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[ZK-]Abteilung Leitende Organe der
Partei und Massenorganisationen
30. Juni 1953
Zusammenfassung der wichtigsten Erscheinungen aus den Berichten der Bezirksleitungen vom 29. Juni 1953
I. Zur Arbeit der Partei
Aus den Berichten der Bezirksleitungen ist eine breitere Entfaltung der Aktivität der Parteiorganisationen erkennbar. Die Durchführung der Mitgliederversammlungen ist in allen Bezirken im vollen Gange und es ist ebenfalls eine Verstärkung der Agitationsarbeit festzustellen.
Wie jedoch in den bereits vorhergehenden Tagesberichten erwähnt, ist die Arbeit der Parteiorganisationen oftmals noch zu unsystematisch. Es gibt oftmals keine konkreten Aufgabenstellungen und nur in wenigen Fällen werden von den Mitgliederversammlungen konkrete Beschlüsse gefaßt. In vielen Fällen weichen unsere Genossen vor dem Gegner und falschen Auffassungen größerer Teile der Werktätigen zurück in der Form, daß sie nur ungenügend prinzipielle Auseinandersetzungen über die faschistischen Provokationen vom 17. Juni führen und die Hintergründe und die Organisatoren des "Tages X" nicht entschieden genug entlarven. Das kommt u.a. darin zum Ausdruck, daß der Schwerpunkt der Diskussion nach wie vor auf dem Gebiete der Beseitigung von Mißständen betrieblicher Art und sonstigen Forderungen der Arbeiter liegt.
Die Bezirks- und Kreisleitungen hatten auch am 29. Juni noch keinen genauen Überblick, sowohl zahlenmäßig als auch in Bezug auf den Inhalt, über die durchgeführten Mitgliederversammlungen und öffentlichen Versammlungen. In diesem Zusammenhang muß auf eine Vernachlässigung der Informationsarbeit - wie das in den Betrieben vieler Bezirksleitungen zum Ausdruck kommt - hingewiesen werden. Einige Bezirksleitungen, z.B. Berlin, Schwerin u.a., schreiben, daß ihnen eine konkrete Berichterstattung deshalb unmöglich ist und sie nicht in der Lage sind, die Stimmung der Bevölkerung umfassend einzuschätzen.
Einige Bezirksleitungen, wie z.B. die Bezirksleitungen Halle und Dresden, zogen daraus Schlußfolgerungen für eine Veränderung der Parteiarbeit. Das Sekretariat der Bezirksleitung Halle beschloß, in der Zeit vom 29.6. bis 3.7.erneut in allen Kreisen Parteiaktivtagungen durchzuführen, in denen eine konkrete Aufgabenstellung für die Parteiorganisationen und eine Verbesserung der Anleitung erreicht werden soll. Die Bezirksleitung Dresden konzentriert sich vor allem auf die konkrete Anleitung der Genossen der Massenorganisationen und des Staatsapparates bei der Realisierung der neuen Gesetze und Verordnungen und auf die konkrete Anleitung der Kreisleitungen durch qualifizierte Instrukteure.
Bemerkenswert ist, daß aus einer Reihe von Bezirken (z.B. Berlin, Erfurt und Halle) über eine größere Anzahl von Anträgen um Aufnahme als Kandidaten in die Partei berichtet wird. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Arbeiter und um Jugendliche. Darin kommt eine gewisse Festigung des Vertrauens eines Teiles der Arbeiter zur Partei zum Ausdruck, wie sich überhaupt das Ergebnis der durchgeführten Aufklärungsarbeit in einer immer stärkeren Distanzierung der Arbeiter von den Provokateuren ausdrückt.
In den Mitgliederversammlungen der Partei und in öffentlichen Versammlungen gibt es auf der anderen Seite noch immer Beispiele eines provokatorischen und parteifeindlichen Auftretens einiger Parteimitglieder, wie z.B. in Wittenförden, wo der Parteisekretär der Ortsparteiorganisation in der Mitgliederversammlung den Rücktritt der Regierung und "freie Wahlen" forderte und behauptete, daß der Marxismus, der vor hundert Jahren entstanden sei, für die heutige Zeit keine Gültigkeit mehr habe. In Deutschland könnte nicht die Arbeiterklasse die führende Kraft sein, sondern diese Rolle müsse der Mittelstand übernehmen.
