|
DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK
MINISTERIUM FÜR VOLKSBILDUNG
WILHELMSTRASSE 68
DER MINISTER
TEL. 420018
APP. 106 ZW.
BERLIN W1, DEN 6. JULI 1953
An den
Herrn Ministerpräsidenten
Otto G r o t e w o h l
Berlin W 1
Leipzigerstr. 5-7
Sehr verehrter Genosse Ministerpräsident,
am 29.6. übersandten Sie mir ein Beschwerdeschreiben von Eltern der Oberschule in Pössneck, Bezirk Gera vom 20.6.53. Dasselbe Schreiben war auch mir persönlich von den Pössnecker Eltern zugegangen. Diese Beschwerde brachte zum Ausdruck, dass durch verschiedene Ereignisse die Eltern zu der Auffassung gelangt seien, dass die Durchführung des Ministerratsbeschlusses in Pössneck nicht garantiert sei.
Mit der Überprüfung der Angelegenheit wurde von mir der Leiter der Abteilung Schulinspektion des Ministeriums, Genosse Löbner, sowie der Schulinspektor des Ministeriums, Genosse Rieck, beauftragt.
In der Anlage erhalten Sie den Bericht über die Überprüfung und über die eingeleiteten Massnahmen, die dazu dienen sollen, den unerhörten Zuständen ein Ende zu machen und eine Grundlage zu schaffen für ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen Eltern und Schule. Ich glaube, dass es dem Genossen Löbner gelungen ist, einmal das Vertrauen der Eltern zur Regierung wiederherzustellen, aber auch andererseits die Eltern davon zu überzeugen, dass das Verhalten der erwähnten SED-Funktionäre keinesfalls den Zielen und Auffassungen unserer Partei entspricht.
Anlage!
Mit sozialistischem Gruss
(Prof. Else Zaisser)
Minister
Berlin, den 6.7.1953
B e r i c h t
von der Kontrolle der Durchführung des Ministerratsbeschlusses vom 11.6.1953 in der Oberschule Pössneck
1. Beschwerdeführer:
9 Eltern haben die Beschwerde unterschrieben. Alle Bevölkerungsteile sind vertreten, Arbeiter, Angestellte, Selbständige und Angehörige der Intelligenz. Die Untersuchung ergab aber, dass die in der Beschwerde angegebenen 3 Arbeiter nicht als solche bezeichnet werden können:
Frau Meta Nette: Hausfrau, Gattin eines Dr. Nette, ehemaligen Studienrates der Oberschule Pössneck, seit einem Jahr Lehrer der Oberschule Neustadt-Orla. Sie ist als Jüdin Mitglied der VVN, sie tritt politisch in Pössneck nicht in Erscheinung.
Frau Pawla Appel: angeblicher politischer Flüchtling aus Jugoslawien, nicht berufstätig, ihr Mann ist Inhaber einer Tischlerei.
Frau Gertrud Diesel: ist heute Arbeiterin, ihr Mann war früher Stadtinspektor (verantwortlich für die faschistische Polizei in Pössneck).
Herr Kurt Vogel: Angestellter, ist bisher politisch nicht in Erscheinung getreten.
Herr Otto Selle: ist in der Beschwerdeschrift als Ingenieur angegeben, er ist selbständiger Unternehmer, Mitglied der NDP, hat bisher im Elternbeirat der Grundschule II aktiv und positiv mitgearbeitet. Er ist als politisch fortschrittlich und als Gerechtigkeitsfanatiker bekannt.
Herr Dr. jr. Walter: selbständiger Unternehmer (80 Arbeiter), war enteignet, hat auf Grund des Ministerratsbeschlusses seinen Betrieb wiedererhalten.
Als Initiatoren der Beschwerde wirkten: Zahnarzt Kaergel: Träger des goldenen Parteiabzeichens der NSDAP, Mitglied seit 1928, früher in der Landesleitung der NSDAP in Berlin tätig. Arbeitet nicht politisch. Er übernahm während des Faschismus eine jüdische Praxis in Pössneck und raubte der früheren Inhaberin das Vermögen. Er ist Mitglied der NDP, seine Partei hat ein Ausschlußverfahren gegen ihn aus politischen und moralischen Gründen eingeleitet.
