Siegfried Berger
Der 17. Juni und das Funkwerk Köpenick

[Siegfried Berger, Jg. 1918, hat seinen autobiographischen Bericht über den 17. Juni 1953 im Jahr 1998 in der Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen veröffentlicht. Seit 1950 war er zunächst als Entwicklungsingenieur, dann als Abteilungsleiter für Hochfrequenz-Industriesender im RFT-Funkwerk in Berlin-Köpenick tätig. Seit 1948 stand Berger in Kontakt mit dem Ostbüro der SPD und wurde selbst Mitglied der SPD im westberliner Bezirk Neukölln. Wegen seiner im folgenden geschilderten Aktivitäten am 17. Juni 1953 wurde Siegfried Berger am 20. Juni 1953 verhaftet, von einem sowjetischen Militärtribunal (SMT) zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt und schließlich in das sowjetische Strafgefangenen- und Arbeitslager in Workuta transportiert. In Folge der Verhandlungen der Bundesregierung über die Freilassung der Kriegsgefangenen und SMT-Verurteilten im September 1955 in Moskau wurde Siegfried Berger im Oktober 1955 vorzeitig freigelassen. Er entschied sich, in den Westteil Deutschlands überzuwechseln. - Anm. d. Hg.]

Vom Volksaufstand am 17. Juni wurde ich, wie wohl alle, überrascht. Daher gab es auch keine "Anweisungen" des SPD-Ostbüros, wie ich mich in einer solchen Situation verhalten sollte. Es war allerdings insbesondere seit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 unübersehbar geworden, daß die Politik der SED Staat und Partei in eine tiefe Krise geführt hatte. Die Versorgungslage hatte sich dramatisch verschlechtert als Folge der Reparationsleistungen an die UdSSR, der verstärkten militärischen Rüstung, der anschwellenden Flüchtlingswelle und des Aufbaus eines neuen Arbeitsdienstes in Form der Organisation "Di3enst für Deutschland". Verhaftungen und politische Prozesse nahmen sichtbar zu. Als dann im Frühjahr/Frühsommer 1953 von der SED gefordert wurde, auf "freiwilliger" Basis einer allgemeinen Normerhöhung um zehn Prozent zuzustimmen, die einen Angriff auf die Lohntüten meiner Kollegen bedeutete, wuchs der Unwillen in der Bevölkerung und unter meinen Kollegen immer mehr. Die Verkündung des am 9. Juni 1953 vom Politbüro der SED beschlossenen Neuen Kurses, mit dem allerdings die vorgesehene Normerhöhung nicht zurückgenommen wurde, deutete die Bevölkerung zurecht als Zeichen der Schwäche der Staatspartei. Auch in meinem Betrieb wurden plötzlich auf Anweisung der SED alle Losungen, die das Wort Sozialismus enthielten, entfernt. Gerade dies verdeutlichte die tiefe Krise des Systems.

Am Morgen des 17. Juni forderten mich Mitarbeiter und Kollegen im Funkwerk auf, eine Betriebsversammlung zu leiten, auf der über einen Streik und über eine Demonstration entschieden werden sollte. Da meine politische Einstellung bekannt war, glaubte ich, nicht ablehnen zu dürfen. Doch bat ich sofort zwei Mitarbeiter, umgehend in meine Wohnung zu eilen, um Verschiedenes zu vernichten, denn ich war der Überzeugung, daß dieser Streik niedergeschlagen werden und ich mich in Gefahr begeben würde. Ich gab ihnen Anweisung, welche Bücher sie zu vernichten hätten und welche im Bücherschrank bleiben sollten, damit auf keinen Fall erkennbar würde, daß bewußt aussortiert worden war. Kurth Wirth und Alfred Plischke zogen sofort los, beseitigten auch das im Keller liegende Funkgerät und trugen so dazu bei, daß bei der Hausdurchsuchung wenige Tage später kaum belastendes Material gefunden wurde.

Meine pessimistische Einschätzung unserer Chancen rührte daher, daß ich am frühen Morgen dieses Tages aus unserem Schlafzimmerfenster in Berlin-Karlshorst eine größere Zahl russischer Panzer beobachten konnte, die vorbeirollten und mit ihren Peitschenantennen gegen die Straßenbahn-Oberleitung schlugen und einen Funkenregen erzeugten. Daher wollte ich keine Demonstration, wohl aber einen Streik.

Während die beiden Kollegen meine Wohnung "aufräumten", leitete ich die Betriebsversammlung und ließ abstimmen, wer für Streik und Demonstration ist. Von den ca. 2.000 Versammelten auf dem Werkshof stimmten etwa 17-20 Personen gegen Streik und Demonstration. Aber auch leitende Mitarbeiter des Werkes, so Dr. Vinzelberg und Dr. Kaiser, sprachen sich öffentlich gegen die Regierung aus.

