Joachim Rumpf
Mein Siebzehnter Juni 1953 [Berlin und Umgebung]


Vorbemerkung:

Mit dem folgenden Beitrag über meine (ganz subjektiven) Erlebnisse um den siebzehnten Juni 1953 in Berlin, dem sich einige auswertende Bemerkungen anschließen, fasse ich die seit vielen Jahren in der Schublade aufbewahrten Aufzeichnungen zusammen und verknüpfe sie mit den noch immer lebendigen, wenn auch auswählenden Erinnerungen. Zu den Erinnerungen gehören nicht nur Geschehnisse in einer bestimmten zeitlichen Abfolge. Mich erstaunt vielmehr, dass es besonders die gefühlsmäßigen Anteile sind, die mich noch immer stark bewegen und jene Stunden in mir so lebendig werden lassen, dass ich beim Schreiben zum Fenster hinaus und hinüber auf den schweizer Jura schauen muss, damit ich, mich wieder beruhigend, sagen kann: Es ist alles längst vorbei und Geschichte ...

1.
Seit Oktober 1952 lebte und arbeitete ich mit mehreren hundert anderen Frauen und Männern auf der Baustelle Mühlenbeck im Norden Berlins bei der Reichsbahn-Bau-Union Naumburg. Viele Menschen waren in jenen Jahren auf gleichen Baustellen rund um Berlin damit beschäftigt, einen Eisenbahnring zu bauen. Dass dieser Ring eine verkehrstechnische Voraussetzung für den späteren Mauerbau war, ahnte von uns niemand.

Ein bunt gemischtes Völkchen lebte in den Baubaracken oder wohnte in einem der vielen Einfamilienhäuser in Schildow und Mühlenbeck zur Untermiete. Nicht wenige hatten Krieg und Nachkriegszeit in den Heimatgemeinden arbeitslos werden lassen. Der eine oder andere, den ich dort kennenlernte, hatte sich in das relativ unstete Leben geflüchtet, da er am Heimatort wegen seiner Vergangenheit vor 1945 oder eines politischen Engagements nach dem Kriege wenig Chancen sah. Auf Großbaustellen dieser und ähnlicher Art, bei denen neben Unterkunft und Kantinenverpflegung auch Gemeinschaft in der „Kulturbaracke" angeboten wurde, fanden viele ein an die Militärzeit erinnerndes Zuhause. Obwohl auch einige Frauen dort arbeiteten, befand ich mich doch in einer Männergesellschaft, einer Subkultur, die an den ehemaligen Arbeitsdienst erinnerte und zugleich stark bestimmt war vom individuellen Gewinnstreben. Es wurde sehr hart und zum Teil unter schweren Bedingungen gearbeitet - aber auch gut verdient.

Dieser, im Vergleich mit Einkünften in anderen Berufen, damals überdurchschnittliche gute Verdienst war vor allem auf eine hohe Auslösung zurückzuführen. Jeder von uns hatte (zumindest pro forma) anderswo irgendeine Adresse: eine eigene Familie oder Eltern. Heimatadressen waren über das ganze Gebiet der DDR verstreut. Wir kamen aus Dresden, Leipzig, Magdeburg, Dessau, Halle, Saalfeld, Naumburg und aus vielen anderen Städten und Dörfern. Wir erhielten nicht nur Freifahrtscheine für die Bahn zur Wochenendheimfahrt, sondern noch zusätzlich zum Lohn eine Art Trennungsentschädigung für jeden Arbeitstag. Dieses Trennungsgeld war so hoch, dass man, wenn auch ohne große Sprünge machen zu können, damit auskam. Der eigentliche Lohn wurde an die Familien geschickt, auf die hohe Kante gelegt oder aber verjubelt. Ein Arbeiter erträgt manchen Druck. Nur wenn es um seine Lohntüte geht, so war es jedenfalls damals, reagiert er sehr heftig.

