Der EVG-Vertrag




Die Begründung der Bundesregierung zum Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und zum Vertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27. Mai 1952 (Auszüge)

1. Vorgeschichte

Maßgebende Überlegungen Die Verhandlungen, die zum Abschluß des Vertrages über die Verteidigungsgemeinschaft geführt haben, gehen auf zwei Erwägungen zurück, auf eine militär-politische und eine allgemein-politische. Die militär-politische Erwägung war die Überlegung, daß es notwendig sei, die Verteidigung der westlichen Welt zu sichern und hierzu auch die deutsche Verteidigungskraft einzubeziehen. Die allgemein-politische Erwägung entsprang den Bemühungen um eine Integration Europas, die es nahelegten, die Verteidigungsbestrebungen als Element in die Bemühungen um die Herbeiführung einer solchen Integration einzubeziehen ...

2. Grundgehalt

a) Verfassung

Die überstaatliche Gemeinschaft Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, ebenso wie die Europäische Montangemeinschaft, eine mit eigenen Hoheitsbefugnissen ausgestattete überstaatliche Gemeinschaft. Auch dem Aufbau der Verteidigungsgemeinschaft liegt die Überzeugung zugrunde, daß die angestrebten Ziele nicht mit den hergebrachten Mitteln zwischenstaatlicher Verknüpfung, sondern nur durch eine solche überstaatliche Gemeinschaft verwirklicht werden können. Der Vertrag regelt nicht, wie frühere Militärbündnisse, Rechte und Pflichten der Staaten zu militärischem Beistand und Zusammenwirken, sondern er schafft auf dem Gebiet der Verteidigung, in ähnlicher Weise, wie es die Montangemeinschaft auf dem Gebiet der Grundstoffindustrien getan hat, ein europäisches Gebilde mit eigenen Organen, eigenen Streitkräften und eigenem Haushalt. Insbesondere sind die Streitkräfte europäisch, nicht national. Die Verteidigungsgemeinschaft steht damit im Gegensatz zu den Koalitionsarmeen alten Stils. Bei diesen verbleiben die Truppen im nationalen Status, sie sind nach wie vor Truppen der Einzelstaaten, nur unter gemeinsamem Oberbefehl. Demgegenüber gibt es bei der integrierten Armee der Verteidigungsgemeinschaft eine grundsätzliche neue Lösung. Es gibt bei ihr keine nationalen Truppen mehr; nicht nur der Oberbefehl ist gemeinsam, sondern die gesamte Armee mit sämtlichen Kontingenten hat europäischen Status. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zeigt hiernach, ähnlich wie die Montangemeinschaft, starke Ähnlichkeit mit bundesstaatlichen Begriffen und Einrichtungen. Sie ist aufgebaut auf der unbedingten Gleichstellung aller Mitgliedstaaten, und ihre Normen binden nicht nur die beteiligten Staaten, sondern unmittelbar die Bürger dieser Staaten. Hierbei greift die Verteidigungsgemeinschaft weit stärker als die Montangemeinschaft in die nationalen Hoheitsrechte ein. Eines der wesentlichsten Hoheitsrechte, das Recht der Selbstverteidigung, geht mit ihrer Errichtung der Ausübung nach auf die Gemeinschaft über. Das wirkt weit über das Militärische hinaus auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik. So drängt die Verteidigungsgemeinschaft überall zur politischen Föderation Europas. Sie ist nicht nur die Vorbereitung einer solchen Föderation, sondern schon ein entscheidender Teil davon. Demgemäß ist der Versammlung der Verteidigungsgemeinschaft die Aufgabe anvertraut, gleich nach ihrem Zusammentritt die Vollendung dieser politischen Föderation Europas in die Wege zu leiten. Und schon jetzt sind die Vorschriften des Vertrages darauf abgestellt, diese Föderation zu ermöglichen.

