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Tote des 17. Juni 1953
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Horst Walde

3.2.1927 - 12.11.1954
gest. gegen 5.45 Uhr im Zuchthaus Waldheim


Horst Walde wird am 3. Februar 1927 in Zeitz geboren, nach acht Jahren Volksund Hilfsschule ist er Hilfsarbeiter in einer Klavierfabrik, bis er 1943 zum Arbeitsdienst einberufen wird. Von dort wird er noch 1944 zur Wehrmacht gezogen und muss als Infanterist nach Oberschlesien. Er wird nach 14 Tagen verwundet und erlebt das Kriegsende im Lazarett. Aus der amerikanischen Gefangenschaft entlässt man ihn nach drei Monaten. Dann schlägt er sich mit Hilfsarbeiten beim Bauern, im Kesselbau, in einer Zuckerfabrik durch, bis er im Mai 1952 im Stahlwerk Silbitz (SAG der Hüttenindustrie "Marten") eine relativ gut bezahlte Arbeit als "Fertigputzer" findet. Die braucht er, denn er hat 1946 eine Familie gegründet und inzwischen seine Frau und vier Kinder zu ernähren.

Am 17. Juni 1953 wird im Stahlwerk gestreikt, eine gewählte Streikleitung formuliert die Forderungen, die wie im ganzen Land nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Charakter tragen: "Freilassung der politischen Häftlinge, Rücktritt der Regierung, Herabsetzung der HO-Preise um 90%, Abzug der Besatzungstruppen, Wegfall der Zonengrenzen." (1) Horst Walde streikt mit, denn er ist mit den Forderungen einverstanden.

Als er am 19. Juni seine Mittelschicht (14.00 bis 22.00 Uhr) in der Putzerei des Stahlwerkes antritt, erfährt er, dass die Streikleitung immer noch verhaftet ist. Vielleicht ist er zu gradlinig, um sich damit abzufinden, vielleicht schätzt er die Machtverhältnisse nach dem Eingreifen der Russen falsch ein - jedenfalls setzt er sich zwei Tage, nachdem der Aufstand niedergeschlagen wurde, dafür ein, die Freilassung des inhaftierten Streikkomitees durch einen erneuten Streik zu erzwingen. Die Frühschicht, welche am Vortag Solidaritätsstreiks organisierte, hatte inzwischen die Arbeit wieder aufgenommen. Die Mittelschicht des Stahlwerkes legt an diesem Tag teil- und zeitweise die Arbeit nieder, um ihrerseits erneut Solidarität mit den verhafteten Kollegen zu bekunden. Horst Walde soll daran maßgeblich beteiligt gewesen sein, dass die Arbeit drei Stunden ruht und ein "volkswirtschaftlicher Schaden im Werte von DM 8.236,48" entsteht. (2)

Als weiteres "Vergehen" wird ihm zur Last gelegt, dass er sich am 16. Oktober des selben Jahres an einer Diskussion mit dem Parteisekretär seiner Abteilung beteiligt und offenherzig seine Meinung sagt: Es geht um die Rückgabe der als Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) geführten Betriebe, die der Parteisekretär als großes Geschenk der "Freunde" ankündigt, woraufhin Horst Walde anmerkt, dass die "Freunde" sämtliche Maschinen und Lagerbestände vorher ausgeräumt hätten, wenn sie die Fabriken übergäben, so z.B. in Tröglitz. Auf Grund dieses sowjetfeindlichen "Gerüchts" wird Horst Walde fristlos entlassen. (3) Der SED-Sekretär des Stahlwerkes Albin Schneider informiert noch am gleichen Tag die Kreisdienststelle des MfS in Eisenberg, welche schon über Hinweise zur Beteiligung Horst Waldes an den Streiks um den 17. Juni verfügt. (4) Am 28. Oktober wird er verhaftet und in der Geraer Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit vernommen.