Und genau hier, an diesem empfindlichen Punkt, hatten Partei- und Staatsführung unter Walter Ulbricht angesetzt: Sie erhöhten nicht nur die Normen und forderten damit für das gleiche Geld mehr Leistung, sondern sie kürzten auch noch die Auslösung um zum Teil bis zu fünfzig Prozent. Normerhöhungen hatte es zum allgemeinen Ärger schon vorher immer wieder gegeben. Diesmal aber fielen sie zusammen mit dem Versuch, einige Lebensmittel frei zu verkaufen (also Lebensmittelmarken hierfür abzuschaffen) und sie trafen eine Arbeiter-Elite, die Bauarbeiter, besonders empfindlich. Neben den Stahlwerkern und den Bergarbeitern waren es in der Trümmerlandschaft Nachkriegsdeutschlands vor allem die Bauarbeiter, die in der DDR ein hohes Ansehen und manche Privilegien genossen. Und denen reichte es jetzt. Es war bekanntlich ein Bautrupp in der Stalin-Allee, der als erster die Arbeit niederlegte und die Rücknahme jener Beschlüsse verlangte. So etwas sprach sich schnell herum. Außerdem hörten wir damals bereits RIAS Berlin so, wie man später in der DDR westdeutsche Fernsehstationen einschaltete.

2.
Auf unserer Baustelle verließen wir am Nachmittag des sechzehnten Juni unsere Arbeitsplätze und versammelten uns im Kantinensaal. Dort diskutierten wir mit dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung, mit dem Parteisekretär und mit dem Baukaufmann (der Bauleiter war in Urlaub) darüber, wie wir es halten wollen: Gehen wir morgen arbeiten oder beteiligen wir uns am Streik. Mitentscheidend für den Beschluß, sich den streikenden Bauarbeitern in Berlin anzuschließen, war die Nachricht, dass auch die Kolleginnen und Kollegen von der Großbaustelle Velten die Arbeit niederlegen und in die Stadt zum Haus der Ministerien marschieren werden.

Ich selbst fuhr an diesem sonnigen und milden Abend, wie ich es auch sonst tat, ins Zentrum. Am Alexanderplatz war mehr Betrieb als an anderen Tagen um diese Zeit. Überall standen Gruppen und Grüppchen miteinander redender Menschen herum. Meistens hatten sie sich um eine Person gesammelt, die das Wort führte: Von Partei, FDJ und Gewerkschaft waren Funktionäre ausgesandt worden, um zu agitieren, abzuwiegeln, zu beruhigen aber auch um zu warnen. Einer der Gruppen gesellte ich mich zu. Wenn ich mich recht erinnere, war an diesem Abend auf dem Alex bereits vom sogenannten „neuen Kurs" die Rede. Doch die Stimmung war so geladen, dass der Funktionär sich vergeblich bemühte, gegen den ebenso offen wie lautstark artikulierten Unmut anzukommen. Eine Arbeiter- und Bauernmacht, die den Arbeitern immer mehr Lasten aufbürdete - so der Grundtenor unserer Kritik, muß umkehren, wenn sie glaubwürdig sein will.

3.
Am siebzehnten Juni zu Arbeitsbeginn versammelten sich die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter der Baustelle in der Hauptstraße von Schildow vor dem kleinen Gebäude mit dem ehemaligen Ladengeschäft, in dem jetzt die Bauleitung untergebracht war. Einige Kollegen hatten ein Transparent vom Maifeiertag übermalt und unsere Forderungen nach Rücknahme der Regierungsbeschlüsse draufgeschrieben. Als sich unser Demonstrationszug in Bewegung setzte, gingen die Mitglieder der Bauleitung, die Frauen und Männer aus dem Baubüro und der BGL-Vorsitzende voraus. Der Parteisekretär war nicht erschienen. Der lange Marsch ins Zentrum durch Niederschönhausen und Pankow und ab U-Bahnhof Vinetastraße die ganze Schönhauser-Allee entlang begann.

