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Runderlaß des Staatssekretärs Hallstein
210-00 MB 405/53 geheim
10. Dezember 1953 (1)
Zur Information
Betr.: Außenpolitische Lage vor der Viererkonferenz
I. Sowjetisch-westalliierter Notenwechsel und Vorbereitung einer Viererkonferenz.
Mit der Sowjetnote vom 26.11. ist die Frage des Zustandekommens einer Viermächtekonferenz zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion wieder in ein akutes Stadium getreten. Der vorausgegangene Notenwechsel hatte eine so erhebliche Verschiedenheit der Standpunkte ergeben, daß der Eindruck entstanden war, als wollten die Sowjets einer solchen Konferenz aus dem Wege gehen. Insbesondere die Sowjetnote vom 3.11., deren Bedingungen vom Westen als unannehmbar empfunden worden sind, hatte diesen Eindruck bestärkt. Die unmittelbar nachher abgegebenen Erklärungen Molotows und Wyschinskijs (2) lassen jedoch erkennen, daß die Sowjetregierung mit einer so negativen westlichen Reaktion nicht gerechnet hatte. Die Sowjetnote vom 26.11. bestätigt dies.
Nach hiesiger Auffassung bedeutet die in der neuen Note erklärte Bereitschaft zur Einberufung einer Viererkonferenz keine Änderung der sowjetischen Politik, sondern lediglich eine Fortsetzung der Reihe von taktischen Manövern, die die Aufsplitterung der westlichen Front und die Verhinderung der EVG und der Integration Westeuropas zum Ziele haben. Auch die letzte Note läßt erkennen, daß die Sowjets von ihren Forderungen nicht abrücken wollen, wenn sie auch ihre Anerkennung nicht mehr zur Vorbedingung für das Zustandekommen einer Viererkonferenz machen.
Ähnlich wie schon vorher für die Behandlung der Deutschlandfrage im einzelnen besteht die Sowjetregierung jetzt für die Behandlung des gesamten Komplexes der weltpolitischen Spannungen auf eine Reihenfolge, die vom deutschen Standpunkt aus Gefahren in sich birgt. Dies gilt insbesondere für die Behandlung der Frage der europäischen Sicherheit vor der Deutschlandfrage und im Zusammenhang mit dem sowjetischen Bestreben, den anglo-sowjetischen Pakt von 1942 (3) und den französisch-sowjetischen Pakt von 1944 (4) wieder aufleben zu lassen und sie in Verbindung mit dem Potsdamer Abkommen zu einem ausschließlich gegen Deutschland gerichteten Vertragssystem auszubauen.
Die Bundesregierung hat sich trotzdem immer wieder für die Abhaltung einer Viererkonferenz ausgesprochen. Hieran hat sich auch nach der letzten Sowjetnote nichts geändert. Eine solche Konferenz ist notwendig, um festzustellen, ob die Sowjetregierung zu einer echten und friedlichen Lösung der Probleme bereit ist. Von größter Wichtigkeit ist es allerdings nach hiesiger Auffassung, daß die Westmächte in eine solche Konferenz nur nach gründlicher Vorbereitung und nach Herstellung einer gemeinsamen politischen Front eintreten. Die Bermuda-Konferenz (5) hat deshalb erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Westmächte haben der Bundesregierung zugesichert, daß sie im Stadium der Vorbereitung und auch während einer Viererkonferenz selbst in den Fragen, die für Deutschland von Interesse sind, konsultiert wird, wie sie es im übrigen anläßlich des bisherigen Notenwechsels immer in loyaler Weise getan haben. Um die aktuelle und die künftige Abstimmung zwischen den westlichen Alliierten und der Bundesregierung in diesen für das Schicksal Deutschlands entscheidenden Monaten zu sichern, habe ich auch meine letzte Reise zu den Vereinten Nationen benutzt, um Gespräche mit den Herren Foster Dulles, Allan Dulles, Robert Bowie (Leiter des Planungsstabs des State Department) und Botschafter David Bruce sowie mit Sir Ivone Kirkpatrick (der gerade seine Stellung als Permanent Secretary des Foreign Office angetreten hatte) (6) zu führen.