Vor Beginn des Marsches zu den Ministerien hatte ich folgende drei Forderungen und Ziele unseres Streiks aufgestellt und volle Zustimmung erhalten:

1. Rücktritt der Regierung

2. Freie und geheime Wahlen

3. Die Wiedervereinigung

Ich übernahm die Führung des Demonstrationszuges und forderte alle Teilnehmer auf, den Anweisungen unserer Kollegen, die den Ordnungsdienst übernahmen, Folge zu leisten und keinerlei Ausschreitungen oder Beschädigungen irgendwelcher Art zuzulassen. Mein Kollege Hans Erler bot sich an, dem Zug mit seinem Moped vorauszufahren, um vor Zusammenstößen mit Volkspolizisten oder sowjetischen Soldaten zu warnen und Ausweichmöglichkeiten auszuspähen.

Der Zug von mehr als 2.000 Teilnehmern verlief ruhig und diszipliniert. Allerdings wurde er immer länger, denn weitere Einzelpersonen und Gruppen schlossen sich an. Um den Weg abzukürzen, passierten wir in der Nähe des "Schlesischen Tores" für wenige Schritte den Westsektor, um ihn an der Oberbaumbrücke wieder zu verlassen. Als Kollegen den Ost-CDU-Vorsitzenden und stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten, Otto Nuschke, in einer schweren Tatra-Regierungslimousine langsam am Demonstrationszug, der sich gerade ein kurzes Stück auf Westberliner Seite bewegte, vorbeifahren sahen, wurde er von uns aus seinem PKW herausgeholt und der Westberliner Polizei übergeben. Daß dieser Vorgang als Vorwurf in den späteren Verhören und in der Verhandlung des Sowjetischen Militärtribunals (SMT) nicht zur Sprache kam, habe ich vor allem meinen Mitarbeitern und Kollegen zu verdanken.

Nach diesem Vorfall bewegte sich unser Zug auf der Warschauer Straße weiter in Richtung S-Bahnhof. Hier kam uns eine größere Zahl von Volkspolizisten (Vopo) mit ihren Gewehren im Anschlag entgegen. Wir in der ersten Reihe hakten uns gegenseitig ein und versuchten, den Zug zu stoppen, was natürlich sehr schwer gelang. Als die Polizisten uns ihre Gewehrläufe auf die Brust drückten und riefen: "Zurück, oder wir schießen!", kam der Zug langsam zum Halten. Ich erklärte den Vopos, daß wir Arbeiter aus Köpenick wären, aber sie sagten, wenn wir nicht zurückgingen, hätten sie Befehl zu schießen. Langsam bewegte sich die Masse hinter uns zurück. Als die Entfernung zur Polizistenkette etwa gut 50 m betrug, schossen sie doch. Wir hatten etwa 3-5 Verletzte, die wir alle mit in den Westsektor nehmen konnten. Dies war das Ende unseres über fünf Stunden dauernden Protestmarsches. Wir verteilten uns und erfuhren erst jetzt, daß seit 13.00 Uhr im Ostsektor von den Sowjets der Ausnahmezustand ausgerufen worden war. Bevor ich nach Hause ging, informierte ich in Westberlin noch das SPD-Ostbüro über die Ereignisse dieses Tages. Der Bericht ist erhalten geblieben. [Siehe Anlage, d. Hg.]

Meine Westberliner Genossen wollten, daß ich im Westsektor bleibe, aber ich ging zu meiner Familie zurück. Auf Schleichwegen, über Hinterhöfe gelangte ich nach Hause. Ich wollte meine Familie nicht im Stich lassen. In den folgenden Tagen waren die Grenzen nahezu total abgesperrt. Und Hoffnung, mich und meine Familie in Ostberlin oder in der DDR so lange verstecken zu können, bis die Grenzen eventuell wieder offener wurden, hatte ich nicht. So blieb ich in Ostberlin, obwohl ich mit meiner Verhaftung rechnete.

[Quelle: Siegfried Berger, "ich nehme das Urteil nicht an" - Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem Sowjetischen Militärtribunal, Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Band 8, Berlin 1998, S. 17-19]



Anhang

Bericht von Siegfried Berger, Streikführer im Funkwerk Köpenick, an das SPD-Ostbüro, 17.6.1953



[Quelle: [???] 805/54] 17.6.53
17.6.53

Quelle ging mit der Demonstration mit bis ca. 16.00 Uhr.

Der Arbeitsbeginn war normal. Es begann jedoch sofort die Diskussion, ob gestreikt werden soll und man sich der Demonstration anschließen solle. Auf Drängen der Kollegen in den Laborwerkstätten wurde 8.30 Uhr eine Gewerkschaftsfunktionärs-Versammlung einberufen. Hier gelang es, die Forderungen durchzusetzen, daß alle Kollegen für die Demonstration waren.