Dr. med Kanzler: Mitglied der NSDAP vor 1933, HJ-Arzt, als aktiver Nazi bekannt. Er ist heute als Betriebsarzt in 2 Betrieben und in den Kindergärten Pössnecks neben seiner Privatpraxis tätig. Nach der Beurlaubung seines Sohnes aus der Oberschule legte er sofort die Betreuung der Betriebe und Kindergärten nieder.
Superintendent Stegmann: Er ist verantwortlich für die Arbeit der Jungen Gemeinde an allen Thüringer Oberschulen. Er nahm in seinen Predigten gegen Massnahmen der Regierung Stellung, ist Mitglied des Bruderrates der Bekennenden Kirche Deutschlands und arbeitet dort mit Pfarrer Niemöller zusammen.
2. Entstehung der Beschwerde:
Am 11.6.1953 erzwangen die Eltern der ausgeschlossenen Schüler eine Elternversammlung, indem sie, die zu einer Aussprache mit der Schulleitung und dem Elternbeirat eingeladen waren, mit etwa 150 Eltern, d.h. cirka 60% der Eltern dieser Oberschule, erschienen. In dieser Elternversammlung nahm man gegen die "Herrschaft der SED" an der Schule Stellung, sprach offen das Misstrauen gegenüber der Schulleitung, einigen Lehrern und der Schulverwaltung in Pössneck aus, wandte sich gegen die Art der Überprüfung der Oberschüler, gegen die Spitzelmethoden in der Oberschule, gegen die Arbeit der FDJ und gegen die willkürliche Änderung der Unterhaltsbeihilfen. Man forderte die Wiederherstellung der verfassungsmässigen Freiheiten und Rechte und die Entfernung der Lehrer Kühn, Gros, Danneberg und Brommer und des FDJ-Sekretärs Wächter. Superintendent Stegmann bezeichnete das Wirken der Parteiorgane der SED als Nebenregierung, er forderte im Namen der Eltern eine Wiederherstellung der Rechte der Staatsorgane und die Verantwortung der Staatsfunktionäre gegenüber der Regierung. Einige Lehrer hatten betont, sie seien nur der Partei der Arbeiterklasse verantwortlich.
Die bei dieser Versammlung aktivsten Diskussionsredner wurden von Dr. Kanzler, Kaergel und Stegmann nach den Ereignissen des 17.6.53 zur Unterschriftsleistung aufgefordert.
3. Inhalt der Beschwerde:
In der Beschwerde wird festgestellt, dass trotz der Verordnung vom 11.6.1953 zwischen der Schüler- und Elternschaft einerseits und der Lehrerschaft, der FDJ-Leitung und der Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises andererseits keine Entspannung eingetreten sei, da Demütigungen von Kindern aus Bürgerkreisen, Überheblichkeiten und Beleidigungen seitens einiger Lehrer und der FDJ-Leitung an der Tagesordnung waren. Die Eltern führten einige Beispiele für die Diffamierungen an. Um die Grundlage für eine gedeihliche Zusammenarbeit zu schaffen, forderten sie Entlassungen von Lehrern der Oberschule
Wenn auch nicht nachgewiesen werden konnte, dass die in der Beschwerdeschrift angegebenen Äusserungen in dieser Form gefallen sind, muss doch festgestellt werden, dass in der Elternschaft ein grosses Misstrauen gegenüber der Schule vorhanden ist. Deshalb wurde zur Klärung aller schwebenden Fragen folgende Unterredungen und Untersuchungen durchgeführt:
Diskussionen mit Schülern der Klassen 10a, 11 b 1, 11 b 2, Unterredungen mit der Kreisleitung der SED (3. Sekretär und Abteilungsleiter, Schulinstrukteur Weber),
Leiter der Abt. für Volksbildung beim Rat des Kreises, Karger, Vorsitzender der BGL der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, Sekretär der BPO der Oberschule, Genossin Brommer,
Direktor Kühn und mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreises, Herrn Engels (NDP)
Überprüfung der Klassenbücher,
Überprüfung der Reifeprüfungsunterlagen,
Überprüfung der abgelehnten Anträge auf Aufnahme in Oberschulen, Aussprache mit den Beschwerdeführern und anderen Eltern am 2.7.53, 18 bis 22 Uhr.