Zur Präzisierung des deutschen Standpunktes zu den mit der Wiedervereinigung Deutschlands zusammenhängenden Fragen, d.h. insbesondere "Gesamtdeutsche Wahlen" und "Status einer gesamtdeutschen Regierung", sind von der Bundesregierung umfangreiche Vorarbeiten geleistet worden. Ebenso haben sich die drei Westalliierten auf ihren vorbereitenden Konferenzen mit diesen Fragen ausführlich beschäftigt und das Ergebnis ihrer Überlegungen der Bundesregierung zur Stellungnahme übermittelt. Die Koordinierung der deutschen und der alliierten Auffassung ist im Gang.
Nach hiesiger Auffassung ist es nicht sinnvoll, die Frage eines europäischen Sicherheitssystems anzuschneiden, bevor nicht eine Viererkonferenz zeigt, welche Aussichten sich für die Lösung des Problems der deutschen Wiedervereinigung ergeben. Entgegen den in der Presse vielfach aufgetauchten Meldungen ist deshalb auch davon abgesehen worden, zu dieser Frage detaillierte Vorschläge auszuarbeiten. Die grundsätzliche Bereitschaft, an einem allgemeinen Sicherheitssystem teilzunehmen, ist dagegen von der Bundesregierung - zuletzt vom Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 20.10. (7) - wiederholt festgestellt worden. Die beste Grundlage für ein solches Sicherheitssystem sieht die Bundesregierung in der EVG, deren Struktur jedes eigenmächtige Vorgehen von Mitgliedstaaten gegen dritte Mächte unmöglich macht - eine Tatsache, die allerdings noch nicht überall genügend erkannt und gewürdigt wird.
II. EVG-Ratifizierung
Das Zustandekommen einer Viermächtekonferenz darf nach Ansicht der Bundesregierung schon aus dem soeben erwähnten Grund die Arbeiten an der Ratifizierung der EVG nicht verlangsamen. Abgesehen davon ist das Mißverhältnis zwischen dem Stand der Rüstungen der Sowjetunion und ihrer Satelliten einerseits und der westlichen Verteidigungsbereitschaft andererseits noch so groß, daß der weitere Aufbau des westlichen Verteidigungssystems immer noch dringend erforderlich ist.
In den Mitgliedstaaten der NATO ist infolge des schleppenden Gangs der EVG-Ratifizierung verschiedentlich der Gedanke an Alternativlösungen laut geworden. Solche Überlegungen sind nach hiesiger Ansicht nur dazu angetan, die Ratifizierung der EVG noch mehr zu erschweren. Sie entsprechen keinesfalls der Politik der Bundesregierung, die in der EVG nicht nur die bei weitem zweckmäßigste Form einer deutschen Beteiligung am westlichen Verteidigungssystem, sondern auch einen besonderen Faktor der europäischen Integration sieht.
Die Hauptwiderstände gegen die Ratifizierung der EVG liegen weiterhin in Frankreich, und es muß damit gerechnet werden, daß die sowjetische Politik sie durch weitere Störungsmanöver zu verstärken suchen wird. Das Angebot Ho Chi Minhs zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Indochina (8) verdient in diesem Zusammenhang Beachtung.
III. Saarfrage
Die außenpolitische Debatte in der Französischen Nationalversammlung (9) hat erneut gezeigt, daß auch die EVG-freundlichen Kreise in Frankreich ihre Zustimmung von Bedingungen abhängig machen. Eine dieser Bedingungen, nämlich eine enge, vertraglich festzulegende Assoziierung Großbritanniens mit der EVG, scheint in einer Weise erfüllt werden zu können, die die französischen Wünsche wenigstens formell befriedigt (10). So nimmt die ebenfalls zur Bedingung gemachte Lösung der Saarfrage in der parlamentarischen Behandlung des EVG-Vertrags in Frankreich immer mehr eine zentrale Stellung ein. Es muß damit gerechnet werden, daß diese Tatsache dazu führen wird, daß auf die Bundesregierung in der Saarfrage nicht nur von Frankreich, sondern auch von Staaten, denen am baldigen Zustandekommen der EVG liegt, Druck ausgeübt wird, zumal da der Ausgang der Bundestagswahlen vielfach fälschlicherweise den Eindruck hervorgerufen hat, als sei es für die Bundesregierung jetzt leicht, im Bundestag eine großzügige Saarlösung durchzusetzen.