Unsere wichtigste Quelle sind die Vernehmungsprotokolle der Staatssicherheit, und diese Quelle ist freilich getrübt, um es vorsichtig auszudrücken. Belastet wird er durch die Zeugenaussagen des SED-Sekretärs der Abt. Putzerei, Josef Brettschneider, und den AGL-Vorsitzenden Herbert Zehmisch. (5) Die Ereignisse im Stahlwerk und die Rolle Horst Waldes sind in diesen Protokollen untrennbar verquickt mit dem von den Vernehmern angestrebten Untersuchungsergebnis. Horst Walde soll als "Rädelsführer" verurteilt werden. Dafür müssen die Stasi-Verhöre justiziables Material schaffen. Auf die Frage"Wie haben Sie sich bei diesen Unruhen (am 19.6. im Stahlwerk) verhalten?", antwortet Horst Walde: "Ich habe mich nicht an den Unruhen beteiligt. Wie alle anderen Arbeiter legte ich ebenfalls die Arbeit nieder. Frage: Sie werden nochmals zur Wahrheit ermahnt! Wie haben Sie sich an den Unruhen beteiligt? Antwort: Ich gebe zu, dass ich am 19. Juni 1953 bei den Unruhen in der Putzerei eine ganz schäbige Rolle gespielt habe. Ich habe die Arbeiter aufgefordert, die Arbeit nicht eher aufzunehmen, bis die inhaftierten Personen auf freiem Fuß sind." (6)

Einen Tag später wird der Inhaftierte zu seiner "Hetze" gegen die Sowjetunion befragt. Seine Antwort im Protokoll: "Am 16. Oktober 1953 entwickelte sich in der Putzerei des Stahlwerkes Silbitz eine Diskussion über Maßnahmen der Sowjet-Regierung, die restlichen SAG-Betriebe in deutsche Hände zurückzugeben. Der 1. Parteisekretär des Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands der Putzerei Brettschneider diskutierte mit den Kollegen (...), sie sprachen sich positiv über den Beschluß der Sowjetregierung aus. Nach einer gewissen Zeit gesellte ich mich dazu und machte meine Bemerkungen über den Beschluß der Sowjetregierung. Ich brachte den Einwand: ,Was soll denn da zurückgegeben werden, wenn schon vorher sämtliche Maschinen und Ersatzteile fortgeschafft werden.' Dabei habe ich abfällige Äußerungen und eine wüste Verleumdung gegen die Sowjetunion und deren Regierung gebraucht. Später habe ich eingesehen, dass dies nur ein Gerücht war. (..) Jetzt sehe ich ein, dass ich damit eine feindliche Propaganda getrieben habe und das Ansehen der Sowjetunion geschädigt habe. Ich habe damit die Feinde des Friedens unterstützt, die einen neuen Krieg vorbereiten. Danach wurde ich als Provokateur fristlos entlassen." (7)

Das ausführliche Zitat soll die damalige Situation des Inhaftierten vor Augen führen, der sich in den Händen der Stasi in einem rechtsfreien Raum befindet, wo ihm seine Offenherzigkeit zum Staatsverbrechen umgebogen wird. Eine verkehrte Welt und auf den Kopf gestellte Wahrheit, der er sich in den täglichen Verhören immer wieder unterwerfen soll. Dazu ist dieser Mann nicht geschaffen. (8) Er rebelliert z.B. in der Nacht vom 26. zum 27. November, indem er durch wiederholtes Klingeln das Wachpersonal ruft, um einen Rechtsanwalt zu verlangen und die anderen Gefangenen auf sich aufmerksam zu machen. Einer Verlegung in eine andere Zelle widersetzt er sich, zwei Beamte wenden schließlich Gewalt an. Dieser Vorfall wird als nächtliche Ruhestörung und Ausbruchsversuch gewertet und mit drei Tagen Arrest bestraft. (9)

