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Rede von Prof. Dr. Adolf Spotka, Präsident des Landtages von Sachsen-Anhalt, anläßlich der Gedenkveranstaltung des Landtages zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953,
Magdeburg, 17. Juni 2003
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer! Sehr geehrter Herr Präsident des Niedersächsischen Landtages Gansäuer! Sehr geehrter Herr Präsident des Niedersächsischen Landtages a. D., rofessor Wernstedt! Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Landesverfassungsgerichts, Dr. Kemper! Meine sehr geehrten Damen und Herren, Abgeordneten und Minister!
Viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gedenken heute des 17. Juni 1953. In zahlreichen Städten und Gemeinden Sachsen-Anhalts erinnern Ausstellungen, Workshops, Kolloquien und Dokumentationen an den Volksaufstand in der DDR. Besonders herzlich begrüße ich zu unserer heutigen Gedenkfeier stellvertretend für die Zeitzeugen und Opfer des 17. Juni, die meiner Einladung Folge geleistet haben, Sie, verehrte Frau Graul, und Sie, sehr geehrter Herr Linowski. Mindestens einen Zeitzeugen, meine Damen und Herren, vermissen wir heute schmerzlich, einen Zeitzeugen, der sich um die Würdigung des heutigen Tages besonders verdient gemacht hat und der in dem Bemühen, die Bedeutung dieses Tages kollektiven Muts gegen eine diktatorische Obrigkeit auch anderen bewusst zu machen, verstorben ist, unseren Landtagspräsidenten a. D., Herrn Wolfgang Schaefer. Wir werden seiner in einem Trauerakt des Landes Sachsen-Anhalt am Donnerstag, dem 19. Juni 2003, in besonderer Weise gedenken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir uns in Sachsen-Anhalt sehr intensiv mit einem säkularen Ereignis nicht nur der deutschen Nachkriegsgeschichte beschäftigen. Das mitteldeutsche Industrierevier mit den Bezirken Halle und Magdeburg war eines der Zentren des Volksaufstandes. Hier beteiligten sich nach neuesten Erkenntnissen mehr als 120 000 Menschen an den Protesten. Das heutige Bundesland Sachsen-Anhalt bildete damit neben Berlin eine der Schwerpunktregionen.
Meine Damen und Herren! Der Aufstand vom 17. Juni 1953, der sich gegen ein totalitäres und repressives Regime richtete, verdient eine breite öffentliche Resonanz und Reminiszenz - heute und zukünftig; denn wer die Vergangenheit nur als eine lästige Erinnerung empfindet, wird keine Zukunft haben. Zukunft braucht Herkunft und die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft ist nicht zuletzt vom Ausmaß konsensfähiger Vergangenheit abhängig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir geht es im Folgenden weniger um die historischen Details, mit deren Erforschung sich professionelle Historiker beschäftigen, als vielmehr um einige grundsätzliche Bemerkungen zum 17. Juni 1953 und seine historische Verortung. Was an diesem Tag als Arbeiterbewegung begann, mündete in einen Volksaufstand, an dem sich nach neuesten Forschungen fast eine Million Menschen in über 700 Städten und Gemeinden der DDR beteiligten. Viele von ihnen bezahlten ihr mutiges Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und nationaler Selbstbestimmung mit langjährigen Zuchthausstrafen, und wahrscheinlich mehr als 100 Demonstranten kamen bei der Niederschlagung des Aufstandes durch sowjetische Panzer ums Leben oder wurden nach dem 17. Juni hingerichtet. Ihnen allen gilt heute unser besonderes Gedenken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon der griechische Historiker Thukydides unterschied zwischen dem Anlass und der Ursache eines Ereignisses. Im Juni 1953 gingen die Arbeiter auf die Straße, um gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen zu demonstrieren. Dieser Protest weitete sich schnell zu einem spontanen Volksaufstand aus, weil sich die Führung der DDR in einer tiefen und existenziellen Vertrauenskrise befand.
Der im Jahr 1952 von der SED verkündete und mit repressiven Maßnahmen forcierte Aufbau des Sozialismus hatte das Land binnen kurzer Zeit in ein wirtschaftliches und politisches Desaster geführt. Erst auf Druck des Kreml rückte die SED am 11. Juni 1953 von ihrer rigorosen Klassenkampfpolitik ab. Aber diese Intervention kam zu spät. Der Unmut vor allem in Berlin und in den traditionellen Industriegebieten Mitteldeutschlands, einst Hochburgen der Arbeiterbewegung, ließ sich nicht mehr kanalisieren. Die Unzufriedenheit mit der Führung und dem System war zu groß. Sie führte eine revolutionäre Situation herbei, die - das war das eigentlich Paradoxe - kommunistische Revolutionstheoretiker wie Lenin ausdrücklich nur für hoch entwickelte kapitalistische Staaten vorausgesagt hatten.