Die Saargespräche sind zwischen der deutschen und der französischen Regierung unmittelbar nach Bildung der neuen Bundesregierung wiederaufgenommen worden. Ihr Zweck ist es, zu klären, ob zwischen der Bundesrepublik und Frankreich ein Grundsatzakkord über die weitere Behandlung der Saarfrage erzielt werden kann, der es der französischen Regierung ermöglichen würde, im Parlament für die Ratifizierung der Verträge einzutreten. Die ersten Besprechungen zwischen dem Bundeskanzler und dem französischen Hohen Kommissar sowie mit dem französischen Außenminister im Haag haben zu einer Klärung der gegenseitigen Standpunkte geführt und damit die Basis für weitere Besprechungen des Bundeskanzlers mit dem französischen Außenminister geschaffen, die am 11. Dezember in Paris fortgesetzt werden sollen. Unterschiede der Auffassung bestehen vor allem in den wirtschaftlichen Fragen.
Neben den bilateralen Besprechungen auf Regierungsebene wird die Saarfrage auch in der Beratenden Versammlung des Europarats auf der Grundlage des Berichts des holländischen Abgeordneten van der Goes van Naters behandelt. Der bisher nicht veröffentlichte Bericht bemüht sich, das Problem objektiv darzustellen, wenn er auch nicht in allen Einzelheiten, so besonders in seinem wirtschaftlichen Teil, für die deutsche Seite akzeptabel ist. Der Bericht, dessen Vorschläge von dem Gedanken der Europäisierung ausgehen, ist vom 20. bis 22. November von der Allgemeinen Kommission der Beratenden Versammlung beraten und dann einer Unterkommission überwiesen worden, die beauftragt ist, bis zum Januar 1954 eine Stellungnahme auszuarbeiten. Die grundsätzlichen Gesichtspunkte, die für die Bundesrepublik bei der Behandlung der Saarfrage eine Rolle spielen, sind folgende:
- eine Regelung der Saarfrage kann bis zu einer Regelung durch einen Friedensvertrag nur vorläufig sein;
- der deutsche Charakter der Saar muß gewahrt bleiben;
- eine etwaige Europäisierung der Saar darf nicht dazu dienen, die gegenwärtige wirtschaftliche Vormachtstellung Frankreichs getarnt beizubehalten.
gez. Hallstein
VS-Bd. 3191 (Abteilung 2)
Anmerkungen:
1) Vervielfältigtes Exemplar. - Hat Vortragendem Legationsrat Trützschler von Falkenstein am 11. Dezember 1953 vorgelegen, der handschriftlich "Umlauf bei den Referatsleitern II A" verfügte. Hat Legationsrat Ingendaay am 17. Dezember 1953 vorgelegen, der handschriftlich verfügte: "Bitte um Weitergabe von Hand zu Hand." - Hat den Vortragenden Legationsräten von Schmoller und Jordan am 19. bzw. 21. Dezember 1953 vorgelegen. - Hat den Legationsräten I. Klasse Bassler, Steg und Frowein am 17. bzw. 19. Dezember sowie dem Vertreter des Legationsrats 1. Klasse Brückner, Baron von Stempel, am 22. Dezember 1953 vorgelegen. - Hat Referent Oncken am 22. Dezember 1953 vorgelegen.
