Rede von Dr. Michael Krapp, Kultusminister des Landes Thüringen, zum Lehrer-Politik-Tag 2003,

Weimar, 11. Juni 2003

"Gedanken zum 17. Juni"

Direktor Schreier,
Lehrerinnen und Lehrer,

An erster Stelle steht mein Dank an die beiden Veranstalter - das ThILLM und die Evangelische Akademie Thüringen - den Lehrer-Politik-Tag 2003 dem Thema 17. Juni zu widmen. 50 Jahre danach steht dieser Volksaufstand endlich überall im Brennpunkt des Interesses: in der zeitgeschichtlichen Forschung, aber auch in Fernsehdokumentationen, in Kinofilmen, in Akademieveranstaltungen, auf Theaterbühnen, ja sogar in der zeitgenössischen Literatur. Bundesweit sind 450 Projekte zum 50. Jahrestag des Arbeiteraufstands geplant, rund 60 Ausstellungen, eine übrigens auch in der Thüringer Stiftung Ettersburg, dazu unzählige Diskussionsrunden, Theateraufführungen - eine wahre Welle der Erinnerung.

Auch in den Thüringer Lehrplänen für Geschichte und Sozialkunde wird dem 17. Juni seit Jahren der gebührende Stellenwert eingeräumt. Das historische Datum des 17. Juni steht wegen seiner Bedeutung explizit in den Lehrplänen. Und es wird im Kontext zu Menschenrechten und Demokratie mehrfach zitiert. In diesem Jahr kommen zum Unterricht noch zahlreiche Schulprojekte zu diesem historischen Ereignis hinzu.

Die Wiederkehr historischer Daten wie in diesem Jahr der 50. Jahrestag des Volksaufstandes muss im Unterricht genutzt werden, um Geschichte möglichst wahrheitsgetreu, lebensnah und aktuell zu vermitteln.

Dabei ist der 17. Juni 1953 in die Geschichte der Freiheitsbewegung des deutschen Volkes einzuordnen. Dieser Volksaufstand steht in der Tradition von 1848, von 1918/1919, des 20. Juli 1944 und des 9. Novembers 1989, in der Tradition des Strebens nach Freiheit in Einheit. Im Rückblick auf diese Daten gilt auch für den 17. Juni 1953 das Rilke-Wort: "Die Geschichte ist das Verzeichnis der Zufrühgekommenen".

Um dies im Unterricht überzeugend vermitteln zu können, sind neben Schulbüchern auch Zeitzeugenaussagen und Informationsmaterial aus der Region notwendig.

Dem ThILLM gilt deshalb besonderer Dank für seine in den letzten Jahren entstandenen Publikationen wie etwa "Schule in der DDR im Blick der Staatssicherheit" oder "Fluchtgeschichten" oder "Mut zum Widerstand" oder für das heute vorgestellte neue Heft "Volksaufstand oder faschistischer Putsch?" zum 17. Juni 1953 in Thüringen. Eine Fundgrube für Lehrer, auch zur Ausgestaltung regional geprägter Projekte.

Wenn Sie mir eine kritische Bemerkung zu dieser jüngsten Publikation erlauben. Der Titel ist identisch mit dem heutigen Tagungstitel: "Volksaufstand oder faschistischer Putsch?". Genau diese Frage ist seit Öffnung der DDR- und Stasi-Archive heute unter den Historikern geklärt. Das Fragezeichen, die Frage an sich ist überflüssig, sie hat nicht einmal mehr rhetorischen Wert. Die DDR-Propaganda vom westgesteuerten Putsch ist nämlich heute längst als das entlarvt, was sie von Anfang an war: eine gezielte Lüge. Die Experten unter Ihnen wissen, wie diese Legende vom faschistischen Putsch gestrickt wurde. Die Schwierigkeiten mit der Wahrheit, die die SED mit dem 17. Juni hatte und die viele ihrer politischen Nachfahren bis heute nicht überwunden haben, sind rein ideologischer Provenienz. Es passte einfach nicht ins Weltbild der SED-Nomenklatura, dass ausgerechnet im Todesjahr Stalins und zum 70. Todesjahr von Marx, im Jahre 1953 also, das die SED zum "Karl-Marx-Jahr" erklärt hatte, dass ausgerechnet da Arbeiter der Berliner Stalinallee den ersten Volksaufstand initiiert hatten, der sich einem Flächenbrand gleich in ganz Mitteldeutschland ausbreitete.

Die DDR steckte damals in einer ernsten Krise, wirtschaftlich, politisch, ideologisch. Der Bevölkerung brannte es förmlich auf den Nägeln. Für Fettmarken gab es keine Butter mehr. Die Arbeitsnorm-Erhöhung war eine Zumutung. Sie war der Fanal, Auslöser, aber nicht Ursache des Volksaufstandes.

Ursache war der unterdrückte Wille zur Freiheit in Einheit. Der Aufstand wurde vom ZK-Plenum aber als "faschistische Provokation" gebrandmarkt, um von der fehlenden Legitimität des SED-Staats abzulenken.

Das Volk, auch in der Provinz, hörte am 17. Juni 1953 die Signale aus Berlin. Bis zu 1,5 Millionen Menschen haben damals gegen das SED-Regime demonstriert. Die erhöhten Arbeitsnormen, das damalige Versorgungschaos in der DDR, das war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. "Weg mit den Normen. Wir wollen gesamtdeutsche Wahlen und die Einheit" oder "Wir wollen frei sein! Wir fordern freie, geheime Wahlen!" so die Spruchbänder. Diese Visionen wurden allerdings durch russische Panzer bald zur Illusion!

