Walter Hans, 1953 Maschinenbaustudent in Leipzig, über den zwangsweisen Besuch einer Gerichtsverhandlung wegen Bockwurstdiebstahl


Abschrift


Walter Hans, Maschinenbaustudent in Leipzig


Es muss Anfang Juni 1953 gewesen sein. An den Technischen Lehranstalten für Maschinenbau und Elektrotechnik Leipzig (...) in der Dimitroffstraße (Wächterstraße), einige hundert Meter hinter dem Reichsgericht (damals Dimitroff-Museum), waren wir mitten in den Ingenieurabschlussprüfungen, als von der Leitung der obligatorische Besuch einer bestimmten Gerichtsverhandlung angeordnet wurde. Die Verhandlung fand im Landgericht in der Harkortstraße gegenüber dem Reichsgericht statt. Der große Saal war mit Zuhörern voll gefüllt. Angeklagt waren drei Verkäuferinnen einer Verkaufsstelle der HO. Diese - amtlich "Handelsorganisation" genannte - Institution verkaufte bisher nur auf Lebensmittel-, Kleidermarken oder Bezugsscheine erhältliche Waren frei zu erhöhten, staatlich festgelegten Preisen.

Die Verkäuferinnen hatten jede eine Bockwurst und zusammen eine Tafel Schokolade und eine Kleinigkeit (Schokoladenriegel o. ä.) gegessen, ohne den Preis zu entrichten.

Der Richter begründete die Haftstrafe von einem Jahr Zuchthaus für die Jüngste der drei Verkäuferinnen damit, dass dies die im Gesetz zum Schutz des Volkseigentums - gegen das sie verstoßen hätten - festgelegte Mindeststrafe sei. Die zweite Verkäuferin wurde zu zwei, die Leiterin der Verkaufsstelle zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie das Strafbare ihrer Handlung hätte erkennen müssen bzw. weil sie die anderen zur Straftat verleitet habe, anstatt sie zu verhindern. Die schluchzenden Verkäuferinnen wurden sofort abgeführt.

Nach dem Urteilsspruch erhob sich im Saal ein protestierendes Gemurmel mit lauten Protestrufen, so dass der Richter bemerkte, bei guter Führung könnten eventuell die Zuchthausstrafen vorzeitig beendet werden. Er forderte zum sofortigen Verlassen des Saales auf und drohte die Räumung an, worauf sofort mehrere Polizisten erschienen. In den folgenden Tagen führte das Urteil zu teils heftigen Diskussionen auch in der Ingenieurschule.

[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 - Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 45.]