4. Ergebnis der Untersuchungen und Aussprachen:
Die Beschwerdeführer gehören zweifellos nicht zu den fortschrittlichsten Kräften von Pössneck, sie haben sich aber zu Sprechern der berechtigten Unzufriedenheit breiter Kreise der Pössnecker Eltern gemacht und dadurch deren Unterstützung erlangt. Man hat von seiten der FDJ, der SED und der Schulverwaltung alles getan, um die Eltern zu verärgern. Der hauptamtliche FDJ-Sekretär Wächter herrscht auch nach dem 11.6.53 noch diktatorisch in der Schule, er administriert, anstatt zu überzeugen. Der Schüler Linke, FDJ-Funktionär für Propaganda, legte sich ein Buch an, in dem er ganz offen vor den Schülern Aussprüche von Schülern notiert, um diese später zu "erledigen." Kritik der Schüler an ihrer Arbeit tut Wächter als "Sabotage" ab. Den Mitgliedern der Jungen Gemeinde wurde mit Gefängnis gedroht. Bei der Aktion des Umtausches der FDJ-Mitgliedsbücher wurden die Verhöre so durchgeführt, dass die Schülerin Appel danach einen Nervenzusammenbruch erlitt und bei anderen Schülern nervöse Erschöpfungszustände eintreten. Kinder der Handwerker, der Intelligenz und der Selbständigen wurden vor dem 11.6.1953 als "Kinder mit falschen Vätern" bezeichnet.
Um die Oberschüler als Helfer in der Ferienaktion zu gewinnen, wurde ihnen geraten, mit Rücksicht auf ihr weiteres Fortkommen sich "freiwillig" zu melden. Von den 90 Meldungen, die so erzwungen wurden, würden - nach Aussage des Direktors - sofort 60 bis 70% ihre Meldungen zurückziehen, wenn nicht die Gefahr bestände, dass daraus für sie unangenehme Folgen entständen.
Eine Reihe von Schülern wurde für die Arbeit in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften während der Ferien gewonnen. Sie wurden aber von der Schulleitung und FDJ-Leitung darauf hingewiesen, dass dafür keine Entlohnung erfolgt, sondern das verdiente Geld der Schulkasse zugeführt werden solle. Der Schulleiter begründete diese Anordnung damit, dass im Fall der Bezahlung der Ferienarbeit in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften kein Schüler bereit wäre, als Helfer in der Ferienaktion zu arbeiten. Schüler und Eltern sind über diese Massnahme empört.
In Diskussionen wurde jeder "falsche Zungenschlag" als Versöhnlertum, "Feindhetze und Staatsverrat" bezeichnet.
So entstand in der Schülerschaft grosse Unzufriedenheit, teilweise sogar eine offene Feindschaft gegenüber dem FDJ-Sekretär und einzelnen FDJ-Funktionären.
Von der früheren Direktorin Wezel, der Kreisleitung und der Bezirksleitung der FDJ und von der BPO der Oberschule erhielt der hauptamtliche FDJ-Sekretär Wächter keine Anleitung. Er wurde im Gegenteil in seinen verderblichen Arbeitsmethoden noch bestärkt. Wächter selbst stellte fest: "Ich glaube von meinem Geschäftszimmer aus die FDJ leiten zu können."
Diese Zustände führen dazu, dass von seiten der Schüler und der Eltern die Frage nach der Rolle der FDJ in der Oberschule gestellt wurde und dass man in der FDJ den Hauptunruheherd in der Schule sah.
