Runderlaß des Staatssekretärs Hallstein

MB 1518/53 20. Juni 1953 (1)

Zur Information

Hinsichtlich der jüngsten Ereignisse in Berlin und der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bitte ich Sie, in Gesprächen mit ausländischen Persönlichkeiten folgende Gesichtspunkte zu verwerten:
  1. Die Demonstrationen und Aufstände in Ostberlin und in anderen Städten der Sowjetzone dokumentieren eindeutig den Freiheitswillen der gesamten deutschen Bevölkerung und widerlegen die These, daß Deutsche nicht bereit sind, sich für ihre Freiheit einzusetzen. Angehörige freier Nationen können sich schwer vorstellen, welch Maß an Mut und Entschlossenheit angesichts eines achtjährigen sowjetischen Terrors dazu gehört, gegen das kommunistische Regime zu demonstrieren.
  2. Irgendwelche Zweifel, die in der westlichen Welt bestanden haben mögen, ob bei freien Wahlen die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone sich für demokratische Parteien aussprechen würde, sollten (2) durch die jüngsten Ereignisse (3) beseitigt sein.
  3. Die Vorgänge in Berlin und in der Sowjetzone haben gezeigt, daß der Parteiapparat der SED und der Staatsapparat der DDR einschließlich der Volkspolizei angesichts einer ernsten Staatskrise völlig versagt haben und nur durch das Eingreifen sowjetischen Militärs gerettet werden konnten. In den beiden Tagen der Unruhen sind in Berlin nicht weniger als 800 Volkspolizisten in Uniform und mit Waffen nach Westberlin übergelaufen.
  4. Die Vorgänge gewinnen dadurch (4) noch an Bedeutung, daß (5), abgesehen von den jüngsten Unruhen in der Tschechoslowakei (6), hier zum ersten Mal in der Geschichte die Arbeiterschaft eines Landes im Namen der Freiheit und der sozialen Besserstellung gegen ein kommunistisches Regime revoltiert hat.
  5. Die Unruhen sind zweifellos hauptsächlich dadurch ausgelöst worden, daß die Bevölkerung den Eindruck gewann, die kommunistischen Machthaber seien tatsächlich im Begriff, die Zügel zu lockern. Wenn selbst Scheingesten der Sowjets derartige Folgen haben können, muß man sich fragen, ob die sowjetischen Machthaber überhaupt in der Lage sind, ernsthafte Konzessionen zu machen, ohne die Basis ihres Machtsystems zu erschüttern.
  6. Der Rückfall der Russen in ein System der nackten Gewaltanwendung muß all denen zu denken geben, die sich in letzter Zeit in Wunschträumen gewiegt haben, daß die Voraussetzungen für eine baldige friedliche Einigung mit Sowjetrußland über die großen schwebenden Fragen Europas und Asiens bereits gegeben sind.
  7. Die Bundesregierung wird in ihren Gesprächen mit den Westmächten nunmehr um so mehr darauf dringen, daß die weltpolitische Initiative nicht Sowjetrußland überlassen bleibt, sondern daß seitens des Westens eine aktive Politik getrieben wird, deren Grundlage und Ausgangspunkt die in Bonn und Paris am 26. und 27. Mai 1952 unterzeichneten Verträge (7) sind.
  8. Noch mehr als bisher wird eine aktive Politik der Wiedervereinigung Deutschlands von den Westmächten im Sinne des Bundestagsbeschlusses vom 10. Juni 1953 (siehe Bulletin Nr. 108 vom 12. Juni) (8) betrieben werden müssen, wenn die vom Sowjetregime in den letzten Tagen gezeigte Schwäche nicht ungenutzt bleiben soll. Dabei geht die Bundesregierung von der Voraussetzung aus, daß eine endgültige Lösung der deutschen Frage nicht nur dem Sicherheitsbedürfnis Deutschlands, sondern auch dem aller seiner Nachbarn, einschließlich der Sowjetunion, wird Rechnung tragen müssen.
Hallstein (9)

VS-Bd. 109 (Büro Staatssekretär)

Anmerkungen:

1) Entwurf. - Der Entwurf wurde von Legationsrat I. Klasse Böker am 19. Juni 1953 konzipiert. Hat Ministerialdirektor Blankenhorn am 19. Juni 1953 vorgelegen.
2) Dieses Wort wurde von Staatssekretär Hallstein handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: "dürften".
3) An dieser Stelle wurde von Staatssekretär Hallstein gestrichen: "worden".
4) Dieses Wort wurde von Staatssekretär Hallstein handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: "insofern".
5) Dieses Wort wurde von Staatssekretär Hallstein handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: "als".
6) Nachdem die tschechoslowakische Regierung am 30. Mai eine Währungsreform mit Wirkung vom 1. Juni 1953 sowie die Aufhebung der Rationierung von Lebensmitteln, Schuhen und Textilien und eine Neufestsetzung der Löhne und Preise bekanntgegeben hatte, kam es in einigen Industriestädten zu Unruhen. Vgl. dazu die Meldung "Demonstrationen und Streiks gegen tschechische Währungsreform"; DIE NEUE ZEITUNG vom 8. Juni 1953, S. 1.
7) Für den Wortlaut des Generalvertrags vom 26. Mai 1952 und des EVG-Vertrags vom 27. Mai 1952 vgl. BUNDESGESETZBLATT 1954, Teil II, S. 59-341 bzw. S. 345-423.
8) Am 10. Juni 1953 forderte der Bundestag die Bundesregierung dazu auf, bei den Drei Mächten darauf zu dringen, "daß diese Mächte alles tun, um die Wiedervereinigung des ganzen Deutschland auf friedlichem Wege herbeizuführen". Das Ziel von Vier-Mächte-Verhandlungen müsse sein: "1) die Abhaltung freier Wahlen in ganz Deutschland; 2) die Bildung einer freien Regierung für ganz Deutschland; 3) der Abschluß eines mit dieser Regierung frei vereinbarten Friedensvertrages; 4) die Regelung aller noch offenen territorialen Fragen in diesem Friedensvertrag; 5) die Sicherung der Handlungsfreiheit für ein gesamtdeutsches Parlament und eine gesamtdeutsche Regierung im Rahmen der Grundsätze und der Ziele der Vereinten Nationen". Vgl. BULLETIN 1953, S. 917.
9) Paraphe vom 19. Juni 1953.

[Quelle: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1953, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, Bd I: 1. Januar bis 30. Juni 1953, München 2001, S. 598-599.]