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Fritz Selbmann
Der neue Kurs und die Frage der Macht
Rede im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf, 5. August 1953
Kolleginnen und Kollegen, Genossen, liebe Freunde,
wenn ich zum neuen Kurs der Regierung Stellung nehmen will, dann will ich damit verbinden auch eine Stellungnahme zu den Ereignissen der letzten Wochen. Insbesondere auch eine Stellungnahme zu den Ereignissen am 17. Juni. Der neue Kurs der Sozialistischen Einheitspartei und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wurde festgelegt in dem Kommuniqué des Politbüros der SED vom 9. Juni und in den Beschlüssen des Ministerrats der Republik vom 11. Juni dieses Jahres. Was war der Sinn dieser Beschlüsse der Sozialistischen Einheitspartei und der Regierung? Darüber ist in den letzten Wochen sehr viel diskutiert worden. Aber sehr viele Menschen haben aus diesen Beschlüssen und aus diesem Kommuniqué zunächst nur das herausgehört, was über Fehler gesagt wurde. Und die Diskussion in den letzten Wochen hat sich zu einem großen Teil erstreckt auf die Fehler, die die Regierung und die Partei angeblich oder tatsächlich gemacht hat.
Es ist notwendig, wenn man von Fehlern in der Politik spricht, auch von der grundsätzlichen Linie der Politik einer Partei und einer Regierung zu sprechen. Was war und ist die Generallinie der Politik der Sozialistischen Einheitspartei und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik? Diese Generallinie zeigt sich in all dem, was wir seit dem Jahre 1945 im Gebiet unserer Republik durchgeführt haben, und es ist deshalb notwendig, wenn man die wirkliche grundsätzliche Linie unserer Politik kennenlernen will, sich mit den politischen Begebenheiten und Ereignissen seit dem Jahre 1945 auseinanderzusetzen.
Und wenn wir diese Auseinandersetzung mit unserer Politik seit 1945 vornehmen, dann zeigt sich, daß die Generallinie unserer Politik absolut richtig war, ja, daß diese Generallinie noch heute gilt und richtig ist.
Denn was haben wir seit 1945 politisch geleistet? Im Jahre 1945 haben wir nach dem Zusammenbruch der faschistischen Diktatur ein schreckliches Chaos in der gesamten Wirtschaft und im Staat übernommen. Wir haben aus diesem Chaos, das wir 1945 übernommen haben, wieder eine gesunde Wirtschaft und einen fortschrittlichen Staat aufgebaut. War diese Generallinie falsch? Nein, sie war richtig!
Wir haben nach 1945 die Bodenreform durchgeführt, d.h. wir haben die Barone und Junker aus unserem Lande gejagt und haben ihr Land den armen Bauern gegeben - diese Politik war richtig.
Wir haben das alte kapitalistische Bildungsmonopol beseitigt und haben dafür gesorgt, daß zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wirklich Arbeiter- und Bauernkinder auf unseren Schulen, auf unseren Universitäten studieren können. War diese Politik richtig oder war sie falsch? Sie war richtig!
Und wir haben das Land Arbeitern und Umsiedlern gegeben, war diese Linie richtig oder war sie falsch? Diese Linie war richtig!
Wir haben die Banken- und Geldreform durchgeführt, wir haben die privaten Großbanken enteignet, haben ein staatliches Banken- und Geldsystem aufgebaut und damit die Herrschaft des Finanzkapitals in unserer Republik beseitigt. War diese politische Haltung richtig oder war sie falsch? Sie war richtig!
Wir haben die Kriegsverbrecher enteignet, haben Monopole der Kapitalisten zerschlagen und haben eine starke, leistungsfähige volkseigene Wirtschaft aufgebaut, in der die Betriebe nicht mehr privaten Kapitalisten, sondern den Werktätigen gehören. War diese Politik richtig oder war sie falsch? Diese Politik war richtig!
Wir haben einen Staat der Werktätigen aufgebaut, einen Staat, in dem zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands das werktätige Volk wirklich die Macht in Händen hat. War diese Politik richtig oder war sie falsch?
Wir haben den Kampf geführt um die Einheit unseres Landes und um die Erhaltung des Friedens. Das war die Generallinie unserer Partei, das war die Generallinie unserer Regierung, und deshalb: wenn wir heute die Frage stellen, war die Generallinie unserer Partei und unserer Regierung richtig, jawohl, diese Linie war richtig.