In einigen Fällen wurden von Parteimitgliedern die Forderung gestellt - das trifft auch auf parteilose Verwaltungsangestellte zu -, daß man in Zukunft weniger Parteiversammlungen, Schulungen usw. durchführen sollte, damit für den Einzelnen mehr Freizeit bleibt.
II. Die Lage im Betrieb
Das bereits in den vorhergehenden Berichten festgestellte Abflauen der Zurückhaltung, des Abwartens und des Mißtrauens der Arbeiter gegenüber den neuen Maßnahmen der Partei und der Regierung hält weiter an. Es gibt bereits einen beträchtlichen Teil von Werktätigen, die offen und ehrlich ihre Meinung äußern. Sie begrüßen, daß die Regierung und die Partei jetzt offensichtlich ihre Meinung zu allen Problemen wissen möchte und zu einer wirklichen Überzeugungsarbeit übergegangen sei.
Trotzdem gibt es noch bei vielen Arbeitern Erscheinungen einer bewußten Zurückhaltung, und ein kleinerer Teil unterstützt noch offen feindliche Forderungen wie z.B. Freilassung der Inhaftierten usw. Es gibt auch noch Unklarheiten über den Charakter der Ereignisse des 17. Juni und in einzelnen Fällen (z.B. im Bezirk Suhl - RFT Röhrenwerk Neuhaus - und bei den Forstarbeitern) Streikdrohungen.
Die falschen Meinungen über die Aufgaben der Gewerkschaften [sind, d. Hg.] in der Deutschen Demokratischen Republik immer noch weit verbreitet, und es gelingt dem Gegner in einer Reihe von Betrieben, Beitragszurückhaltungen und sogar Austritte aus dem FDGB zu organisieren. Durch die breitentfaltete Flüsterpropaganda gelang es z.B. dem Gegner im Chemischen Werk Buna, eine große Anzahl von Kollegen dazu zu veranlassen, keine FDGB-Beiträge mehr zu bezahlen. In der Abteilung E 45 wurde von allen Gewerkschaftsmitgliedern die Beitragszahlung verweigert. Ähnliche Erscheinungen gibt es dort auch innerhalb der Freien Deutschen Jugend. Der größte Teil der FDJ-Mitglieder in der Abteilung G 912 bezahlt mit der Begründung, den Lohnausfall der Streiktage dadurch wieder wettzumachen, keinen Beitrag mehr.
Die in den letzten Berichten als Schwerpunkte der Diskussion bezeichneten Probleme werden weiterhin stark diskutiert. Das sind:
- Schönfärberei und ungenügende Aktualität der Presse. - Daran anknüpfend gelang es dem Gegner im Chemischen Werk Buna, ebenfalls einen großen Teil der Abonnenten der "Friedenspost" und der "Tribüne" zur Abbestellung der Zeitungen zu verleiten.
- Falsche und feindliche Auffassungen zur Frage der Intelligenz - Forderungen nach Gehaltskürzungen für Intelligenzler, Funktionäre des Staatsapparates und Offiziere der Volkspolizei.
- Forderung nach HO-Preissenkung.
- Ausarbeitung eines neuen Lohngruppenkataloges.
- Änderung des Ortsklassensystems.
- Änderung der Prämienverteilung.
- Betriebliche Fragen wie Materialversorgung, Beschaffung von sanitären Einrichtungen usw.
