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Berlin, den 17.6.1953
BERICHT BAUARBEITER STALINALLEE
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Bei meinem gestrigen Einsatz konnte ich besonders feststellen, daß die größten Schreier und Aggressoren Jugendliche waren. Tatsache ist, daß sich darunter leider viele Jugendliche von den Bauarbeitern der Stalinallee befanden. Es wurden Losungen wie "Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter", "Wir fordern freie Wahlen", "Wir rufen zum Generalstreik auf!" gerufen [wurden].
Vielfach wurden von den Jugendlichen feindliche Haltungen gegenüber Parteigenossen eingenommen, die durch das Parteiabzeichen erkenntlich waren oder durch ihre Argumente versuchten, die Bauarbeiter von ihrer falschen Haltung zu überzeugen.
Am gestrigen Nachmittag gegen 16.30 Uhr wurden in der Wilhelm-Pieck-Str. ein jugendlicher Arbeiter, der neben dem Demonstrationszug ging und auf dem Wege nach Hause war, von einer Gruppe jugendlicher Bauarbeiter blutig geschlagen. Zur gleichen Zeit und in derselben Straße wurde ein älterer Kollege mit VVN-Abzeichen, der sich besonders in Diskussionen gegen die Maßnahmen der Bauarbeiter äußerte und den Ausruf "Berlin erwache" wandte, mehrfach tätlich bedroht. Nur durch das Eingreifen älterer Bauarbeiter konnte verhindert werden, daß er verprügelt wurde.
Besonders stark war das Geschreie, wenn Volkspolizisten erblickt wurden, wobei dann immer gerufen wurde: "Wir brauchen keine Nationale Verteidigungsarmee".
Zwei in Seitenstraßen von der Wilhelm-Pieck-Str. stationierte Lautsprecherwagen wurden angegriffen. Von dem ersten Wagen wurden die Vorderscheiben mit Knüppeln eingeschlagen. Der zweite Wagen umringt, eine Vorderscheibe zertrümmert und dann von den Jugendlichen besetzt. Dieser Wagen wurde dann in Gang gebracht und über die Lautsprecher die verschiedensten Parolen durchgegeben. So u.a.: "Heraus zum Generalstreik". Vor dem Gebäude des ZK wurde die Zurücknahme der Normenerhöhung sowie die Abschaffung der Normen überhaupt gefordert, weiterhin eine 40%ige Senkung der HO-Preise verlangt.
Am Alexanderplatz, vor dem Polizeipräsidium, gab es am Ende des Demonstrationszuges eine Gruppe, die Einlaß ins Polizeipräsidium verlangte. Es wurde gefordert, daß die Verhafteten freigegeben werden sollen. Fest stand, daß niemand verhaftet war, aber durch Agenten eine solche Losung in die Massen gestreut wurde, um sie zu aggressiven Taten gegen die Polizei zu hetzen. Wenige Zeit später wurde zum Weitermarschieren aufgefordert und erklärt, daß die Verhafteten wieder freigelassen seien.
Am Alex selbst wurden wieder mehrere SED-Mitglieder mit Abzeichen tätlich angegriffen. Zweimal gelang es mir durch meinen persönlichen Eingriff, ernste Prügeleien zu verhindern, indem ich diesen jugendlichen Bauarbeitern klarmachte, daß es eine Schande sei, wenn Arbeiter sich gegenseitig verprügeln. In meiner Auffassung wurde ich auch von älteren Bauarbeitern unterstützt.
Typisch war auch, daß einige hysterische Weiber, die nicht den Eindruck von Arbeiterinnen, sondern [von] westberliner Nutten machten, sehr hetzerische Reden gegen die Regierung und SED hielten.
In persönlichen Diskussionen mit älteren Bauarbeitern ergab sich folgendes:
1. Ein Kollege vom Hochhaus am Strausberger Platz, der seit 1908 gewerkschaftlich organisiert ist, erklärte mir, daß "die Gewerkschaften sich besser hätten einsetzen müssen für die Interessen der Kollegen, damit es nicht erst soweit kommen brauchte." Er war auch der Auffassung, daß der eingeschlagene Weg der Bauarbeiter der Stalinallee falsch sei und [sie] auf anderem Wege ihre Forderungen hätten unterbreiten müssen. Weiterhin vertrat er die Auffassung, daß ihm kein anderer Weg übrig geblieben wäre und durch seine Kollegen aufgefordert wurde, mit zu marschieren. Vormittags bis 9.30 Uhr hätten sie noch eine Versammlung durchgeführt auf der Baustelle, woraufhin dann beschlossen wurde zu demonstrieren. Von ihm wurde die Auffassung vertreten, daß die Normerhöhung eine Verschlechterung der Lebenslage der Bauarbeiter bedeute.