Und diese Politik hat - das kann kein objektiver Beurteiler bezweifeln - zu großen Erfolgen geführt. Wir haben eine große, starke, leistungsfähige, volkseigene Industrie aufgebaut. Wir haben neue Hüttenwerke gebaut, neue Stahlwerke aufgebaut, wir haben aus den Trümmern, die der Krieg hinterlassen hat, eine leistungsfähige, starke und gesunde Industrie errichtet.
Denken wir heute nur einmal, was euch besonders als Stahlwerker interessiert: Wir hatten früher im Gebiet unserer Republik eine Eisenerzeugung von 250.000 Tonnen im Jahr. In diesem Jahre allein erzeugen wir vier Mal soviel Eisen, als früher die Republik erzeugt hat, und die nächsten Jahre wird unsere Roheisenerzeugung mehr als das Sechsfache von dem betragen, was wir noch vor vier Jahren in unserer Republik produziert haben.
Wir haben neue Stahlwerke aufgebaut: Stahlwerk Brandenburg, Edelstahlwerk Düllen. Wir haben unsere Werke ausgebaut und modernisiert, darunter auch das Stahl- und Walzwerk Wilhelm Florin in Hennigsdorf. Und wir haben - das sage ich mit aller Deutlichkeit, und wir brauchen uns damit nicht zu verstecken -, wir haben im Vergleich zum Lebensstandard der Arbeiter, einschließlich der Arbeitslosen in Westdeutschland, einen Lebensstandard geschaffen, der besser ist als der Lebensstandard der großen Massen der Werktätigen in Westdeutschland.
Nun gibt es manche Menschen, die sagen, ja aber der Beschluß vor einem Jahre, mit dem planmäßigen Aufbau des Sozialismus zu beginnen, dieser Beschluß war falsch. Entspricht der Beschluß, den Sozialismus aufzubauen, den Interessen der Arbeiterklassen oder nicht? Er entspricht den Interessen der Arbeiterklassen, und deshalb sagen wir auch heute mit aller Deutlichkeit und Eindeutigkeit, jawohl, auch der Beschluß, unsere Republik auf den Weg zum Sozialismus zu führen, auch diese Politik war richtig, ist richtig und bleibt richtig!
Aber bei der Durchführung der Beschlüsse, die vor einem Jahr gefaßt worden sind, sind Fehler gemacht worden. Und der Hauptfehler war der, daß wir glaubten, daß es möglich sei, schneller zum Ziel zu kommen, wenn wir in verstärktem Maße unsere Schwerindustrie als die Grundlage in unserer industriellen Entwicklung aufbauen, wenn wir, um eine schnelle Steigerung unserer Maschinenproduktion zu erreichen, zunächst die Basis unserer Hüttenindustrie schneller entwickeln. Ohne Zweifel war die Einschlagung eines Tempos in der Entwicklung unserer Schwerindustrie und im Aufbau der nationalen Streitkräfte unserer Republik nicht in vollem Einklang mit den realen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung standen, und war nicht genügend abgewogen im Hinblick auf die Gesamtsituation in Deutschland.
Diese Beschleunigung des Tempos auf dem Wege des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in unserer Republik führte zwangsläufig zu einem verschärften Kampf gegen alle kapitalistischen Elemente und führte zwangsläufig zu Maßnahmen, die große Opfer für unsere Bevölkerung bedeuteten. Unsere überhöhten Aufwendungen für Investitionen zum Aufbau der Schwerindustrie, unsere überhöhten Aufwendungen für die Stärkung und den Ausbau unserer nationalen Verteidigung beeinträchtigten die Entwicklung der Versorgung der werktätigen Menschen mit Waren des täglichen Lebensbedarfs und führten dazu, daß wir nicht in dem gleichen Maße, wie wir an den Grundlagen des Sozialismus arbeiteten, auch die Mittel zur Verfügung hatten zur schnellen Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung.
Daraus resultierten eine Reihe von Beschlüssen unserer Regierung in der ersten Hälfte dieses Jahres, die ohne Zweifel nicht genügend durchdacht waren und die letzten Endes zu einer Verschlechterung der Lage der Arbeitenden geführt haben. Die Regierung hat bei der Durchführung ihrer Generallinie einige Fehler gemacht, aber sie hat diese Fehler gemacht in ernster Sorge um das Wohl der Republik und im ernsten Glauben, daß durch eine solche Politik, wie wir sie eingeschlagen haben, die Lebenslage der Bevölkerung schneller verbessert werden könnte, durch die Schaffung sicherer Grundlagen unserer wirtschaftlichen Entwicklung.