Arbeit der SED in der Schule
In der Zeit vor dem 11.5.53 gab es an der Oberschule Pössneck keine Ausschlüsse von Schülern im Zusammenhang mit der Jungen Gemeinde, aber Mitte Mai wurden den Organen der Schulverwaltung und der Kreisleitung der SED von der Bezirksleitung der SED (Genosse Kiebs) die heftigsten Vorwürfe gemacht. Man forderte endlich auch in Pössneck Ausschlüsse aus der Oberschule. Als Vorbilder wurden andere Oberschulen genannt, in denen 40 bis 50 Oberschüler ausgeschlossen seien. Durch den Druck dieser Organe begann die Schule deshalb, Mitte Mai Schüler auszuschliessen. 20 Schüler wurden entfernt, sie wurden als Staatsfeinde bezeichnet. Die Diskussionen, die den Ausschlüssen vorangingen, wurden in unmöglicher Weise durchgeführt. Frau Nette sagte: "Was von der Regierung angeordnet wurde, wurde hier in unmenschlicher Weise durchgeführt." In allen Gesprächen kam zum Ausdruck, dass die Hauptschuld die Bezirksleitung der SED in Gerä trägt, die die Organe der Schulverwaltung in Pössneck zwang, gegen die Anweisungen des Ministeriums zu handeln, das vom 11.5.53 an alle Entfernungen aus Oberschulen untersagt hatte.
Das Ministerium hatte dafür Bezirkskommissionen eingesetzt, die Ende Mai über die Ausschlüsse von Schülern entscheiden sollten.
Durch die Art der Vernehmungen, die als Verhöre mit Gestapomethoden bezeichnet wurden, und durch die Diffamierung der Mitglieder der Jungen Gemeinde wurden viele Schüler, die vorher kaum Sympathie für die Junge Gemeinde zeigten, in die Reihen dieser Organisation geführt. Dazu trieb sie "ihr Gefühl für Gerechtigkeit, denn sie wussten aus eigener Anschauung, dass die Mitglieder der Jungen Gemeinde nicht alle Staatsfeinde sind". In der Aussprache mit den Eltern sagte eine Mutter: "Ich glaube nicht, dass ein Teil der Kinder so fanatisch war in bezug auf die Junge Gemeinde, aber durch die Verhöre haben die Kinder Schmutz gerochen, das Gift ist durch euch erst in die Kinder hineingestreut worden." Superintendent Stegmann stellte fest: "Es ist gesagt worden, dass die Junge Gemeinde eine Verbrecherorganisation ist. Ich bin für die Junge Gemeinde in ganz Thüringen verantwortlich. Warum hat man mich nicht zur Verantwortung gezogen? Ich bin nicht der Ansicht, dass die Herde angegriffen wird, während der Hirte frei herumläuft. Wir brauchen Menschen, die treu zum Vaterland stehen. Ich habe nun eine Frage, bin ich seit dem Ministerratsbeschluss kein Führer einer Verbrecherorganisation mehr?"
In den Diskussionen kam zum Ausdruck, dass durch die Massnahmen der FDJ und der Staatsorgane die Junge Gemeinde gestärkt und ihre Mitglieder zu fanatischen Anhängern geworden sind. In Diskussionen, die mit Mitgliedern geführt wurden, wurde festsgestellt, dass die Schüler zur Jungen Gemeinde gegangen sind, weil dort "mehr los war" und weil man dort seine Meinung frei sagen durfte, "ohne befürchten zu müssen, notiert zu werden", und weil dort nicht nur der Intellekt, sondern auch das Gefühl angesprochen wurde.