Auch an diesem Tag schien die Sonne. Es war warm und alle befanden sich in einer Art Festtagsstimmung. Vermutlich ging es den anderen ähnlich wie mir: in mir war eine erwartungsvolle Erregung, wie ich sie als Kind verspürte, wenn die Eltern mit uns in den Zirkus oder auf den Jahrmarkt gingen. Je näher wir dem Ereignis kamen, um so deutlicher waren Musik und Lärm zu hören, umso größer wurde unsere Spannung. Versetze ich mich in die Vormittagsstunden des siebzehnten Juni 1953 zurück, dann empfinde ich aber außerdem noch immer unser aller Euphorie, die lachende Zuversicht, die allgemein frohe Aufbruchstimmung und ein so nicht gekanntes Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität. Eine Episode, die diesen persönlichen Eindruck bestätigt, blieb mir als für diesen Vormittag typisch in Erinnerung: Ich wollte mich noch rasch mit etwas „Marschverpflegung" versorgen, verließ die Kolonne und sprang in eine Fleischerei. Der Laden war voll mit Frauen, die ebenfalls einkaufen wollten. Etwas für mich völlig Ungewöhnliches geschah, als die Frauen spontan eine Gasse bildeten und die Verkäuferin aufforderten, „den jungen Mann" zuerst zu bedienen: „Der geht für uns nach Berlin". Die aufmunternden Worte, die mir die Frauen nachriefen, wiederholten sich. Vom Straßenrand, von den Balkonen herunter und aus den Fenstern begleiteten uns viele gute Wünsche und fröhliche Zurufe.

Längst war unser Zug nicht mehr allein. Mit uns waren entlang unserer Strecke auch andere Betriebe auf die Straße gegangen. So vergrößerte sich der Demonstrationszug von Kilometer zu Kilometer. In der Schönhauser Allee war kein Anfang und kein Ende mehr sichtbar: nach vorn in Richtung Innenstadt und nach hinten in Richtung Pankow bewegte sich ein im wahrsten Wortsinne „endloser" Zug.

Wenn gegen Ende der Schönhauser Allee, dort, wo sie in der Nähe vom U-Bahnhof Weinmeisterstraße in die Alte Schönhauserstraße einmündet, das große Chaos begann, dann darf das angesichts der völlig fehlenden Organisation an diesem Tage nicht wundern. Deutlicher als an dieser Tatsache läßt sich die Spontaneität dieses Streiks gar nicht beweisen: uns war während des ca. dreistündigen Marschs nirgendwo ein Ordner begegnet. Niemand hat uns irgendeinen Hinweis darauf gegeben, was uns möglicherweise im Stadtzentrum erwartet. - Heute wissen wir, dass die Belegschaften der zentrumsnäheren Bezirke schon längst in Aktion waren. - Es gab keine Spitze des Demonstrationszuges mehr. Einer lief dem anderen hinterher und niemand war da, der uns hätte sagen können, wohin wir gehen sollten. Da die Straßen in die Innenstadt inzwischen verstopft waren, ging auch bei uns nichts mehr. Eine Orientierung an irgendwelchen Leitern war nicht möglich, da es sie nicht gab. Selbst unsere Baustellenkolonne hatte inzwischen ihre Geschlossenheit verloren, da mehr und mehr Frauen und Männer aus anderen Betrieben in unsere Reihen gekommen waren.

Meine gespannte Erwartung ließ aber kein Warten im Stau zu. Ich kannte mich gut aus, setzte mich kurzerhand ab, drängte mich in stillere Seitenstraßen machte einen Bogen Richtung Weidendamm, ging vor zum Reichstagsufer und näherte mich der Straße Unter den Linden. Bereits auf diesem Weg erlebte ich, wie sich die Atmosphäre verändert hatte. Viele Menschen liefen hin und her. Zwischen Streikteilnehmern beziehungsweise Demonstranten und Zuschauern oder anderen Passanten konnte ich keinen Unterschied feststellen. Ich erfuhr, dass die Russen mit Panzern aufgefahren wären und dass bereits „dort vorne" geschossen würde. Es war hoher Mittag, als ich von den Museen her kommend die Menschen Unter den Linden herumlaufen sah. Ich hörte das Rasseln der Panzerwagen und hörte Schüsse knallen, noch ehe ich dort war. Dennoch lief ich rasch weiter vor zur Allee. Staubig und heiß war es geworden. Die Luft war angefüllt von einem Geräuschgemisch aus Menschenrufen, einzeln und im Chor, dem Getrappel vieler Füße, dem Motorenlärm der scheinbar ziellos und schnell hin und herfahrenden gepanzerten Fahrzeuge, dem Geschrei der vor den Fahrzeugen fliehenden Menschen. Und alles beleuchtete hell die Sonne. Ich schmecke den Staub und rieche die Abgase, wenn ich zurückdenke und ich sehe mich die Stufen zum (damals noch zerstörten) Ehrenmal Unter den Linden hinaufspringen und mich hinter einer der Säulen verbergen, als die Schüsse allzusehr in meiner Nähe aufpeitschten. Ich habe keinen russischen Soldaten gesehen. Offenbar wurde aus den geschlossenen Panzerwagen geschossen. Auch ob gezielt auf Menschen oder in die Luft geschossen wurde, konnte ich nicht feststellen. Wohl aber sah ich vor bis zum Brandenburger Tor und über die ganze Länge und Breite der Straße viele Menschen vor den Panzern zur Seite springen und wieder gleichsam ziellos hin und herlaufen oder, gleich mir, irgendwo kurz zuschauend, stehen bleiben. Einige warfen Steine nach den Panzern, brüllten und schrien vor Zorn und Wut.