Die Arbeiterklasse marschierte, schrieb Heinz Brandt, damals Sekretär der Berliner SED-Parteileitung, aber sie marschierte gegen uns Kommunisten. - Die SED-Führungsclique wusste von nun an, dass sie gegen das Volk regierte und dass sie in freien Wahlen wohl weggefegt werden würde; sie richtete fortan ihre Politik darauf aus. Die Staats- und Parteiführung war paralysiert. Sie sah sich mit einem spontanen, von Arbeitern ausgehenden Volksaufstand konfrontiert, dessen Spontaneität und revolutionäre Eigendynamik von ihr nicht mehr kontrolliert werden konnte und der sich schnell, aber nicht synchron, auf große Teile des Landes ausweitete. Spätestens an diesem Punkt, meine Damen und Herren, wird die These eines von außen inszenierten Putschversuches zur reinen Farce. Revolutionen, so schrieb Hegel in seinen "Politischen Schriften", bringen die Dinge ins Wanken. Der 17. Juni 1953 hat tatsächlich die politischen Verhältnisse in der DDR schwer und nachhaltig erschüttert. Nicht zuletzt die Arbeiter, deren Interessen die Staats- und Parteiführung zu vertreten vorgab und in deren Namen zu handeln sie sich anmaßte, hatten ihr jedes Vertrauen entzogen. Nur das militärische Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht bewahrte damals das DDR-Regime vor dem Zusammenbruch. Der eigentliche Garant der SED-Diktatur war bis zu deren Ende der Kreml. Deshalb haben Historiker den 17. Juni auch als revolutionäre Chance charakterisiert, die eigentlich keine war. Man kann auch von einer verhinderten Revolution sprechen.
Im Jahr 1953 stützten sowjetische Panzer das Regime; 36 Jahre später blieben sie in den Kasernen. Ohne die Sowjetunion, ließ Leonid Breschnew 1970 Erich Honecker wissen, gibt es keine DDR. Die DDR war abhängig von Moskaus Gnaden. Und bis 1989 zeigte sich die sowjetische Führung an einer Änderung des geo- und bündnispolitischen Status quo in Europa in keiner Weise interessiert. Deshalb scheiterte die revolutionäre Erhebung, aber ihre Nachwirkungen hielten bis zum Zusammenbruch der DDR an. Im August 1989 fragte der greise Chef der Staatssicherheit Erich Mielke, sichtbar geschockt und verängstigt von den Bildern der Massenflucht über Ungarn: Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht? Kurt Hager, Mitglied des ZK der SED, meinte am 10. November 1989, dass die Situation bedrohlicher sei als 1953. Der 17. Juni 1953 blieb im Bewusstsein der Menschen präsent, auch wenn die Staats- und Parteiführung diesen Tag mit einem Tabu belegte und die Volkserhebung noch bis in die späten 70er Jahre als einen von außen inszenierten faschistischen Aufstand diffamierte. Erst später sprach die offizielle Geschichtsschreibung der DDR abgeschwächt und vorsichtiger, ohne freilich die historischen Fakten auch nur zur Kenntnis zu nehmen, von einem "konterrevolutionären Putschversuch".
Aber alle Versuche der SED, nicht nur die Geschichte des 17. Juni umzuschreiben und die Herrschaft der Partei historisch zu rechtfertigen - die Deutung der Vergangenheit und ihre Monopolisierung legitimieren am nachhaltigsten politisches Handeln -, waren am Ende erfolglos. Tatsächlich sollte die Partei den Schock, den dieser Aufstand bei ihr auslöste, nie mehr vergessen. Für die SED-Führung blieb der 17. Juni 1953 bis zum Zusammenbruch ihrer Diktatur eine traumatische Erfahrung. Regelmäßig herrschte im Juni erhöhte Alarmbereitschaft. Noch im Jahr 1983 überprüfte die Staatssicherheit in einigen Bezirken der DDR alle Personen, die am 17. Juni 1953 auffällig geworden waren. Die Angst vor der eigenen Bevölkerung, schrieb Stefan Wolle, saß der SED im Nacken. Nicht zuletzt ihre Wirtschaftspolitik, die die eigenen Möglichkeiten völlig verkannte und bar jeder ökonomischen Vernunft war, sollte am Ende den Niedergang herbeiführen.
Meine Damen und Herren! War der 17. Juni ein Vorläufer der friedlichen Revolution von 1989 und der Anfang vom langen Ende der DDR? Holten die Ereignisse dieses Tages die SED-Führung im Herbst 1989 ein? Muss die Geschichte der DDR von ihrem Ende her gedeutet werden? - Vielleicht hat es Alternativen gegeben, aber historische Konjekturen sind keine Gewissheiten, und die Geschichtswissenschaft antwortet nicht auf die spekulative Frage, was gewesen wäre wenn, so faszinierend sie manchmal auch sein mag. Das Scheitern der DDR war systemimmanent und -bedingt; der Untergang vollzog sich, wie es in einem 1993 von ostdeutschen Historikern veröffentlichten Buch heißt, auf Raten. Das Schlüsselereignis deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte schlechthin war der 17. Juni 1953, und die friedliche Revolution 1989 verwirklichte, was 1953 noch an sowjetischen Bajonetten scheitern musste. So wurde in der DDR das Vermächtnis von Freiheitsdrang, Tapferkeit und Bürgersinn aus dem Jahr 1953 mit der friedlichen Revolution von 1989 vollendet. Deshalb meine ich, dass zwischen beiden Ereignissen ein kausaler und nicht nur ein temporaler Zusammenhang besteht. Ich verkenne die Unterschiede nicht. Mir ist bewusst, dass der Ruf "Wir sind ein Volk" erst nach dem Fall der Mauer unüberhörbar wurde und dass die Kirchen - um nur diese Beispiele zu nennen - im Gegensatz zu 1953 ihre Passivität aufgaben; aber die Verbindungslinie ist dennoch alles andere als subjektiv oder suggestiv, auch wenn sie nicht geradlinig ist.
