[Das folgende Dokument wurde von Dr. Jan Foitzik im Zusammenhang mit der Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" erstmals vollständig veröffentlicht. Es stammt aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation.

Der Bericht wurde laut Begleitschreiben vom Leiter der Abteilung für politische Fragen der DDR beim Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland, A. L. Orlow, am 19. November an W. S. Semjonow geschickt.]

Geheim. Ausfertigung Nr. 1

[Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland] Bericht über die politische und wirtschaftliche Lage der DDR im 3. Quartal 1953

I. Politische Stimmung der Bevölkerung der Republik

[...]

II. Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit

In Verbindung mit der Durchführung des neuen Kurses wurden mehrere geltende Gesetze und Verordnungen sowie Strafpraktiken der Gerichte in der DDR revidiert.

Die Regierung der DDR forderte die Justizorgane in ihrem Beschluß vom 11. Juni 1953 auf, alle Untersuchungs- und Gerichtsfälle sowie Urteile zu überprüfen, um falsche Entscheidungen zu korrigieren. In Übereinstimmung mit diesem Beschluß haben die Gerichts- und Staatsanwaltschaftsorgane zum 4. September 1953 insgesamt 22.138 Fälle überprüft, die 29.469 Personen betreffen.

Revidiert wurden Urteile gegen Personen, die folgende Verbrechen begangen hatten:
  1. Vergehen am Volkseigentum 7.957 Personen
  2. Steuerhinterziehung 900 Personen
  3. Nichterfüllung von Pflichtablieferungen 2.532 Personen
  4. Verletzung innerdeutscher Handelsregelungen 2.872 Personen
  5. Antidemokratische Verbrechen 3.526 Personen
  6. Andere Arten von Verbrechen 11.682 Personen
Die Justizorgane stellten wegen Geringfügigkeit der begangenen Vergehen die Verfahren gegen 4.229 Personen ein, und bei 16.043 Personen wurde Strafaussetzung auf Bewährung angewandt. Gegen 7.456 Personen wurden in der Voruntersuchung die Haftbefehle aufgehoben. Außerdem wurden auf Beschluß von Bezirkskommissionen 1.210 auf Bewährung entlassenen Personen die ihnen früher konfiszierten Wirtschaften zurückgegeben.

Diese Maßnahmen wurden von der Bevölkerung positiv aufgenommen und trugen in gewissem Maße zur Verbesserung der politischen Stimmung bei.

[...]

Die Gerichtsprozesse gegen die Anstifter der Provokationen vom 17. Juni, die in der DDR stattfanden, entlarvten die Drahtzieher der Provokationen - die amerikanischen und westdeutschen Agenturzentralen. Die Vorgänge vom Juni erforderten von den Gerichts- und Staatsanwaltschaftsorganen präzises und rasches Vorgehen bei der strafrechtlichen Belangung der Organisatoren und Anstifter der Provokationen. Die Untersuchung und die gerichtliche Behandlung dieser Straftaten wurde von einer Gruppe verantwortlicher Mitarbeiter der zentralen Gerichts- und Untersuchungsorgane geleitet, und auf lokaler Ebene wurden die Gerichte aus den erfahrensten Richtern sowie geprüften Schöffen und Rechtsanwälten zusammengesetzt.

Es wurde die Anweisung erlassen, bei der Behandlung von Straftaten in Verbindung mit der Juni-Provokation ein differenziertes Herangehen anzuwenden. Gemäß dieser Anweisung wurden die Gerichtsorgane darauf orientiert, gegen die Organisatoren und Anstifter der Provokationen strenge Strafen anzuwenden. Gegen die Arbeiter, die an den Provokationen nicht aktiv teilgenommen hatten, sondern lediglich zur Demonstration erschienen waren, wurden Maßnahmen der gesellschaftlichen Einwirkung angewandt.

Wegen Verdachts der Organisation und der Teilnahme an provokatorischen Aktivitäten wurden insgesamt 7.663 Personen festgenommen. 4.393 Personen - 57 Prozent - wurden wegen fehlender Begründung für die Festnahme bzw. deswegen wieder freigelassen, weil ihre strafrechtliche Verfolgung für unangebracht befunden worden war. Bei den Organen der Staatsanwaltschaft waren Akten über 3.060 Personen eingegangen, davon wurden die Verfahren gegen 1.193 Personen wegen mangelhafter Begründung für strafrechtliche Belangung wieder eingestellt. Die Gerichtsorgane haben von den 1.791 strafrechtlich belangten Personen 482 Personen, also 26,9 Prozent, freigesprochen bzw. die gegen sie angestrengten Verfahren eingestellt.

Insgesamt sind zum 5. Oktober durch Gerichte der DDR 1.240 Teilnehmer der Provokationen verurteilt worden, darunter:

Arbeiter 1.090
Mitglieder der SED 59
Unternehmer 70
Mitglieder der LDP 21
Bauern 46
Mitglieder der CDU 22
Großbauern 15
Mitglieder der NDPD 16
Sonstige 90
Mitglieder der DBD 17
Mitglieder der FDJ 197

Unter den verurteilten Organisatoren und Anstiftern der Provokationen sind 138 ehemalige Mitglieder nazistischer Organisationen und 23 Einwohner West-Berlins.

