verirrten Kugel getroffen. Seine damalige Frau, Verena Roenneke, erinnert sich: "Mittags fuhren Lastwagen durch die Richard-Wagner-Straße, von denen gerufen wurde: 'Nieder mit der Regierung!'.

Wir beschlossen, in die Stadt zu gehen und waren begeistert, wie von den öffentlichen Gebäuden die Sichtwerbungen und Stalinbilder abgerissen wurden. Unser Weg von der Lafontainestraße zur Kefersteinstraße, wo meine Eltern wohnten, führte am Zuchthaus vorbei, wo eine große Menschenmenge: 'Wir wollen freie Wahlen und keine Zuchthausqualen' rief. Ob das Eingangstor berannt wurde, konnten wir nicht sehen. Wir waren schon am Weitergehen, als das Tor aufgerissen wurde, und die Polizei in die Menge schoss. Mein Mann wurde von einem Querschläger in die Lunge getroffen und ist bei der Einlieferung in die Chirurgie verstorben." (1)

In einem vertraulichen Polizeibericht wird festgestellt, dass Schmidt "nicht als Provokateur oder Gegner unserer Ordnung bezeichnet werden kann. Er geriet in den Demonstrationszug und wurde hier erschossen. Er ist als Opfer der Provokateure zu betrachten. Von wem er erschossen wurde, ist nicht bekannt." (2) Das brachte die Genossen auf die Idee, Gerhard Schmidts Beerdigung in ihrem Sinne zu inszenieren: "Teilnahme einer Delegation der Universität ... Auswertung nachträglich in einer Zeitung (mit Bild). Tendenz: Opfer der Provokateure." Handschriftlich ist am Rand notiert: "evtl. größere Trauerkundgebung" (3)

Verena Roenneke berichtet: "Da wir nur auf dem Weg zu meinen Eltern gewesen waren und uns niemand gesehen hatte, beschloß der Rektor der Universität, Professor Stern, den Fall auf seine Weise zu regeln. (Die Studenten der landwirtschaftlichen Fakultät hatten mit besonderem Elan an dem Aufstand teilgenommen.) Professor Stern erklärte den Eltern Schmidt, meinen Eltern und mir, die Uni würde das Begräbnis ausrichten. Er habe den Fall so zurechtgebogen, man hätte ihn ja auch ganz anders sehen können (was offenbar als Drohung gemeint war, d. Vf.).

Wörtlich: 'Sie haben zu schweigen, die Aasgeier werden kommen.' So wurde zu unserem Entsetzen ein Staatsbegräbnis ... in Szene gesetzt. Der Verkehr in der Stadt ruhte. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, wenn ich die grimmigen Gesichter der Passanten sah, die so dachten wie ich und nicht ahnten, dass wir nur die Opfer eines makabren Theaters waren." (4)

Am 24. Juni, dem Tag der Beisetzung Gerhard Schmidts, veröffentlicht das SED-Bezirksorgan "Freiheit" eine "Mitteilung der Sicherheitsorgane über den Mord an dem Dr.-Aspiranten Gerhard Schmidt", worin die offizielle Version seines Todes verkündet wird: "Eine Horde faschistischer Provokateure versuchte, die Strafanstalt am Kirchtor unter Anwendung von Schusswaffen zu stürmen. Die faschistischen Banditen hetzten die umstehenden Bürger zur Teilnahme an ihrem Gewaltstreich auf und schossen auf jeden, der sich ihnen widersetzte. Dabei wurde der Jugendfreund Schmidt, der seinen Abscheu gegen diese Verbrechen kundgab, von diesen durch einen Pistolenschuss niedergestreckt." (5)

In einem von Erich Honecker unterzeichneten Telegramm des Zentralrats der FDJ an Schmidts Ehefrau ist von einer "schändlichen Mordtat faschistischer Provokateure und Kriegstreiber" die Rede. Am Vormittag des 24. Juni werden auf den Friedhöfen in Halle und Reideburg sieben Opfer des 17. Juni beigesetzt - im sehr wohl beabsichtigten "Windschatten" der Beisetzung Gerhard Schmidts, die am Nachmittag als propagandistische Massenveranstaltung aufgezogen wird. (6)

Die FDJ organisiert einen Sternmarsch durch Halle mit knapp 5.000 dazu verpflichteten Teilnehmern aller Betriebe. Ein Großaufgebot der Polizei sichert die "Kundgebung" ab. Unliebsame Trauergäste werden verhaftet. Helmut Hartmann, der damals Theologie studiert, und an der Trauerfeier für Schmidt teilnimmt, erinnert sich: "Die Familie hatte ein kirchliches Begräbnis auf dem Kröllwitzer Friedhof durch gesetzt. Von staatlicher Seite wurde vorher ein Staatsakt zelebriert. In einem langen Trauerzug durch die Stadt wurde der Tote als Opfer von 'faschistischen Rowdys' gefeiert, der im Kampf für den Sozialismus sein Leben eingesetzt hat. In einem offenen PKW saß neben der jungen Witwe und den Eltern der Rektor der Universität, Prof. Dr. Leo Stern, und heuchelte Betroffenheit. Fassungslos lief ich einige Zeit neben diesem PKW her und konnte nicht begreifen, dass ein Universitätslehrer solch ein Lügenspiel mitmachen konnte. Alle Hallenser wussten, dass Gerhard Schmidt von Polizisten erschossen worden war." (7)

In den detaillierten Lage- und Stimmungsberichten der Volkspolizei von der "Trauerkundgebung" wird die Festnahme einer "Provokateurin" gemeldet. Sie wird mit der Äußerung zitiert: "Die VP, die Schweine, erst haben sie ihn erschossen, jetzt marschieren sie mit." (8)



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1 Verena Roenneke verw. Schmidt in einem Brief an Prof. Dr. Manfred Hagen vom 9.9.1990 (Archiv Verein Zeit-Geschichte[n] e.V.). Die Sterbefallanzeige der BDVP benennt als Sterbeort "Am Kirchtor".
2 Vorschlag zur Beisetzung der Opfer vom 17.6.1953, 22.6.1953, in: LHASA, Abt. Merseburg, BdVP Halle, Rep. 19, Nr. 74, Bl. 95 ff.
3 Ebd.
4 Verena Roenneke verw. Schmidt in einem Brief an Prof. Dr. Manfred Hagen vom 9.9.1990 (Archiv Verein Zeit-Geschichte[n] e.V.).
5 Freiheit, 23.6.1953.
6 Bestattet wurde Gerhard Schmidt am 24. Juni 1953 um 15.00 Uhr auf dem Friedhof in Halle-Kröllwitz (Abt. 4, Wahlgrab 24). Das Grab ist noch vorhanden.
7 Helmut Hartmann, in: Stefanie Wahl (Hg.), Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 im Bezirk Halle, Reihe "Sachbeiträge" der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt Nr. 29, Magdeburg, 2003, S. 126 ff.
8 Stimmungs- und Lagebericht des VPKA Halle zur Trauerfeier auf dem Friedhof Kröllwitz am 24.6.1953, in: LHASA, Abt. Merseburg, BdVP Halle, Rep. 19, Nr. 74, Bl. 160, sowie Nr. 314, Bl. 38 und 145.


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