5. Durchführung des Ministerratsbeschlusses:
Obwohl sofort nach Bekanntwerden des Ministerratsbeschlusses die ausgeschlossenen Schüler wieder aufgenommen wurden, ist keine Beruhigung wieder eingetreten, weil diese Massnahme allein nicht genügt, das Vertrauen der Schüler und Eltern wieder herzustellen, und weil in den Arbeitsmethoden der FDJ keine Änderung eingetreten ist. Von den ausgeschlossenen 20 Schülern kehrten nur 15 wieder zurück. Die 5 übrigen Schüler weigerten sich, aus dem Westen wiederzukommen. Viele Eltern fürchten, dass sich ähnliche Vorfälle wiederholen. Sie betonten, dass zu dieser Annahme auch Veranlassung bestände, denn der FDJ-Sekretär hat festgestellt, dass sich für ihn die Linie der FDJ nicht geändert habe. Er habe nach dem 11.6.53 keine Anweisung oder Anleitung von seiten der FDJ erhalten. Eine Diskussion über den Ministerratsbeschluss erfolgte in der FDJ nicht. Auch aus der "Jungen Welt" hatte er bisher keine Anleitung für seine Arbeit erhalten. Als weiterer Grund für die Weigerung und für die noch vorhandene Unsicherheit unter vielen Schülern wurden die Argumentation der Presse und der SED angegeben, in der betont wurde, dass die Fehler darin bestanden hätten, dass man das Tempo zu sehr beschleunigt hätte. Man befürchtet, dass man jetzt wohl einige Massnahmen zurückgenommen habe, dass man aber in späterer Zeit mit denselben Massnahmen wieder rechnen müsse. In dieser Stellungnahme zeigt sich das immer noch vorhandene Misstrauen gegen die Arbeit der SED. So wurden heftige Angriffe gegen den Schulinstrukteur der Kreisleitung der Partei in Pössneck, den Genossen Weber, geführt. Er war in der letzten Zeit fast täglich in der Oberschule, führte Verhandlungen mit dem Direktor und dem Reifeprüfungskommissar und nahm an der Überprüfung der FDJ und an der mündlichen Reifeprüfung teil. Man begegnete seiner Arbeit mit Misstrauen, denn man sieht in ihm das Organ, das in der Schule den radikalen Kurs der Bezirksleitung Gera durchsetzte.
In der Besprechung am 2.7.1953 wurde von den Eltern gefragt, welche Funktion Herr Weber eigentlich habe und worin seine Vollmachten bestünden. Durch seine Arbeit war der Eindruck entstanden, als wäre er der Dienstvorgesetzte des Direktors. Ingenieur Selle führte aus, dass er seinen Kindern den Auftrag erteilt habe, bei der nächsten Prüfung, bei der Herr Weber zugegen sei, sofort den Raum zu verlassen. Superintendent Stegmann stellte die Frage, wem Staatsfunktionäre verantwortlich sind, der SED, wie es die Lehrer bei jeder Gelegenheit betonen, oder der Regierung der DDR. Diese Frage wurde dadurch veranlasst, dass Lehrer und Verwaltungsfunktionäre in Pössneck gegenüber der Kritik der Bevölkerung immer wieder betonten, nur der SED Rechenschaft schuldig und verantwortlich zu sein.
Die Kreisleitung der SED in Pössneck mischt sich in die einfachsten innerschulischen Fragen ein. So wurde ein Sekretariatsbeschluss gefasst, den Lehrer Gros als stellv. Direktor einzusetzen, obwohl die BPO und auch der nach der Erkrankung der Direktorin Wezel kommissarisch als Direktor eingesetzte Lehrer Kühn dagegen protestierten, da Gros unzuverlässig ist und sich über die Bedeutung des Ministerratsbeschlusses nicht im klaren ist.
Die Abteilung für Volksbildung beim Rat des Kreises arbeitet als Anhängsel der Kreisleitung der SED. Durch diesen Praktizismus der Kreisleitung ist von der Anleitung der BPO zur Verbesserung der Parteiarbeit in den Schulen nicht viel zu merken.