In den Stasi-Akten findet sich der Untersuchungsbericht eines Geraer Nervenarztes an den Anstaltsarzt vom 28. November 1953, worin sich deutlich ankündigt, dass Horst Walde der inquisitorischen Prozedur nicht gewachsen ist: "Über seine jetzigen Beschwerden befragt, gibt er eine etwas verworrene Darstellung von angeblichen Erlebnissen während der Haft, er habe sich vor Gericht gesehen, man habe ihn verurteilt, seine Frau sei anwesend gewesen, er sei eben manchmal ganz durcheinander. Von seinen Mitgefangenen habe der eine so, der andere so geredet, so dass er schließlich überhaupt nicht mehr gewusst habe, woran er sei. Er habe auch manchmal Angst bekommen, dann sei in seinem Kopf alles durcheinandergegangen. (...) Wenn er allein in seiner Zelle sei, dann überkomme ihn die Angst, und das vertrage er nicht gut." Der Nervenarzt sieht keine Anhaltspunkte für Halluzinationen oder Wahnideen und empfiehlt neben einem Schlafmittel ein leichtes Beruhigungsmittel, um den Patienten verhandlungsfähig zu erhalten. (10)

Horst Walde wird schließlich der Prozess gemacht, und er wird am 4. Dezember 1953 vom Bezirksgericht Gera nach Art. 6 der DDR-Verfassung und Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Art. III A III unter Zubilligung des §51 StGB (verminderte Zurechnungsfähigkeit) zu zwei Jahren Gefängnis und fünf Jahren Sühnemaßnahmen verurteilt und nach Zwickau überstellt. "Durch sein gesamtes Verhalten am 17. und 19. Juni", heißt es in der Begründung, "wie auch durch seine provokatorischen unwahren Behauptungen am 16.10.1953 hat der Angeklagte eine neofaschistische Betätigung gezeigt und weiterhin tendenziöse Gerüchte erfunden und verbreitet und durch seine gesamte Handlung den Frieden des deutschen Volkes gefährdet."(11)

In der Haftkarteikarte der Strafvollzuganstalt Zwickau, welche ihn später auch nach Waldheim begleitet, finden sich folgende Vermerke: "5.1.54: Selbstmordversuch, 23.2.54: Führung gut; latent Selbstmordgedanken; 15.3.54: zerschlägt Inventar, Simulant; 4.6. und 5.6.54: demoliert Inventar, wird in Sicherungszelle gelegt mit Zwangsjacke; 9.6.54:W. sagt, an der Regierung in Berlin sitzen nur Verbrecher; 16.6.54:Hält am offenen Fenster Rep[ublik].feindliche Propagandarede." Zweimal erhält er im Juni und Juli je 21 Tage Arrest. Bereits im Februar kommt eine ärztliche Untersuchung im Haftkrankenhaus Waldheim zu dem Ergebnis, dass er akut psychisch krank sei. Der Krankenbericht vom 27.2.54 ist ein beklemmendes Zeugnis von Horst Waldes seelischer Not. (12) Als Aufnahmediagnose ist vermerkt: "Reaktiver Depressionszustand z.B. Schizophrenie"; "Patient gibt an, daß er jetzt mit seinen Nerven vollkommen fertig sei. (...) Er musste viel an seine Familie denken und weinen." Und weiter unten: "Psychisch: Pat[ient]. erzählt eindringlich und im Zusammenhang, um dann plötzlich in Selbstvorwürfe auszubrechen, er sei ein schwerer Verbrecher und habe seine Familie verloren, weint und lässt sich nur schwer beruhigen. Bisher kein sicherer Anhaltspunkt für echte Halluzinationen." Unter dem Datum des 3. März 1954 notiert man einen Ausbruch seiner Krankheit: "Pat. wurde nach Bericht eines Zellengenossen heute Mittag ziemlich plötzlich erregt. Er überschüttete sich mit Selbstvorwürfen und verlangte, dass man mit ihm ein Ende mache. Er versuchte, sich aufzuhängen, und als das misslang, schlug er mit dem Kopf in die Fensterscheibe." Auf die stark blutende Kopfwunde klebt man Heftpflaster, gegen die "Erregung" erhält der Patient "eine Injektion" und stärkere Schlafmittel (zweimal täglich eine Tablette Kalypnon).