Heute treten eine Reihe neuer Fragen in Erscheinung. Das sind
- Forderung nach Wegfall der Nachtarbeit für Frauen (in den meisten Bezirken der Republik);
- weitgehende Gewährung des Haushaltstages für Frauen - im Bezirk Erfurt sagten nichtverheiratete Frauen mit eigenem Haushalt, daß sie alle Arbeiten allein verrichten müssen, die sonst die Männer in der Familie ausführen (Holzhacken und ähnliches); sie möchten dann zumindest im Monat einen Sonnabend, evtl. auch unbezahlt frei haben;
- Im Stahlwerk Riesa wird immer wieder der Wegfall der durchgehenden Arbeitswoche gefordert. Die Arbeiter erklären, die Genossen Selbmann und Elli Schmidt hätten dahingehende Zusicherungen gemacht, und sie verlangen, daß die Genossin Schmidt oder der Genosse Selbmann nach Riesa kommen;
- Forderungen nach Wegfall der Schwerpunktversorgung;
- Diskussionen über eine bevorstehende Arbeitslosigkeit in der Schwerindustrie wegen der Einschränkung der dort geplanten Investitionen.
III. Die Lage auf dem Lande
Die Lage auf dem Lande ist durch eine gewisse Beruhigung der Klein- und Mittelbauern, teilweise auch der Großbauern gekennzeichnet. Allgemein wird die Verordnung über die Sollermäßigung von breiten Kreisen der Bauernschaft begrüßt, insbesondere auch von den Großbauern. In allen Bezirken setzen jedoch provokatorische Elemente, besonders Großbauern, ihre Wühlarbeit fort. Sie versuchen besonders, die Bauern aufzuhetzen, die sogenannte "freie Wirtschaft" zu verlangen. In der Gemeinde Niendorf, Kreis Ludwigslust, beispielsweise wurde durch den Großbauern Sch. aus Raddenford eine Bauernversammlung organisiert, an der 90 Bauern der umliegenden Dörfer teilnahmen. In diesen Versammlungen sollte zu den Unwetterschäden Stellung genommen werden. Man versuchte jedoch, die Forderungen auf Streichung des gesamten Ablieferungssolls, Einführung der sogenannten "Freien Wirtschaft" durchzusetzen.
Fünf Bezirksleitungen melden weitere Austritte aus bzw. Auflösung von LPG's. Aus der LPG Marxvippach, Kreis Erfurt-Land, erklärten 7 Genossenschaftsbauern, darunter der Vorsitzende, ihren Austritt. Aus der LPG Grenzlin, Bezirk Potsdam, wollen 14 Mitglieder austreten. Die LPG Reuden, Kreis Zeitz, löste sich auf Beschluß der Vollversammlung auf. Einige Bezirkskreisleitungen weisen darauf hin, daß austretende Genossenschaftsbauern das Statut nicht mehr anerkennen wollen und die sofortige Rückgabe ihres Landes verlangen.
Die Zersetzungsversuche großbäuerlicher Elemente in Form von Gerüchtemacherei, Drohungen und ähnlichem, halten weiter an.
Einige Bezirksleitungen melden, daß der Klassengegner versucht, die Ernährung der Bevölkerung dadurch zu gefährden, daß er eine Bewegung gegen die fristgemäße Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte zu erzeugen versucht. Er gibt die Parole heraus: Ernst ernten, dann dreschen, dann abliefern!
Die Forderungen der Bauern beziehen sich gegenwärtig hauptsächlich auf:
a) Verbesserung der Düngerversorgung,
b) Liquidierung des Viehaufzuchtplanes, da zu wenig Futtermittel vorhanden sind,
c) bessere Versorgung mit Industriewaren,
d) wirkungsvollere Maßnahmen gegen die Wildschweinplage (besonders im Bezirk Suhl, Erfurt, Cottbus).
Im Zusammenhang mit der Futtermittelknappheit erwähnt die Bezirksleitung Erfurt, daß im Kreise Erfurt-Land Bauern davon sprachen, daß sie das Futtermittellager stürmen würden.
Es gibt eine weitgehende Unzufriedenheit bei den Landarbeitern. Sie erklären, daß man sie bei der Verbesserung der Lebenslage "wieder einmal vergessen" habe. Die Traktoristen bei den volkseigenen Gütern verlangen eine bessere Bezahlung entsprechend den Tarifen der Traktoristen der MTS.