Als wir die Beschlüsse zum beschleunigten Aufbau der Schwerindustrie, zur beschleunigten Schaffung der Grundlagen des Sozialismus und zum schnellen Aufbau unserer nationalen Streitkräfte faßten, lebten wir in der Periode des Kalten Krieges. Und es bestand die Gefahr, daß dieser Kalte Krieg schnell umschlagen könnte in den Heißen Krieg.
Inzwischen hat sich einiges in der Welt geändert. Die Gefahr eines Heißen Krieges ist heute weitgehend zurückgedrängt. Der Abschluß des Waffenstillstandes in Korea, die wachsenden Widersprüche im kapitalistischen Lager, die Schwierigkeiten der Vereinigten Staaten im eigenen Lande, der wachsende Einfluß der Kommunisten in Frankreich und Italien und die schnell wachsende Kraft des Friedenslagers in der ganzen Welt sind Beweise dafür, daß die Gefahr eines Heißen Krieges heute wesentlich geringer ist, als das vor einem Jahre der Fall war. Aus diesem Grunde war es möglich, Beschlüsse zu fassen, die eine Korrektur des politischen Kurses, der vor einem Jahr beschlossen wurde, bedeuten und die es uns ermöglichen, das Tempo im Aufbau unserer Schwerindustrie, unserer nationalen Verteidigung zu verlangsamen und an deren Stelle größere Mittel, größere Teile des Volkseinkommens freizumachen für die schnelle Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung unserer Republik.
Es ist klar, daß damit auch verbunden sein mußte eine Korrektur in unserem Kampf um die Einheit unseres Landes. Das überhöhte und beschleunigte Tempo des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus, verbunden mit dem schärfsten Kampf gegen kapitalistische Elemente, führte auch zu einer Erschwerung des Kampfes um die Einheit unseres Vaterlandes, führte zu einer wachsenden Republikflucht und begünstigte damit die Politik derjenigen, die an einer Spaltung unseres Landes interessiert sind.
Alle diese Auswirkungen veranlaßten die Regierung und das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei zu dem Beschluß, den politischen Kurs zu ändern, eine Wendung in unserer Wirtschaftspolitik durchzuführen. Der Inhalt dieses neuen Kurses ist mit wenigen Worten zu kennzeichnen: Der neue Kurs hat zum Inhalt eine schnelle Verbesserung des Lebens bei uns - oder wie es Otto Grotewohl in der Volkskammer gesagt hat: Jeder Mensch soll bei uns in kurzer Zeit besser leben, mehr zu essen haben und mit mehr Konsumgütern versorgt werden, als das in Westdeutschland der Fall ist, um so den Arbeitern in Westdeutschland zu zeigen, daß der Weg, den wir gegangen sind, der richtige ist, und damit unseren Kampf um die Einheit unseres Vaterlandes auf demokratischer Grundlage zu unterstützen.
Der Beschluß unserer Partei und der Regierung auf eine Änderung des politischen Kurses führte bei den Westdeutschen und westlichen kapitalistischen Ländern und ihren Politikern zu einer eigenartigen Wirkung. Es war klar: Wenn es uns gelang, den Kurs schnell zu ändern, wenn es uns gelang, die Umstellung unserer Wirtschaft so durchzuführen, daß in Kürze eine wesentliche Besserung in der Lebenslage der Arbeiter eintritt, wenn es uns gelang, die dadurch hervorgerufene wachsende Unzufriedenheit bei den Arbeitern schnell zu beseitigen, wenn es uns gelang, die Erschwernisse im Ost-West-Verkehr und damit die Erschwernisse im Kampf um die Einheit Deutschlands schnell zu überwinden - es ist klar, daß das eine Gefährdung der von westlicher Seite betriebenen Kriegspolitik bedeutete.
Aus diesem Grund löste unsere Kursänderung in Bonn eine Panik aus und führte dazu, daß von westlicher Seite versucht wurde, durch einen faschistischen Putschversuch die Regierung der Republik an der Durchführung ihres neuen Kurses zu hindern.