Zwei Tage später wird er "auf Anordnung" zurück in seine Zelle nach Zwickau "entlassen". Am 10. August wird er von Zwickau in das Zuchthaus Waldheim überstellt und kommt dort unter anderem in den Keller. Was während der nächsten drei Monate geschieht, ist bis auf einen Bericht nicht dokumentiert. In einem Aktenvermerk vom 6. September 1954 heißt es: "Am 6.9.54 vormittags tobte der W. in der Zelle herum und wiegelte andere Str.Gef. auf, er brüllte zum Fenster hinaus und benahm sich gewalttätig. W. ist von Zwickau gekommen u. ist bekannt als Provokateur gegen die DDR, er demolierte das Zelleninventar, ferner geht W. mit Selbstmordgedanken um u. ist als Simulant bezeichnet. W. wurde daraufhin in die Beruhigungszelle verlegt, er verweigerte aus der Zelle zu gehen und der Widerstand wurde gebrochen." (13)

Am 12. November 1954 ist Horst Walde tot: "Um 5.15 Uhr bei der Ausspeisung noch am Leben, bei der Kontrolle um 6.00 Uhr am Fensterrahmen hängend aufgefunden", wird auf dem Totenschein notiert. Da steht unter "Grundleiden: Selbstmord durch Erhängen 984". (14) Was immer diese Zahl bedeuten mag, sie weiß so wenig von diesem psychisch krank gemachten Menschen wie jene von ihm wissen wollten, denen er ausgeliefert war. Er hinterlässt eine Frau und vier Kinder. Bestattet wird er auf Wunsch seiner Witwe auf dem Friedhof in seinem Heimatort Tröglitz. (15) Sein zweitältester Sohn Gerhard erinnert sich, dass der Name seines Vaters und die damaligen Ereignisse in der Familie nicht mehr erwähnt worden seien, nachdem die Mutter wieder geheiratet hatte. Erst durch das Rehabilitierungsverfahren habe er 1991 von den näheren Umständen der Verurteilung Horst Waldes Kenntnis erhalten. (16)



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1 Vernehmung von Horst Walde am 29.10.1953, in: BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 3, Bl. 22 ff.
2 Schreiben der SAG der Hüttenindustrie "Marten" vom 29.10.1953, in: BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 3, Bl. 44.
3 "Wegen Hetze gegen die Sowjetunion", in: Personalakte, Archiv der Silbitz Guss GmbH.
4 Informationsbericht der KD Eisenberg, in: BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 1, Bl. 6.
5 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 2, Bl. 27 ff. und Bd. 3, Bl. 30 ff.
6 Vernehmung am 10.11.1953 von 14.00 bis 17.00 Uhr, in: BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 2, Bl. 53 f.
7 Vernehmung am 11.11.1953 von 13.45 bis 17.00 Uhr, in: BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 2, Bl. 56 f.
8 In der Beurteilung durch Polizei und Bürgermeister von Tröglitz wird bescheinigt, dass Horst Walde "in polizeilicher Hinsicht (...) hier nicht in Erscheinung getreten" sei, sich aber als "Halbstarker" an Ringerwettkämpfen beteiligt habe (BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 1, Bl. 50).
9 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Bd. 3, Bl. 45-49.
10 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Haftakte, Bl. 11 f.
11 Urteil des Bezirksgerichts Gera vom 4. Dezember 1953.
12 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Haftakte, Bl. 14 ff.
13 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Haftakte, Bl. 13.
14 BStU, Ast. Gera, AU 172/53, Haftakte, Bl. 4.
15 Das Grab ist nicht mehr vorhanden.
16 Gespräch von Edda Ahrberg mit Gerhard Walde am 24.11.2003. Die Rehabilitierung erfolgte durch das Bezirksgericht Gera am 12.12.1991.


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