Ich wollte noch immer hinüber in die Wilhelm-Straße und glaubte, dort sei das Zentrum des Geschehens. Ich rannte auf die andere Straßenseite und versuchte, die Straßen hinter der Oper zu erreichen. Vergebens: Militär und Polizei, so erfuhr ich, hätten die Zugangsstraßen zu allen Regierungsgebäuden abgeriegelt. Sogar nach Osten hin, Richtung Friedrichstraße, dort wo damals Unter den Linden der Sitz des Zentralrats der FDJ war, gab es für mich kein Durchkommen mehr. Wie ich dennoch zum Schloß und von dort über die Kurfürstenbrücke in die Rathausstraße kam, das weiß ich heute nicht mehr. Es war aber mit Sicherheit alles andere, als ein angenehmer Spaziergang.

Vor dem Roten Rathaus stieß ich noch einmal auf eine größere geschlossene Menschenmenge, die sich Richtung Alexanderplatz schob. Und dort, unweit von der Stelle, an dem am Vorabend die Funktionäre mit uns diskutiert hatten, glaubte ich, meinen Ohren nicht zu trauen: da wurde doch tatsächlich das Deutschlandlied gesungen! Doch nicht genug damit: Es klangen auch Lieder auf, die mir von vor 1945 noch in Erinnerung waren, wie das Lied vom Riesengebirge und eines, das die Volksdeutschen aus dem Sudetenland gesungen hatten. Offenbar hatte sich hier eine Gruppe von Vertriebenen zusammengetan. Ich spüre den Schreck heute noch, der mich durchfuhr. Erst in dieser Situation wurde mir klar, dass es Menschen gab, die diesem Tag des Streiks und der Demonstration gegen eine von meinen Kollegen und mir als ungerechtfertigt und zynisch erlebte wirtschaftliche Ausbeutung, den Charakter einer Art politischen Revolution geben wollten. Und das konnte nicht gut gehen! Schon gar nicht, indem man an das anknüpft, was alljährlich am achten Mai als endgültig überwunden begangen wurde.

Hier ist aber zum Verständnis meiner Reaktion noch eine erklärende Anmerkung notwendig: Ich selbst hatte mich bereits als sechzehnjähriger Schüler der FDJ angeschlossen, machte dort rasch Karriere, besuchte einige Schulen und wurde einer der ersten hauptamtlichen Pionierleiter in Thüringen. Aus diesem Amt heraus war ich aber bereits Anfang 1952 wegen „bürgerlicher Schlacken", die meiner Einstellung und meinem Verhalten anhafteten, „in die Produktion" geschickt worden. Ich arbeitete in der Maxhütte und ging später zur Reichsbahn. Einerseits hatte ich einen Grund, dem System Gram zu sein. Es war mir darum auch leicht gefallen, mich dem Streik anzuschließen. Im übrigen identifizierte ich mich ja mit meiner Rolle als Lohnempfänger. Zum anderen aber besaß ich eine hinreichende politische Vorbildung, um zu wissen, dass bei derartig nach rückwärts gerichteten Tendenzen, wenn sie sich auf diese Weise in der Öffentlichkeit artikulierten, mit scharfen Reaktionen gerechnet werden muß.