Laßt mich einige Bemerkungen machen über den Putschversuch vom 17. Juni und über seine Hintergründe. Im Westen Deutschlands hat man seit Monaten gesprochen von dem bevorstehenden Tag X, d.h. von dem Tag, an dem die Deutsche Demokratische Republik aufgerollt werden sollte und durch eine vollkommene Änderung der Machtverhältnisse in unserer Republik dieser Teil unseres Landes ebenfalls eingegliedert werden sollte in die von Adenauer geführte Bundesrepublik Deutschland, so daß damit die Deutsche Demokratische Republik ein Bestandteil des westlichen Kriegspaktsystems geworden wäre. Wenige Tage vor dem 17. Juni zeigte sich an einigen Börsen eine interessante Erscheinung. Sowohl in West-Berliner als auch an westlichen Börsen stiegen plötzlich die Aktien von Aktiengesellschaften, die früher große Betriebe in der Deutschen Demokratischen Republik hatten. Das war z.B. der Fall bei den Papieren der AEG, das war der Fall bei den Betrieben des Flick-Konzerns, das war der Fall bei Aktien der Dessauer Kontinentalen Glasgesellschaft. Alle diejenigen großen Konzerne, die früher im Gebiet unserer Republik große Betriebe gehabt haben und sie verloren haben, konnten plötzlich an den westdeutschen und West-Berliner Börsen eine starke Steigerung der Kurse ihrer Aktien verzeichnen. Das ist nicht zufällig. Natürlich wußten diese Herren bereits, daß der Tag X bevorstand, und natürlich kannten sie die von dem Forschungsbeirat, der vom Minister Kaiser in Bonn eingesetzt worden war, vorgesehenen Maßnahmen zur Wiedereingliederung, wie es wörtlich heißt, der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik. Wir wissen heute, daß bei einem Erfolg dieses Putsches unsere volkseigenen Betriebe wieder in die Hände jener alten Monopolkapitalisten gekommen wären, wieder in die Hände der Flick, Thyssen und Krupp gelangt wären und der IG-Farben-Industrie, daß unsere Neubauern von ihrem Land vertrieben worden und die alten Junker und Barone wieder in unsere Republik gekommen wären.
Nun, der Putsch ist zusammengebrochen. Und heute weint man im Westen in den Zeitungen der kapitalistischen Monopole, daß bei der Niederschlagung dieses Putschs einige der Agenten, die sich zu sehr exponiert haben, zu Schaden gekommen sind. Es ist eigentlich verwunderlich. Was hat man denn eigentlich von uns erwartet? Was hat man denn eigentlich von uns geglaubt? Hat man vergessen, daß wir einmal einen 30. Januar 1933 in Deutschland erlebt haben? Hat man vergessen, daß wir sechs, acht, zehn und zwölf Jahre in faschistischen Kerkern gesessen haben? Hat man vergessen, daß wir den Faschismus aus unmittelbarer Nähe kennengelernt haben und nicht vor ihm kapituliert haben? Hat man geglaubt, wir lassen zu, daß unsere volkseigenen Betriebe, unser Eisenhüttenkombinat Stalin, unser Stahlwerk Riesa, unser Stahlwerk Hennigsdorf, unser Stahlwerk Brandenburg, hat man geglaubt, daß wir diese unsere Betriebe wieder in die Hände von Flick, Thyssen und Krupp übergehen lassen würden? Was hat man eigentlich geglaubt? Man hat geglaubt, man kann bei uns einen faschistischen Putsch inszenieren, man kann Arbeiter verhetzen zum Streik und zu Unruhen gegen die Regierung. Man kann HO-Geschäfte überfallen und demolieren, man kann Konsum-Verkaufsstellen in Brand stecken, man kann Volkspolizisten niederschlagen und kann sich an Arbeiterfunktionären vergreifen. Man hat geglaubt, man kann das alles machen, und wir kapitulieren und wehren uns nicht. Hat man gedacht, wir sind Pazifisten oder Sozialdemokraten alten Schlages, die der Gewalt weichen wie 1932 Karl Severin? Haben wir nicht immer gesagt, wir werden kämpfen gegen den Faschismus, wir werden kämpfen gegen den Krieg, wir werden kämpfen für den Frieden? Und nun, als wir angefangen haben zu kämpfen gegen ein faschistisches Abenteuer, jetzt auf einmal ist man ganz erstaunt, ist erschrocken und weint Krokodilstränen, weil einige unvorsichtige Provokateure zu Schaden gekommen sind.