6. Durchführung der Reifeprüfung 1953
Vom Rat des Bezirks Gera war Herr Mudring, Direktor einer Grundschule, als Reifeprüfungskommissar eingesetzt. Er besass keine Erfahrung auf dem Gebiet der Oberschulen und versagte deshalb restlos. Es kam zu groben Verstössen gegen die Reifeprüfungsordnung des Ministeriums. Die Protokollführung entsprach nicht den Anforderungen, in einem Fall konnte Urkundenfälschung nachgewiesen werden. Die Eltern führten heftige Klagen gegen seine Art der Prüfungsleitung. Charakteristisch für die Durchführung der Reifeprüfung in Pössneck ist die Behandlung der Abiturientin Appel. Diese, selbst nicht Mitglied der Jungen Gemeinde, zeigte in der FDJ-Arbeit keine Aktivität. Sie hatte in Deutsch als Vorzensur eine 2 erhalten. Da sie im Prüfungsaufsatz die Note 4 erhielt, riet die Direktorin Wezel dem Fachlehrer, die Vorzensur auf 3 abzuändern, damit er sich nicht blamiere. In der mündlichen Prüfung erhielt die Schülerin eine 2. Die Überprüfung der Unterlagen ergab, dass die 2 als Vorzensur auf jeden Fall gerechtfertigt war. Die Korrektur des Reifeprüfungsaufsatzes war nicht einwandfrei. So wurden viele Wendungen als "reiner Idealismus" bezeichnet, in denen das Wort "Seele" und das Wort "heilig" angeführt wurden! In Geschichte erhielt Appel als Vorzensur ebenfalls eine 2. In der mündlichen Prüfung wurden ihre Leistungen mit 3 bewertet. In der Gesamtzensur erhielt sie in Geschichte eine 3. Zwei andere Schüler, die genau wie Appel eine einwandfreie 2 als Vorzensur erhalten hatten und die mündliche Prüfung auch mit 3 bestanden, erhielten als Endzensur in Geschichte eine 2. Fachlehrer und komm. Direktor konnten für die durchgeführten Massnahmen keine Begründung angeben. Deshalb wurde die Gesamtzensur Geschichte der Schülerin Appel auf 2 abgeändert.
7. Aufnahmen in die Oberschule
Eine Überprüfung der durchgeführten Aufnahmen und der ausgesprochenen Ablehnungen beim Rat des Kreises, Abt. Volksbildung, ergab, dass in dieser Hinsicht gut gearbeitet wurde. Vor dem 11.6.1953 wurden 182 Schüler aufgenommen, darunter befindet sich eine hohe Anzahl von Arbeiter- und Bauernkindern. Nach dem 11.6.53 wurden noch 20 Schüler hauptsächlich aus den Reihen des Mittelstandes aufgenommen. Anlässlich der Überprüfung der Aufnahmen am 3.7.53 wurden noch 6 Schüler zusätzlich aufgenommen. Die Sollzahl des Volkswirtschaftsplanes wird erreicht.
8. Arbeit des Elternbeirates
Der Elternbeirat geniesst nicht das Vertrauen der Eltern. Er hat sich an der Beseitigung der Mißstimmung unter den Eltern nicht beteiligt. Der Vorsitzende des Elternbeirates, Herr Böhme, brachte zum Ausdruck, dass er offiziell weder vom Ausschluss der Oberschüler noch von der Mißstimmung unter den Eltern gewusst habe, deshalb habe für ihn kein Anlass bestanden, irgendetwas zu unternehmen.
9. Verlauf und Ergebnis der Diskussion mit den Eltern
Die Aussprache mit den Beschwerdeführern und anderen eingeladenen Eltern wurde am Anfang ziemlich scharf geführt. Die Eltern forderten die Entlassung des komm. Direktors Kühn, des FDJ-Sekretärs Wächter, des Abteilungsleiters Karger und einiger anderer Lehrer. Empört schilderte man die Arbeitsmethoden der FDJ und der "Verhöre", die zu Ausschlüssen aus der Oberschule führten. Der Zahnarzt Kaergel zeigte sich in der Diskussion besonders aggressiv und erweiterte die Forderungen der Eltern dadurch, dass er den Rücktritt der Regierung verlangte. Als er merkte, dass die übrigen Beschwerdeführer ihn deshalb ablehnten, versuchte er, diese Forderung abzuschwächen und als Mißverständnis hinzustellen. Es ist notwendig, aufmerksam Kaergel zu beobachten. Die Kreisleitung der Partei und der Rat des Bezirks wurden entsprechend informiert. In der Diskussion gelang es, die Eltern durch eine klare Darstellung der begangenen Fehler und vor allem durch eine wertvolle selbstkritische Stellungnahme des komm. Direktors Kühn von der Ehrlichkeit des neuen Kurses zu überzeugen. Die Eltern brachten zum Ausdruck, dass Vertrauen zur Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vorhanden ist, und sie begrüssten das schnelle Eingreifen des Ministeriums für Volksbildung und dankten für die Art der Diskussion. Den Eltern wurden von seiten des Ministeriums folgende Massnahmen vorgeschlagen, die die Vertrauensbasis wiederherstellen soll.