Die angewandten gerichtlichen Repressalien werden durch folgende Daten charakterisiert:

Freiheitsentzug bis zu einem Jahr 468 Personen
Freiheitsentzug zwischen 1 und 5 Jahren 619 Personen
Freiheitsentzug zwischen 5 und 10 Jahren 87 Personen
Freiheitsentzug von mehr als 10 Jahren 14 Personen
Lebenslängliche Haft 4 Personen
Todesstrafe 2 Personen
Sonstige Strafen 46 Personen

Das Maß der gerichtlichen Repressalien ist in den besonders charakteristischen und wichtigen Fällen im wesentlichen richtig. In vielen Fällen ist das Strafmaß jedoch viel zu mild. Dies wird dadurch bestätigt, daß 41,4 Prozent der Verurteilten Freiheitsstrafen von weniger als einem Jahr erhielten. Das Oberste Gericht der DDR hob 43 Urteile von Bezirksgerichten gegen 64 Straftäter auf und verwies auf die Notwendigkeit der Anwendung eines härteren Strafmaßes.

Eine Reihe von Fehlern wurde in der Gerichtspraxis aufgrund des im "Neuen Deutschland" erschienenen feindseligen Interviews des ehemaligen, inzwischen aus der SED ausgeschlossenen Justizministers Fechner zugelassen, der versucht hatte, die Gerichts- und Untersuchungsorgane darauf zu orientieren, von strafrechtlicher Verfolgung der Anstifter und Organisatoren der Provokationen abzusehen.

Somit gab es unter den Angehörigen der Staatsanwaltschafts- und der Gerichtsorgane einzelne Personen, die Kleinmut oder sogar auch Feindseligkeit gegenüber der DDR gezeigt hatten. Die Hauptmasse der Mitarbeiter der Gerichte und der Staatsanwaltschaft der DDR hatte das Wesen der Provokationen vom 17. Juni jedoch richtig begriffen und in diesen Tagen die nötige Standhaftigkeit bewiesen und die vor ihnen stehenden Aufgaben im wesentlichen richtig gelöst.

Die Materialien der Gerichtsprozesse gegen die Anstifter der Provokationen werden von den Parteiorganisationen der SED und von der demokratischen Presse in großem Umfang für Agitations- und Propagandaarbeit in der Arbeiterklasse und in anderen Bevölkerungsschichten ausgewertet mit dem Ziel, feindselige Aktivitäten der westlichen Reaktionäre zu entlarven sowie die Wachsamkeit gegenüber den Umtrieben der Feinde der DDR zu verstärken.

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III. Situation in den bürgerlichen und den neuen Parteien der DDR

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IV. Wirtschaftliche Situation

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V. Organisatorisch-politische und ideologische Arbeit der SED

In Verbindung mit dem Übergang zum neuen Kurs und als Auswirkung der Lehren aus den Ereignissen des 17. Juni hat die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands im 3. Quartal eine Reihe von Maßnahmen vorgemerkt und in die Wege geleitet, die darauf abzielen, die Verbindung der Partei zur Arbeiterklasse zu festigen und die politische Stimmung unter den Arbeitern zu verbessern.

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Nach den Juni-Vorgängen widmet die SED dem Kampf für die Einheit und die Reinheit ihrer Reihen größere Beachtung. Mit der Entlarvung der parteifeindlichen Gruppierung Zaisser/Herrnstadt ist der Kampf gegen Kapitulanten und parteifeindliche Elemente wesentlich aktiver geworden.

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Im August und September gab es in Leipzig, Altenburg und Dresden Stellungnahmen von Parteimitgliedern gegen die Führung des ZK sowie Versuche einiger ehemaliger Sozialdemokraten, eigene Gruppen zu bilden und in der DDR die sozialdemokratische Organisation wiederzubeleben. Der Kampf gegen diese Erscheinungen wird nur schwach geführt. Das ZK der SED und die lokalen Parteiorgane studieren die politische Situation an den Herden der Massenaktionen der Arbeiter am 17. Juni nicht tiefgründig genug, sie haben diese Aufgabe an die Organe der Parteikontrolle und der Staatssicherheit delegiert. Noch nicht tiefgründig genug werden die Ursachen für den Austrittt von Arbeitern aus der Partei untersucht und daher auch keine Maßnahmen zum Kampf gegen diese Erscheinung ergriffen. Nach Angaben des ZK sind vom 17. Juni bis 15. August 1.737 Mitglieder aus der Partei ausgetreten, darunter sind 50 Prozent Arbeiter aus der Produktion, 66 Prozent Mitglieder mit einer Parteizugehörigkeit von fünf bis acht Jahren, 338 ehemalige Mitglieder der SPD und 193 ehemalige Mitglieder der KPD.

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In der ideologischen Massenarbeit, insbesondere in der Arbeiterklasse, wurde der Entlarvung der feindlichen Propaganda, die auf die Diskreditierung des neuen Kurses und der von der Regierung der DDR ergriffenen Maßnahmen abzielt, und dem Kampf gegen chauvinistische und revanchistische Stimmungen keine gebührende Beachtung geschenkt. In der Partei ist die Unterschätzung der ideologischen Massenarbeit, darunter auch in der Arbeiterklasse, noch nicht überwunden. Dies äußert sich darin, daß die verantwortlichen Funktionäre der Partei und des Staatsapparates, die Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der Partei, die Direktoren der Betriebe und Leiter der Massenorganisationen auf Versammlungen von Arbeitern und Angehörigen anderer Bevölkerungsschichten sehr selten mit politischen Referaten auftreten. Agitation und Propaganda haben in vielen Fällen formellen Charakter, es kommt häufig vor, daß sie der Beantwortung alltäglicher Fragen von Arbeitern und anderen Werktätigen ausweicht. Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre verbringen viel zu wenig Zeit unter den Massen und unterhalten sich nur wenig mit Arbeitern.

Ausgangsnummer: 002/020b
19. November 1953

[Quelle: Jan Foitzik, Berichte des Hohen Kommissars der UdSSR in Deutschland aus den Jahren 1953/54. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, in: Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (Hg.), Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Band II/2, Baden-Baden 1995, S. 1367-1418.]