Liebe Freunde, was mich persönlich betrifft: Ich war zwölf Jahre, vom 11. April 1933 bis zum 29. April 1945, ununterbrochen in faschistischen Kerkern. Zwölf Jahre, das sind mehr als 4.000 Tage und Nächte, von denen ich einige Jahre isoliert in Dunkelarrest gesessen habe. Und eines habe ich mir und tausend anderen meiner Genossen, die heute mit mir in der Regierung, in der Verwaltung und in unserer Partei stehen, geschworen: Alles, aber niemals wieder Faschismus in Deutschland.
Und eines der wichtigsten Probleme ist, daß die Arbeiter, auch die Arbeiter, die am 17. hereingefallen sind, heute verstehen und begreifen, daß sie verführt und verleitet wurden von Menschen, die nicht ihrer Klasse angehören und nicht die Interessen ihrer Klasse vertreten, sondern die im Dienste der Feinde unseres Landes und im Dienste der Feinde der Arbeiterklasse standen.
Liebe Freunde, wir erinnern uns alle des 30. Januar 1933. Sind dort auch Arbeiter mitmarschiert mit der SA? Ja. Waren dort Arbeiter bei der Demonstration, beim Fackelzug am 30. Januar vor dem Reichskanzlerpalais? Ja. Aber am 8. Mai 1945, als der Faschismus zusammenbrach, da haben 90 oder 95 Prozent, die damals mitgelaufen sind, gesagt: wir haben es nicht gewußt, daß wir mißbraucht wurden. Vielleicht sagen jetzt auch schon eine Anzahl Menschen, die am 17. mit nach West-Berlin gelatscht sind: Wir haben nicht gewußt, daß wir mißbraucht wurden. Vielleicht sagen auch einige, die sich ein Bettelpaket in West-Berlin holen, ich bin wieder einmal irregeführt worden. Aber dieses Argument muß endlich einmal aufhören.
Man kann nicht immer und immer wieder gegen die eigenen Interessen und gegen die Interessen der Arbeiterklasse handeln und sich hinterher immer herausreden, ich hab es nicht gewußt, und ich bin irregeführt worden.
Solange Arbeiter am 17. hier im Werk mit der vorübergehenden Niederlegung der Arbeit irgendeiner Unzufriedenheit oder Forderung Ausdruck geben wollten, gingen die Dinge noch hin. Wer nach West-Berlin marschierte, mußte sich schon etwas mehr Gedanken machen. Und wer merkte, wie er in West-Berlin in den Omnibus gepackt wurde und durch den Sektor gefahren und bewirtet wurde, um dann drüben auf der anderen Seite des Sektors losgelassen zu werden, der mußte eigentlich schon merken, was los ist. Er mußte es merken, wenn er die Inszenatoren und die Initiatoren dieser faschistischen Provokation gesehen hat. Ich habe sie gesehen. Sie wissen, daß ich am 16. Juni, also am Tage vorher, vor einer solchen Demonstration von Bauarbeitern vorm Hause der Ministerien gesprochen hatte. Und ich habe dort die Regisseure dieses Putschs gesehen, ich habe dort diese Figuren gesehen, die aus West-Berlin in Sambiahemden, in Texashemden mit Bürstenköpfen und mit Ringelsocken zwischen den Bauarbeitern provozierten. Ich habe einen Blick für Faschisten. Ich habe gewußt, daß dort die Arbeiter mißbraucht werden von faschistischen Provokateuren.
Natürlich muß man eines sehen, daß nicht nur diese West-Berliner Provokateure die Führung dieser Aktion in Händen hatten. Man muß sehen, wir sehen das sehr deutlich und klar, daß sich in unseren Betrieben, vor allen Dingen in großen Betrieben, eine sehr beachtliche Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Arbeiterschaft vollzogen hat.
Wir haben nach dem Jahre 1945 Hunderttausende guter Arbeiterfunktionäre aus den Betrieben herausgezogen, in Staatsfunktionen, die Leitungen der Werke, in den Handel, zum Aufbau der Volkspolizei, auf die Schulen und Universitäten. Hunderttausende der besten klassenbewußten Arbeiter sind auf diese Weise in die Organe der Staatsführung hineingewachsen, und an ihrer Stelle sind in sehr viele Großbetriebe Leute eingeströmt, die klassenmäßig mit der Arbeiterschaft nichts zu tun hatten. Also Nazi-Lehrer, Nazi-Beamte, bankrotte Bauern, Gastwirte und ähnliche klassenfremde Elemente, die zu einem großen Teil heute in manchen Großbetrieben Unterschlupf gefunden haben, die dort arbeiten, aber die uns hassen, weil sie arbeiten müssen.