2) In einer Presseerklärung vom 13. November 1953 zeigte sich der sowjetische Außenminister Molotow überrascht darüber, daß der amerikanische Präsident Eisenhower die sowjetische Note vom 3. November 1953 als "negativ" bezeichnet und darin die Ablehnung einer Zusammenkunft der Vier Mächte erblickt hatte. Vgl. PRAVDA vom 14. November 1953, S. 2. Für den deutschen Wortlaut vgl DOKUMENTE ZUR DEUTSCHLANDPOLITIK DER SOWJETUNION 1, S. 372-379 (Auszug). Der sowjetische Stellvertretende Außenminister Wyschinskij bekräftigte am 19. November 1953 im Ersten (Politischen) Komitee der UNO-Generalversammlung das sowjetische Interesse am Abbau internationaler Spannungen. Daher habe die UdSSR mehrfach ein Treffen der Außenminister der Vier Mächte sowie der Volksrepublik China vorgeschlagen, auf dem die Deutschland-Frage, die europäische Sicherheit und andere Maßnahmen zum Abbau internationaler Spannungen beraten werden sollten. Für den Wortlaut vgl. UN GENERAL ASSEMBLY, EIGHTH SESSION, FIRST COMMITTEE, S. 239-244.
3) Für den Wortlaut des britisch-sowjetischen Beistandspakts vom 26. Mai 1942 vgl. DzD I/3, S. 384-386. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1947, S. 1044f.
4) Für den Wortlaut des französisch-sowjetischen Beistandspakts vom 10. Dezember 1944 vgl. DROIT INTERNATIONAL, S. 610-612. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1947, S. 1046.
5) Zur Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Drei Mächte vom 4. bis 8. Dezember 1953 auf den Bermudas vgl. FRUS 1952-1954, V/2, S. 1737-1837.
6) Staatssekretär Hallstein hielt sich am 3. Dezember 1953 in London auf.
7) Bundeskanzler Adenauer führte vor dem Bundestag aus: "In der europäischen Integration sehen wir eine echte Garantie für die Erhaltung des Friedens. Der EVG-Vertrag schließt einseitige Angriffskriege aus, und zwar nicht nur der Partner untereinander, sondern auch gegenüber dritten, an dem Vertragssystem nicht unmittelbar beteiligten Staaten. [ ... ] Wenn die Sowjetregierung guten Willens ist und wirklich den Frieden will, dann können ihr auf der Grundlage dieses Vertragssystems Sicherheitsgarantien geboten werden, die sie etwa noch für nötig halten sollte. Die Bereitwilligkeit, an einem solchen Sicherheitssystem mitzuwirken, ist von der Bundesregierung mehrfach erklärt worden. Diese Bereitwilligkeit bleibt weiterhin bestehen." Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, Bd. 18, S. 21.
8) Am 28. November 1953 erklärte sich der Führer der Vietminh, Ho Chi Minh, in einem Interview mit der schwedischen Tageszeitung "Expressen" zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Frankreich bereit, wenn die französische Regierung die Unabhängigkeit von Vietnam anerkenne. Vgl. dazu EUROPA-ARCHIV 1953, Bd. 2, S. 6244.
9) Zur Debatte vom 17. bis 27. November 1953 vgl. JOURNAL OFFICIEL, ASSEMBLÉE NATIONALE, S. 5186-5638.
10) Am 9. Dezember 1953 berichtete Referent Heiser, Paris (EVG), über den Abschluß der Verhandlungen über die Assoziierung Großbritanniens mit der EVG am 21. November 1953. Das Grundsatzabkommen sehe vor: "a) Zum Zweck der Assoziation zwischen EVG und U[nited] K[ingdom] tritt ein britischer Minister zu dem EVG-Ministerrat, wenn dort Fragen der Zusammenarbeit und von gemeinsamem Interesse behandelt werden. b) Großbritannien stellt einen Vertreter zum Kommissariat, zwecks täglicher praktischer Zusammenarbeit. c) Ferner enthält das Abkommen die Grundsatzvorschrift der Gestaltung der militärischen Zusammenarbeit im einzelnen." Hinzu komme eine Erklärung darüber, "wie diese Zusammenarbeit im Detail aussieht". Vgl. VS-Bd. 6720 (EVG-Delegation); B 150, Aktenkopien 1953.
[Quelle: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1953, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, Bd II: 1. Juli bis 31. Dezember 1953, München 2001, S. 1056-1060.]
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