- Kontrolle der abgelehnten Anträge auf Aufnahme in die Oberschule bei der Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises.
- Durchführung einer FDJ-Versammlung in der Oberschule am 4.7.53, in der zur Arbeit der Freien Deutschen Jugend und des hauptamtl. Sekretärs offen Stellung genommen werden soll.
- Es sind in Zukunft regelmässige Klassenelternabende durchzuführen. Die Lehrer wurden angewiesen, gewissenhafter als bisher ihre vorgeschriebenen Elternbesuche durchzuführen.
- Überprüfung der Reifeprüfungsunterlagen der Schülerin Appel und entsprechende Entscheidung.
- Der Vertreter des Elternbeirates ist regelmässig zu den Sitzungen des Pädagogischen Rates einzuladen; der Direktor wird verpflichtet, dem Elternbeirat regelmässig neue Versordnungen des Ministeriums bekanntzugeben.
- Das Ministerium für Volksbildung verpflichtet sich, für die Reifeprüfung 1954 einen qualifizierten Vertreter als Reifeprüfungskommissar zu entsenden.
- Das Ministerium für Volksbildung verpflichtet sich, im Dezember 1953 eine erneute Aussprache mit den Eltern durchzuführen.
Die Eltern erklärten sich mit diesen Massnahmen einverstanden und bekräftigten, dass diese Massnahmen die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus darstellen.
10. Angeordnete Massnahmen
In der Elternversammlung wurde Einverständnis mit den Eltern erreicht, obwohl die Vertreter des Ministeriums den Forderungen nach personellen Veränderungen nicht nachgegeben haben. Trotzdem wurden nach Rücksprache mit der Kreisleitung der SED, den Abteilungen für Volksbildung beim Rat des Kreises Pössneck und des Bezirks Gera folgendes angeordnet:
- Die bisherige Direktorin Wezel wird von ihrer Funktion entbunden.
- Der bisherige komm. Direktor Kühn wird als Direktor der Oberschule bestätigt.
- Der hauptamtliche FDJ-Sekretär Wächter wird für das Studium an der technischen Fachschule Ilmenau freigegeben und in Pössneck durch einen qualifizierten FDJ-Sekretär (Lehrer) ersetzt.
- Der Lehrer Danneberg wird wegen fachlicher Unfähigkeit an die Grundschule versetzt.
- Das Reifeprüfungszeugnis der Abiturientin Appel wurde vernichtet. Ein neues Zeugnis mit der Zensur 2 in Geschichte wurde ausgestellt.
- Die Abteilung für Volksbildung beim Rat des Bezirks wurde angewiesen, die Oberschule Pössneck bei der Vorbereitung der Elternbeiratswahlen intensiv anzuleiten.
- Die Abteilung für Volksbildung beim Rat des Bezirks Gera wurde angewiesen, die Bezirksschulinspektoren zu veranlassen, bei Dienstreisen Rücksprachen mit den stellv. Vorsitzenden der Räte der Kreise durchzuführen, auch wenn diese nicht Mitglieder der SED sind.
gez. Löbner
gez. Rieck
Zaisser
(Unterschrift)
[Quelle: SAPMO-BArch, NY 4090/435, Bl. 34-41.]
|