Es wurden folgende Parolen aufgestellt:

1. Garantierung unserer Verfassung - die jetzigen Regierungsfunktionäre sind keine Garantien und müssen abtreten.

2. Für die Einheit Deutschlands.

3. Für freie gesamtdeutsche Wahlen.

Unter diesen Losungen wurde demonstriert. Die Entscheidung aber wurde nicht im Gremium der Gewerkschaftsfunktionäre gefällt, sondern 10.15 Uhr wurde die gesamte Belegschaft aufgefordert, ihre Stimme dafür abzugeben, ob demonstriert wird oder nicht. Etwa 90 Prozent gaben durch Handzeichen in dieser Versammlung ihr Einverständnis zur Demonstration.

Die Nationalpreisträger Dr. Vinzelberg und Dr. Kaiser erklärten öffentlich auf dieser Versammlung, daß die Regierung nicht mehr das Vertrauen der Belegschaft besitze und abtreten muß. Durch die SED wurde versucht, die Demonstration dadurch abzuwenden, daß man versprach, die Mängel im Betrieb abzustellen, eine neue Werkleitung zu bilden. Dies mißlang, und gegen 11.00 Uhr, trotz starken Regens, setzte sich der Zug in Bewegung. Er war weit größer als anläßlich des 1. Mai. Etwa 1.000 bis 1.500 Belegschaftsmitglieder gingen freiwillig mit. Das im gleichen Gebäudekomplex untergebrachte volkseigene Werk Funkanlagen hatte versucht, durch seinen Werkleiter, Köhnen, die Belegschaft von der Demonstration abzuhalten. Die Funkwerker versuchten, die Kollegen aufzufordern, an der Demonstration teilzunehmen, doch ließen diese sich im ersten Augenblick nicht dazu überreden. Eine Stunde später nahmen sie geschlossen an der Demonstration teil.

Der Zug bewegte sich vom Funkwerk Köpenick nach dem Rathaus unter den Parolen:

"Wir demonstrieren für Funkwerk Köpenick, Einheit Deutschlands und freie Wahlen!"

"Nieder mit der SED-Diktatur - für Demokratie!"

Vor dem Rathaus wurden nochmals die gleichen Parolen in mehreren Sprechchören zur Bezirksverwaltung emporgerufen.

"Ulbricht, Pieck und Grotewohl - daß Euch drei der Teufel hol'!"

Der Demonstrationszug, der sich teilweise noch durch andere Bevölkerungsteile verstärkte, die durch Sprechchöre der Funkwerker zur Teilnahme aufgefordert waren, bewegte sich nach dem Bahnhof Schöneweide, vorbei am HF-Werk und Transformatorenwerk. Diese Werke waren aber schon stillgelegt. Es ging an den Marine-Vopo-Kasernen vorbei. Hier wurden wieder Sprechchöre laut mit Parolen:

"Zieht Eure Uniformen aus und baut mit am neuen deutschen Haus!"

Wir wollen keine Waffen, wir wollen den Frieden schaffen!"

und die anderen bekannten Parolen. Am Innenministerium und den dortigen Vopo-Kasernen wurden die Parolen wieder durch Sprechchöre gerufen.

Von der Köpenicker Landstraße kommend wurde in den Westen eingebogen, um über die Warschauer Brücke an den Alexanderplatz zu gelangen. Kurz vor der Warschauer Brücke kam dem Demonstrationszug ein Personenwagen mit einer GB-Nummer entgegen. In dem Wagen erkannten die Demonstranten den stellvertretenden Ministerpräsidenten Nuschke. Sofort wurde der Wagen umringt. Der Chauffeur wollte unter Gasgeben davonjagen, aber ein gewitzter Kollege griff durchs Fenster und zog den Starterschlüssel heraus. der Zorn einiger Demonstrationsteilnehmer war so groß, daß sie mit Fäusten auf Nuschke und seinen Chauffeur einschlagen wollten, doch konnte man sie davon überzeugen, daß es nicht im Sinn der Demonstration ist, durch Schlägerei die gesteckten Ziele zu erreichen. Nuschke wurde zwei Stumm-Polizisten übergeben.

Die Funkwerker sangen: "Nuschke haben wir festgesetzt - Jetzt geht es zum Alex!" Der etwas kleiner gewordene Demonstrationszug sammelte sich wieder, um über die Warschauer Brücke zum Alex zu gelangen. Die Vopo-Kette kam dem Zug entgegen. Nach Abgabe mehrerer Warnschüsse gaben sie dann auch scharfe Schüsse ab, von denen zuerst nur eine Person getroffen wurde, später wurden weitere verletzt. Der Zug löste sich auf. Die Parole ging durch - kein Blutvergießen - oder: Einzelne versucht zum Alex zu kommen.

Es wurde abgesprochen, daß am nächsten Tag wieder normale Arbeitszeit ist, um dann die weiteren Dinge abzuwarten.





[Quelle: AdsDdFES der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bestand Ostbüro, 0434b, zit. nach: Siegfried Berger, "ich nehme das Urteil nicht an" - Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem Sowjetischen Militärtribunal, Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Band 8, Berlin 1998, S. 53-55.]