Die Organe der Gemeinschaft Dies gilt insbesondere vom Aufbau der Organe der Gemeinschaft und ihren Aufgaben. Dieser Aufbau entspricht dem der Montangemeinschaft. Auch hier bestehen, wie dort, vier Hauptorgane:
1. ein oberstes Exekutivorgan - ein Kommissariat - ähnlich der Hohen Behörde der Montangemeinschaft;
2. ein parlamentarisches Organ - wie die Gemeinsame Versammlung der Montangemeinschaft;
3. ein föderatives Organ - ein Ministerrat, wie er auch in der Montangemeinschaft vorgesehen ist;
4. ein Gerichtshof als Organ der richterlichen Gewalt.
Der Beratende Ausschuß der Montangemeinschaft ist auch in der Verteidigungsgemeinschaft vorgesehen, jedoch seiner Natur entsprechend auf die wirtschaftlichen Aufgaben beschränkt. Andererseits sind, entsprechend der großen Bedeutung der Finanzfragen in der Verteidigungsgemeinschaft, weitere Hilfsorgane der Gemeinschaft, nämlich ein Rechnungshof und ein Rechnungsprüfer, vorgesehen. Darüber hinaus hat die in der Natur der Dinge liegende Forderung, die Zahl der überstaatlichen Organe nicht unnütz zu vermehren, dazu geführt, nicht nur die Gleichheit der Strukturelemente der Verteidigungsgemeinschaft und der Montangemeinschaft vorzusehen, sondern soweit wie möglich auch ihre volle Identität. Das ist bei dem parlamentarischen Organ, der Gemeinsamen Versammlung, im wesentlichen möglich gewesen und hat sich beim Gerichtshof voll durchführen lassen, beide sind mit den entsprechenden Organen der Montangemeinschaft grundsätzlich identisch.

Verfassungsänderung Der Vertrag über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gilt wie der Vertrag über die Montangemeinschaft für 50 Jahre ...

c) Zwischenstaatliche Beziehungen

Zusammenhalt nach innen Der korporative Charakter der Gemeinschaft zeigt sich auch im internationalen Verkehr. Auf 50 Jahre begründet, hat sie ein festes staatsähnliches Gefüge, welches es ausschließt, daß Mitgliedstaaten, soweit das Gebiet der Gemeinschaft reicht, anderweitigen zwischenstaatlichen Bindungen unterliegen. Die Mitgliedstaaten sind nach dem Vertrage verpflichtet, keinerlei internationale Verpflichtungen einzugehen, die mit dem Vertrag über die Gemeinschaft in Widerspruch stehen. Sie sind ebenso verpflichtet, alle Meinungsverschiedenheiten, die sie untereinander bezüglich der Gemeinschaft haben, nur mit Mitteln auszutragen, welche der Vertrag über die Gemeinschaft für die Schlichtung derartiger Meinungsverschiedenheiten vorsieht; eine Anrufung außerhalb stehender Instanzen ist ausgeschlossen. Im Falle eines Angriffes greifen sowohl die Streitkräfte der Gemeinschaft als auch alle Mitgliedstaaten mit allen ihnen zu Gebote stehenden Kräften automatisch ein. Eine Notstandsklausel stellt sicher, daß in diesem Fall durch einstimmigen Beschluß des Ministerrats die Organisation der Gemeinschaft vereinfacht und den Erfordernissen der Lage angepaßt werden kann.

Verhältnis zum Nordatlantikpakt Auch der Organisation des Nordatlantikpaktes tritt die Gemeinschaft als Einheit gegenüber. Sie fügt sich, soweit es sich um operative Fragen handelt, dieser Organisation als Glied ein. Insoweit ist einerseits den zuständigen militärischen Stellen der Nordatlantikpakt-Organisation hinsichtlich der Beaufsichtigung und der militärischen Leitung die erforderliche Einflußnahme eingeräumt; andererseits ist vorgesehen, daß die Dienststellen der Gemeinschaft mit den Dienststellen der Nordatlantikpakt-Organisation auf zivilem wie auf militärischem Gebiete durch Austausch von Informationen und in persönlichem Kontakt eng zusammenarbeiten und daß bei den militärischen Kommandostellen eine entsprechende Vertretung der Verteidigungsgemeinschaft stattfindet. Diese Vertretung ist personell nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung entsprechend der Zusammensetzung der Streitkräfte zusammengesetzt.



[Quelle: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, Anlage 2 zur Drucksache Nr. 3501, S. 1-38, in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Köln 1995, S. 198-200.]