IV. Stimmung der übrigen Teile der Bevölkerung
Auch bei den Handwerkern, Geschäftsleuten und in anderen Teilen des Mittelstandes zeigt sich eine gewisse Beruhigung, nachdem bereits viele Anträge auf Kreditgewährung und auf Wiedereröffnung bzw. Rückgabe ihrer Geschäfte oder Betriebe genehmigt wurden. In allen Bezirken ist ein weiteres Ansteigen dieser Anträge festzustellen. Trotzdem ist noch weitgehend Mißtrauen gegenüber der Politik der Partei und der Regierung vorhanden. Dieses Mißtrauen drückt sich aber nicht mehr darin aus, daß man Zweifel an der Durchführung der beschlossenen Verordnungen hegt, sondern daß gesagt wird: Heute läßt man uns wieder existieren, aber wie wird es in ein bis zwei Jahren aussehen?
Überall - sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande - ist ein Anwachsen der Kritik an der Arbeit des Staatsapparates zu bemerken, insbesondere dort, wo die beschlossenen Maßnahmen nicht unbürokratisch und auf schnellstem Wege realisiert werden (z.B. Königswusterhausen).
Neben den bekannten Argumenten und Forderungen - Kritik an Presse und Rundfunk, HO-Preissenkung, Preise, Qualität, Sortiment und Warenstreuung bei Textilien - ist eine Verstärkung folgender Forderungen zu bemerken:
Keine Austauschprodukte für Fleisch und Fett - Fisch und Eier sollen neben der Kartenbelieferung verkauft werden.
Wegfall des Abzuges bei Wurstwaren.
Bessere Versorgung mit Butter und besonders mit Margarine.
Sehr starke Diskussionen gibt es gegenwärtig über die schleppende Kohlen- und über die Kartoffelversorgung.
Die Neuregelung über den freien Bezug von Baustoffen hat bei größeren Teilen der Bevölkerung (Hausbesitzer, Kleingärtner, die ihre Lauben instandsetzen wollen, Bauern und Handwerkern) große Zustimmung gefunden. Man äußert aber die Befürchtung, daß nicht genügend Baumaterialien vorhanden sein könnten.
V. Feindtätigkeit
Bezirksleitung Wismut
Von der Kreisleitung Johann-Georgen-Stadt wird gemeldet: Heute gegen 11.45 (29.6.) wurden zwischen Johann-Georgen-Stadt und Eibenstock 6 Fallschirme gesichtet, welche in Richtung CSR abgetrieben wurden.
Kreisleitung Wismut Gera meldet, daß am 27.6.53 das Kreisclubhaus Sonneberg abgebrannt ist. Die dort stationierte Wache wurde total besoffen aufgefunden.
Bezirksleitung Halle
Die Kreisleitung Zeitz berichtet, daß am 28.6.53, um 22.00 Uhr, der stellvertretende politische Amtsleiter der VP, Genosse B., von drei Banditen bei Heinsberg überfallen, mißhandelt und zusammengeschlagen wurde. Er befindet sich zur Zeit im Kreiskrankenhaus Zeitz. Am 26.6.53, um 15.45 Uhr, wurde der Stützpunktleiter der Gesellschaft für Sport und Technik, Genosse D., in Profen von zwei Radfahrern überfallen und mißhandelt. In beiden Fällen konnten die Täter entkommen.
Bezirk Cottbus
Der Leiter der MTS Doberlug-Kirchain, Genosse K., wurde in der Nacht vom 25.6. zum 26.6. von vier Jugendlichen tätlich angegriffen.
In Rostock, Halle, Bitterfeld, Saalekreis u.a. werden verstärkt Gerüchte verbreitet, wonach in den Zellen der Gefängnisse Kinder eingekerkert worden seien und Kerker vorhanden sein sollen, in denen die Gefangenen bis zum Hals im Wasser stehen müssen. Im Kreis Bitterfeld verstärkte sich in den letzten Tagen das Gerücht (in sämtlichen Betrieben und in den Oberschulen), daß der 5. August der Tag der Entscheidung sei.
[Quelle: SAPMO-BArch, NY 4062/95, Bl. 155-161.]
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