Unverkennbar ist, dass die Volkserhebung im Juni 1953 und die Demonstrationen im Oktober und November 1989 beeindruckende Bekenntnisse zu Freiheit und Demokratie - aus dem Willen zur Freiheit werden Nationen, meinte einst Heinrich Mann - und eindrucksvolle Zeugnisse nationaler Selbstbestimmung waren. Sie zählen damit fraglos zu den großartigsten demokratischen Manifestationen unserer Geschichte, die die Ostdeutschen in das wieder vereinigte Deutschland einbrachten. Als revolutionäre, vom Freiheitswillen getragene Massenbewegungen, als Aufbegehren für mehr Menschlichkeit stehen sie neben den Revolutionen von 1848 und 1918. Die These einer besonderen Anfälligkeit der Deutschen für autoritäre Regierungen wird durch diese Ereignisse ebenso widerlegt wie der oft zu hörende Vorwurf, den Deutschen fehle es an freiheitlich-demokratischen Traditionen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 war, was oft übersehen wird, die erste Massenerhebung überhaupt gegen ein totalitäres System und insofern beispiellos. Sie war zum damaligen Zeitpunkt zwar erfolglos, jedoch, wie wir heute wissen, nicht vergeblich; denn sie machte auf einen Schlag deutlich, dass auch moderne Diktaturen, die sich auf einen ausgeklügelten Überwachungs- und Unterdrückungsapparat stützen, nicht unüberwindlich sind. Die Macht, nicht nur der SED, begann zu bröckeln.
Die Bedeutung des 17. Juni für die europäische Nachkriegsgeschichte ist aus meiner Sicht tatsächlich bahnbrechend. Der Volksaufstand in der DDR war die erste entscheidende historische Zäsur und das erste Glied in einer Kette von mutigen Akten des Widerstands gegen Unfreiheit und Unterdrückung durch kommunistische Diktaturen in Mittel- und Osteuropa, die Ende der 80er-Jahre ihren Kulminations- und mit dem Fall der Berliner Mauer ihren Schlusspunkt erreichte.
Der 17. Juni 1953 hat wie der Aufstand in Ungarn und die Unruhen in Polen 1956, wie der "Prager Frühling" 1968 und die polnische Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc" Ende der 70er-Jahre zum Zusammenbruch der kommunistischen Zwangsherrschaft in Europa geführt. Der 17. Juni war daher mehr als eine verhinderte oder gescheiterte deutsche Revolution; er ist ein säkulares historisches Ereignis der europäischen Nachkriegsgeschichte, auf das wir sehr stolz sein können.
Meine Damen und Herren! Dieser Tag muss als einer der wenigen großen und überwältigenden Momente unserer Geschichte endlich den Stellenwert bekommen, der seiner Bedeutung gerecht wird. Auch deshalb wünsche ich mir, dass des 17. Juni 1953 nicht nur zu besonderen Anlässen und Jahrestagen gedacht wird. Die Erinnerung an diesen Tag muss lebendig bleiben. Nur dann können wir das Vermächtnis der Frauen und Männer des 17. Juni 1953, die ihren Freiheitswillen, ihr Eintreten für Demokratie und ihre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung mit langjährigen Zuchthausstrafen, ja mit ihrem Leben bezahlen mussten, bewahren; nur dann brauchen wir weniger Sorge zu haben, es könnte eine Generation nach uns erneut auf den Gedanken kommen, einen totalitären Versuch zu starten.
Der demokratische Rechtsstaat ist kein Selbstläufer. Auch aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit diesem Tag, sind das demokratische Engagement und Zivilcourage so wichtig. Der 17. Juni 1953 ermahnt uns, heute und in Zukunft jeder Form von politischer Repression entschlossen zu begegnen. Je mehr Menschen, gerade auch junge, sich dessen bewusst sind, umso größer ist die Chance, dass das Vermächtnis des 17. Juni in die Zukunft wirkt - eine Zukunft, die bestimmt ist von dem unumstößlichen Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass die Freiheit nicht Mittel zum Zweck, sondern das höchste politische Ziel selbst ist. - Ich danke Ihnen.
[Quelle: Gedenkveranstaltung des Landtages zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Parlamentarische Schriftenreihe Heft 23, hrsg. vom Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2003, S. 3-9.]
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