Wir können nicht erwarten, daß diese Leute eine besondere Liebe zu uns empfinden, denn sie müssen bei uns arbeiten. Diese Leute denken an nichts anderes, als daß die alten Zeiten noch einmal wiederkommen, wo sie wieder Justizamtmann und Schullehrer und Gendarm und Großbauer und Gastwirt und Kolonialhändler sein können. Es ist klar, daß diese klassenfremden Teile der Arbeiterschaft am 17. Juni als erste den faschistischen Provokateuren gefolgt sind.
Wir sind uns auch heute vollkommen darüber klar, daß in manchen Großbetrieben eine ausgesprochene faschistische Untergrundorganisation besteht. Daß faschistische Zellen bestehen, daß Gruppen des sozialdemokratischen Ostbüros bestehen, die als die Agenten westlicher Auftraggeber in unseren Betrieben hetzen und organisieren. Warum erwähne ich das hier? Ich erwähne das deshalb, weil ich möchte, daß vollkommene Klarheit darüber herrscht: Wenn wir erst einmal wissen, daß diese Gefahr da ist, dann verlassen Sie sich darauf, wissen wir auch den Weg, mit dieser Gefahr fertig zu werden.
Über eines muß vollkommene Klarheit herrschen: Es gibt heute noch viele Arbeiter, die am 17., wenn auch nur für einige Stunden, mitgemacht haben, die sagen: Wir haben doch bloß gestreikt für irgendwelche Forderungen. Am 17. Juni hat in der Deutschen Demokratischen Republik kein Streik stattgefunden, sondern der Versuch eines faschistischen Staatsstreichs, und kein Arbeiter kann sich heute damit entschuldigen, er hätte nur mitgestreikt, sondern er ist das Opfer von Initiatoren eines faschistischen Putschs geworden.
Wir unterscheiden sehr wohl zwischen Provokateuren und ehrlichen Arbeitern. Diejenigen Arbeiter unserer Stahlwerke hier in Hennigsdorf, die am 17. Juni - ich glaube in ihrer weitaus übergroßen Mehrheit - im Werk geblieben sind, dafür gesorgt haben, daß die Öfen in Gang gehalten wurden, die im Stahlwerk geblieben sind, um dann die Arbeit wieder fortzusetzen, die werfen wir nicht in den Topf mit Provokateuren oder faschistischen Agenten.
Ich habe vorhin gesagt, am 17. Juni hat kein Streik stattgefunden, denn ich stelle die Frage, marschiert man bei einem Streik nach West-Berlin, einige in Holzpantinen, marschiert man bei einem Streik nach West-Berlin und läßt sich dort mit Kaffee bewirten, marschiert man bei einem Streik nach West-Berlin und läßt sich mit den Beförderungsmitteln des Reuter-Senats nach dem Ostsektor bringen? Seit wann loben die Kapitalisten die Arbeiter, wenn sie streiken? So ist es doch heute. Ihr solltet nur Gelegenheit haben, die Presse der ausgesprochen großkapitalistischen Banken zu lesen, wie diejenigen, die sich am 17. mißbrauchen ließen, gelobt werden. Einer dieser kapitalistischen Soldschreiber schrieb vor einigen Tagen sogar, der 17., das wäre Deutschlands größte Revolution gewesen. Das ist eine schöne Revolution. Eine Revolution, die von faschistischen Agenten organisiert ist, eine Revolution, die von kapitalistischen Monopolen finanziert wird, eine Revolution, die von einem Lande, in dem der Kapitalismus uneingeschränkt herrscht, von den Vereinigten Staaten finanziert und propagiert wird. Was kann das schon für eine Revolution sein? Das kann nichts anderes sein als der Versuch einer Konterrevolution gegen die Macht der Arbeiter und Bauern in der Deutschen Demokratischen Republik.
