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Rundfunkansprache von Ernst Reuter, Regierender Bürgermeister von Berlin
[RIAS, 18. Juni 1953]
Meine lieben Berlinerinnen und Berliner!
Ich freue mich, daß ich endlich wieder in Berlin bin. Es war nicht ganz leicht, pünktlich und rechtzeitig - selbst heute - wieder hierher zu kommen. Als ich am Sonntag von München nach Wien flog, konnte keiner voraussehen, welche Ereignisse hier eintreten würden, und die Hilfe, auf die ich gerechnet hatte, das Zur-Verfügungstellen eines Flugzeugs, hat sich offenbar nicht verwirklichen lassen.
Ich stehe unter dem tiefen Eindruck der Nachricht, die ich auf dem Flugplatz bekam, daß ein Berliner von einem Standgericht im Osten erschossen worden ist, und meine erste spontane Handlung ist eine Intervention gewesen, um zu versuchen, daß alle Kräfte mobilisiert werden, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Mit Standrechten, mit Bajonetten, mit Panzern, kann auf die Dauer ein Volk doch nicht niedergehalten werden. Und es würde furchtbar sein, wenn der Graben, der sowieso schon tief genug ist, nun noch tiefer würde. Jedenfalls müssen wir erwarten, daß die ganze freie Welt, die sich nun wohl doch davon überzeugt haben wird, daß nicht nur die Berliner, sondern alle Deutschen in der Ostzone frei leben wollten, daß sie uns zu Hilfe kommen, denn wir allein können ja das Problem nicht lösen, wenn wir allein wären, dann würde das Problem überhaupt nicht existieren. Wir würden beisammen sein, und wir würden keine Schwierigkeiten haben.
Es ist klar, daß eine Fülle von Problemen durch die Ereignisse, die sich hier abgespielt haben, aufgeworfen werden. Die Probleme werden keineswegs hier in Berlin alleine aufgeworfen, sie gelten für die ganze Welt. Denn was wir hier in Berlin und was wir in der Ostzone erleben, ist eine Mahnung, ist ein Fanal für die ganze freie Welt, die nun endlich begreifen muß, daß sie aus ihrem Zaudern, aus ihrem Nichthandeln, aus ihrem Nichtzusammenkommen, aus ihrem Nichtübereinstimmen heraus muß, und daß sie politisch aktiv werden muß. Und auf der Bühne erscheinen muß - sie ist stärker, sie könnte stärker sein, als sie es sich selbst einbildet, wenn sie einig und geschlossen auftreten würde und wenn sie die politische Initiative selbst in die Hand nähme.
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Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Und die Götter haben bisher die Machthaber in der Sowjetzone immer mit Blindheit geschlagen. Aber vielleicht darf man die Hoffnung nicht aufgeben, daß das, was sich abgespielt hat, ihnen doch klargemacht hat, daß auch ihrer Macht eine Grenze gesetzt ist.
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Wir erneuern unseren Appell an die ganze Welt, die Welt möge endlich begreifen, und ich hoffe, sie wird es jetzt zugeben müssen, daß die Deutschen ein Volk sind, das den Wert der Freiheit kennt, und daß die Deutschen ein Volk sind, das für die Freiheit sich einsetzt.
Die Arbeiterschaft Berlins hat nicht höhere Löhne verlangt, sie hat eine Änderung des ganzen Systems verlangt. Kann die Welt schweigen zu diesem Ruf? Ich glaube, sie kann nicht schweigen, und ich hoffe auch, sie wird nicht schweigen. Wir werden hier in Westberlin an die Arbeit gehen, wir werden selbstverständlich alle Hilfe schaffen, die notwendig ist, darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber wir werden alles tun, um unsere Arbeit, die wir uns immer zum Ziel gesetzt haben - Deutschland wieder zu vereinigen - fortzusetzen.
Es gibt kein Problem, das so dringlich ist, wie die Wiedervereinigung Deutschlands. Es gibt keine Ruhe, es gibt keinen Frieden, ehe dieses Problem nicht gelöst ist. Und ich möchte auch sagen, für jeden von uns, der Herz hat, der Verstand hat, der Sinn hat - kann kein Opfer groß genug sein, um dieses Ziel - Vereinigung Deutschlands - zu erreichen.
[Quelle: Der Aufstand der Arbeiterschaft im Ostsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Tätigkeitsbericht der Hauptabteilung Politik des RIAS in der Zeit vom 16.6. bis zum 23.6.1953, S. 19/20; erstmals gesendet am 18.6.1953 nach 21.00 Uhr, wiederholt zwischen 23.00 Uhr und 23.10 Uhr.]
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