Die von den Ostberliner Machthabern aufgestellte Propaganda-These von der angeblichen vom Westen gelenkten "faschistischen Provokation" erwies sich auch im Licht der westlichen Reaktion als absurd. Für den Westen kam der Aufstand offensichtlich noch überraschender als für die SED. Innenpolitisch war die Bundesrepublik mit ihrem wirtschaftlichen Aufbau beschäftigt, außenpolitisch stand die Westintegration auf der Agenda. Da wurde der Aufstand am 17. Juni in der "Ostzone" von manchem im Westen eher als politischer Störfaktor im fragilen Gleichgewicht des Kalten Krieges empfunden.

Paradoxerweise bewirkte der 17. Juni denn auch das Gegenteil seiner eigentlichen Zielsetzung: er zementierte für weitere 36 Jahre die wechselseitige Fixierung von Bundesrepublik und DDR in ihren jeweiligen Blöcken. Es wäre aber falsch, den Aufstand als vergeblich zu bezeichnen. Er stellte weltweit den wahren Charakter des totalitären Staatsapparates bloß.

Überwunden haben wir dieses System leider erst über drei Jahrzehnte später mit der ersten geglückten friedlichen Revolution von 1989, mit Kerzen in der Hand und Gebeten in den Kirchen. Es ist heute zwar nur noch eine Fußnote der Geschichte, aber bezeichnend für die Arroganz der SED-Machthaber: von Mielke, damals Minister für Staatssicherheit, ist überliefert, dass er 1989 seine Militärs gefragt haben soll: Haben wir denn hier 1953? Doch die Panzer rückten damals Gott sei Dank nicht aus, weder die eigenen noch die russischen!

Wolf Biermann sagt über den historischen 9. November 1989: "Ich muss weinen vor Freude, dass es so schnell und einfach ging. Ich muss weinen vor Zorn, dass es so elend lange dauerte."

Trotzdem gibt es auch heute noch Versuche, das SED-Regime zu verharmlosen. Da werden die wirklichen Opfer der SED-Diktatur verhöhnt und die eigenen Anhänger zu Opfern der Einheit erklärt. Da wird die DDR als gut gemeinter, aber leider misslungener Versuch des Sozialismus beschönigt. Und da glauben doch tatsächlich heute noch manche Politiker, die Mauer - von der SED "antifaschistischer Schutzwall" genannt - habe vierzig Jahre lang den Frieden in Europa gesichert.

Manchmal hat man den Eindruck, als müssten sich die Opfer der DDR-Zeit dafür entschuldigen, dass sie gegen das Regime waren. Unter den Mutigen, die damals ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nahmen, waren damals auch viele Schüler, Studenten und Lehrer, die nach der Niederschlagung des Aufstands keine Chance mehr auf Ausbildung und berufliche Karriere hatten und die damit um ihre Bildungs- oder Lebenschancen gebracht wurden.

Wer damals gewagt hatte, gegen die Staatsgewalt aufzustehen, der konnte eben nicht Arzt, nicht Ingenieur, oftmals sogar nicht Facharbeiter werden. Heute fehlen diesen mutigen Menschen die Rentenansprüche! Auch eine Folge des Klassenkampfes im Klassenzimmer.

Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, des Respekts vor den Opfern und es ist eine Frage der Selbstachtung der Demokraten, diesen Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Daher war es richtig, dass der Bundestag eine Enquetekommission zu diesen Fragen einberufen hat. Allerdings ist es für die ehemals Verfolgten schwierig mit anzusehen, wie das Bundesverfassungsgericht einerseits Rentenansprüche und andere sozialpolitischen Anwartschaften für die früheren DDR-Repräsentanten garantiert und andererseits ihr Antrag auf eine Pension zum Ausgleich fehlender Rentenansprüche im Bundestag abgelehnt wird. Es ist Zeit, diese Gerechtigkeitslücke endlich zu schließen. Gelingt uns das nicht, dann werden die Opfer der DDR-Diktatur, die die Feiern zum 50. Jahrestag in den Landtagen und im Bundestag verfolgen, am Gerechtigkeitssinn unserer Demokratie zweifeln.

Wir können nicht einerseits den 17. Juni als positives Kapitel der deutschen Geschichte betrachten, andererseits aber vor Unrecht und Benachteiligung die Augen verschließen. Ich appelliere hier vor allem an die Bundesregierung in der Hoffnung auf eine gerechte Lösung.

Denn mit dem Ende der SED-Diktatur hat sich schließlich das ganze deutsche Volk der Aufgabe gestellt, 40 Jahre Unrecht, Verfolgung und Willkür aufzuarbeiten und den Opfern des DDR-Regimes wenigstens nachträglich Genugtuung zu verschaffen. Deshalb brauchen wir das Dritte SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Das betrifft heute noch rund 150.000 Menschen, eine mittlere Großstadt also!

So wirkt der 17. Juni 1953 bis in unsere Zeit und darüber hinaus. Das glaubwürdig und anschaulich unseren Schülern zu vermitteln, ist eine wichtige Aufgabe unserer Lehrer. Mit Ihrer Teilnahme am Lehrer-Politiker-Tag bekennen Sie sich zu dieser Aufgabe, dafür danke ich Ihnen und dafür wünsche Ihnen viel Erfolg.

"Wir wollen freie Menschen sein" - mit diesem Anspruch des 17. Juni hat sich auch der östliche Teil Deutschlands auf den Weg in ein freies Europa gemacht. Jedes Volk braucht ein nationales Symbol, braucht einen bestimmten Tag, an dem es sich mit Stolz zu seinen Grundwerten bekennen kann.

Für mich ist deshalb der 17. Juni der eigentliche Tag der deutschen Einheit.

[Quelle: http://www.thueringen.de]