Liebe Freunde, wenn man streikt, muß man ja wissen, für was man streikt oder gegen was man streikt. Ich habe mir die Mühe gemacht, einmal zusammenzustellen, was allein in unserem Industriezweig in den Jahren 1951, 1952 und 1953 in unseren Betrieben gebaut wurde an sozialen, hygienischen, gesundheitlichen, kulturellen und anderen Anlagen. In diesen drei Jahren, in den ersten drei Jahren des Fünfjahrplans, wurden allein in den Betrieben unseres Industriezweigs im Jahr 1951 für Kultur-, Sozial-, Gesundheits- und Nachwuchsanlagen ausgegeben 23.000.964 Mark, 1952 30.000.795 Mark, 1953 31.000.900 Mark. Insgesamt in diesen drei Jahren sind das 86.659.000 Mark. [ ... ]
Insgesamt wurden also bis Ende 1953 gebaut allein in unserem Industriezweig sieben Kulturhäuser, fünf Clubhäuser, acht Kulturhallen, ein Kulturhaus ist noch in der Fortführung. [ ... ] Kindertagesstätten wurden errichtet in unserem Industriezweig, im Jahre 1951 fünf, 1952 drei, 1953 vierundzwanzig, so daß in den drei Jahren insgesamt an 32 Betrieben Kindertagesstätten mit 3.200 Plätzen gebaut wurden.
Jugend- und Sportanlagen wurden gebaut, im Jahre 1951 ein Jugenddorf in der Maxhütte, im Jahre 1952 drei Pionierlager für Riesa, Maxhütte und Hennigsdorf. Im Jahre 1953 zwei Pionierlager für das Eisenhüttenkombinat Stalin und das Stahlwerk Brandenburg. An Sportanlagen wurden gebaut: Im Jahre 1952 eine Sporthalle in Gröditz und zehn Sportplätze, im Jahre 1953 drei Sporthallen, zwölf Sportplätze, ein Tennisplatz, ein Freibad, eine Leichtathletikhalle und eine Radrennbahn. An Sozialanlagen wurden gebaut im Jahre 1952 Küchen- und Speisehallen für 18.250 Plätze, im Eisenhüttenkombinat Stalin für 4.000 Plätze, in Kalbe für 2.000, in der Maxhütte für 6.000, in Döhlen, 1.600, in Freiberg für 1.000, in Riesa für 2.500 Plätze. Im Jahr 1953 werden Küchen und Speisesäle gebaut: Im Eisenhüttenkombinat Stalin für 8.000 Portionen, in der August-Bebel-Hütte für 2.000, im Bleierz Freiberg für 2.000 und in Riesa für 3.500. Man hat insgesamt in den letzten zwei Jahren Küchen und Speiseräume gebaut für rund 35.000 Plätze. An Gesundheitsanlagen wurden in unseren Betrieben gebaut: 1951 eine Poliklinik in Brandenburg und Kinderkrippen in Riesa und Krötig, 1952 eine Poliklinik im Eisenhüttenkombinat Stalin und eine Poliklinik in Helbracht. Hinzu kommen 18 Sanitätsstellen und 12.000 Ruheräume. [... ]
Ich habe vorhin gesagt, liebe Freunde, wenn man streikt, muß man doch wissen, wofür oder gegen was man streikt. Nachdem ich aufgezählt habe, was in diesen drei Jahren an größeren Investitionen auf dem Gebiete des Kultur-, Sozial- und Gesundheitswesens allein in unseren Betrieben durchgeführt wurde, stelle ich die Frage: Können Arbeiter dagegen streiken? Gibt es einen Grund für Arbeiter, zu streiken angesichts einer solchen Entwicklung allein in unserem Industriezweig und in den übrigen Industriezweigen unserer Republik? Ich hatte vor kurzem eine Diskussion mit einem Arbeiter in einem Berliner Betrieb, der hatte auch - wie er sagt - gestreikt an dem Tag. Nachdem wir längere Zeit diskutiert haben, sagt er, ich muß jetzt weg. Ich sage: Wohin? - In die Betriebszahnstation. Betriebszahnstation? Gab es das früher auch, als euer Betrieb noch ein Konzernbetrieb war? Da fiel ihm auf einmal ein, gegen was er gestreikt hatte.
Liebe Freunde, deshalb sagen wir: Wir wollen aufhören mit dem Geschwätz, daß am 17. Juni ein Streik stattgefunden hat. Am 17. Juni gab es keinen Streik der Arbeiter, sondern den Versuch eines faschistischen Putsches, und die Niederschlagung dieses Putschversuchs bedeutet die Verhinderung der Gefahr des Faschismus und der Gefahr eines neuen Krieges auf dem Boden unserer Republik. Darum war alles richtig, was der Niederschlagung dieses Putsches diente.
[Quelle: SAPMO-BArch, TD 257, abgedruckt in: Volker Koop, Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003, S. 387-396.]
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