2. Eine Diskussion mit zwei Zimmerleuten vom Industriebau erklärten [sic], daß ihr Lohn von 3,- DM auf 2,02 DM herabgesetzt worden ist. Außerdem wandten sie sich dagegen, daß die angeblich freiwillige Normenerhöhung so durchgeführt wurde, daß Ende Mai Brigadiere, Poliere und Aktivisten zu einer Konferenz am Thälmann-Platz zusammengekommen seien und dort einfach im Namen aller Bauarbeiter die Normen durch einen Beschluß zu erhöhen [sic]. Sie erklärten, daß sie gar nicht danach gefragt wurden. Auch hier handelte es sich um ältere Gewerkschaftskollegen.
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Am Strausberger Platz hatten sich heute früh um 7.00 Uhr neben den Bauarbeitern der Stalinallee Arbeiter anderer Betriebe versammelt. Polizeiketten, die von der FDJ unterstützt wurden, versuchten, die Demonstranten aufzuhalten. Das gelang nur zum Teil, denn die Ketten wurden durchbrochen.
Der Marsch ging über den Alexanderplatz, Unter den Linden und die Friedrichstraße hinauf zum Haus der Ministerien. Unterwegs wurden z.B. die Bauarbeiter der neuen Staatsoper aufgefordert, sich anzuschließen. Vereinzelte Gruppen kamen dieser Aufforderung nach. Am Hause des FDGB Unter den Linden wurde Kollegen, die aus dem Fenster schauten, zugerufen: "Kümmert Euch um unsere Interessen, sonst ist es aus mit Euch."
In der Friedrichstraße wurden mehrere Parteigenossen wegen ihrem Parteiabzeichen angepöbelt und aufgefordert, dasselbe abzulegen. Auch hier wurde von einigen Elementen eine aggressive Haltung gegenüber den Parteigenossen eingenommen.
In einem zweiten größeren Block gingen an der Spitze Gruppen von Jugendlichen, die in Sprechchören folgendes riefen: "Wir sind am Ende unserer Qual, wir fordern freie Wahl." Ferner: "Wir wollen Butter statt Kanonen". Weiterhin: "Es hat alles keinen Zweck, der Spitzbart muß weg". Hierbei konnte festgestellt werden, daß die Sprechchöre gut funktionierten, was darauf schließen läßt, daß westliche Elemente sowohl die Losungen wie auch das Aufrufen organisiert haben.
Eine andere Gruppe rief: "Mann der Arbeit aufgewacht und erkenne deine Macht, alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Teilweise wurde der Sprechchor von Passanten, besonders Frauen, beklatscht.
Ein starkes Gejohle setzte ein, als in der Friedrichstraße die Volkspolizei mit Panzerspähwagen auffuhr, um die Zugänge zum Westsektor zu sichern. Viele erklärten: "Sonst hetzt man in der Ostpresse gegen solche Maßnahmen, wie den Einsatz von Panzerwagen in Westberlin, jetzt ist man aber schon selber so weit." - "Sie werden es nicht wagen, auf uns zu schießen." - "Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter."
In der Friedrichstraße unmittelbar am Ende der U-Bahnstation Stadtmitte wurde von Elementen eine Baubude in Brand gesetzt, die völlig niederbrannte. Später erschien die Feuerwehr. Daraufhin setzte eine lebhafte Diskussion in den einzelnen Gruppen ein, besonders waren es ältere Arbeiter, die erklärten: Wir wollen nur unsere Forderungen vertreten, darum demonstrieren wir, aber solche Verbrechen lehnen wir ab." Als ich ihnen erklärte, daß diese Verbrechen von Agenten, die aus Westberlin entsandt werden, organisiert wurden und die Stimmung der Bauarbeiter ausnutzen, gaben mir die meisten recht.
Die Brandstätte selbst war von vielen Tausenden umsäumt. Ein anderer Teil des Demonstrationszuges stand in der Leipziger Str. vor den Abriegelungsposten der VP, die vor dem Platz des Regierungsgebäudes Absperrungsketten gezogen hatten.
In der Nähe des Regierungsgebäudes gab es einzelne Gruppen, selbst mit Volkspolizisten, in denen eifrig diskutiert wurde. Vor allem wurde die Herabsetzung der HO-Preise verlangt und die Abschaffung der Normen.
gez.
Nohr
[Quelle: SAPMO-BA, FDGB-BuVo Nr. 3646]
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