Ich sah zu, möglichst rasch an diesen Gruppen vorbei zu kommen. Das war gar nicht so einfach, da sich bereits unter der S-Bahn-Brücke die Menschen stauten. Ich nahm noch wahr, dass die Volkspolizei das Gebiet auf der anderen Seite, dort wo sich die die sowjetische Handelsvertretung von „MESHDUNARODNAJA KNIGA" und das Polizeipräsidium befanden, verbarrikadiert und mit Bewaffneten und Schützenpanzerwagen gesichert hatte. Durch Seitenstraßen lief ich hinüber zur Stalinallee, in deren Nähe (in der Koppenstraße) Bekannte von mir wohnten. Auf dem Weg dorthin hörte ich über Lautsprecherwagen zum erstem Mal, dass der Ausnahmezustand verhängt worden war und die Besatzungstruppen sich in dieser ihrer Eigenschaft wieder zu Worte meldeten. Und noch etwas bekam ich mit: In der Nähe vom Strausberger Platz traf ich auf eine Gruppe, die irgendetwas umstanden. Als ich hinzutrat, sah ich im Innern des Kreises einen Mann am Boden liegen. Er war von jemanden als Funktionär (die Umstehenden sagten mir: „Das ist ein Spitzel") erkannt und zu Boden geschlagen worden. Abgesehen von den russischen Panzern war das die einzige Szene offener Gewalttätigkeit, die ich erlebte.

Bei meinem Bekannten, ebenfalls einem Bauarbeiter, traf ich die ganze Familie am Radio an. RIAS Berlin berichtete zwar pausenlos über die Ereignisse im Osten der Stadt, es kamen auch Betroffene zu Wort, die von den russischen Panzern gleichsam nach Westberlin hineingetrieben worden waren. Doch auf Hinweise oder gar Anweisungen, wie sich die streikenden Ostberliner denn nun weiter verhalten sollten, warteten wir vergebens. Wenn ich auch Einzelheiten längst vergessen habe (hierzu kann man sicher unschwer die Aufzeichnungen der entsprechenden Sendungen abhören), so weiß ich noch gut, dass allgemein eine Instanz vermißt wurde, die den Aufstand geleitet und koordiniert hätte. Da das von Ostberlin aus nicht möglich war, warteten wir auf die Meldungen vom RIAS. Was meine Kollegen und mich betrifft und die allgemeine Stimmung an diesem Nachmittag, so hätten wir uns eine Art zentraler Streikleitung gewünscht, zumindest aber Hilfe bei der Organisation weiterer Aktionen.

Wie eng aber der Handlungs- und Bewegungsraum geworden war, sollte ich noch in der gleichen Nacht erfahren. Als ich vor zum Ostbahnhof ging - und zwar rechtzeitig, denn es gab ja eine Sperrstunde - patrouillierten bereits Doppelstreifen von Rotarmisten mit Maschinenpistole im Anschlag durch die leer gewordenen Straßen. Am Bahnhof angekommen, erfuhr ich, dass auch keine Züge mehr fahren würden. Die Nacht vom siebzehnten auf den achtzehnten Juni verbrachte ich im Wartesaal und konnte froh sein, einen Dienstausweis der Deutschen Reichsbahn in der Tasche zu haben. Sonst wäre ich von einer der Militär- und Polizeistreifen doch noch mitgenommen worden.

4.
So ein Ereignis läßt sich aber nicht einfach beenden, wie irgendein Wochenenderlebnis. Dazu war auch die Unsicherheit zu groß bei der Frage, was würde denen passieren, die mitgemacht haben? Zunächst geschah gar nichts. Wir nahmen mit mehr oder weniger Verspätung am nächsten Tag die Arbeit wieder auf und tauschten unsere Erfahrungen aus. Die Normerhöhungen und die Kürzung der Auslösungen waren zurückgenommen worden und die Zeitungen schrieben über den „Neuen Kurs". Die Stimmung aber war sehr gedrückt und manch einer wird überlegt haben, wie er irgendwie aus der ganzen Geschichte wieder rauskommt, ohne den Arbeitsplatz oder den erreichten Posten zu verlieren. Mir war jedenfalls nicht wohl in meiner Haut, und ich wäre damals froh gewesen, wenn schon Gras über die Geschichte gewachsen wäre.

Am zwanzigsten Juni erhielt ich von der zentralen Bauleitung die Versetzungsmeldung hin zu einer anderen Baustelle. Einige Wochen später wurde mir gekündigt.

5.
Die Stunden des sechzehnten und siebzehnten Juni 1953 erlebte ich mit unterschiedlicher Stimmungsqualität: Der Vorabend war bestimmt von Ärger, Zorn und Entschlossenheit. Hoffnung, Spannung und Euphorie trugen mich in den ersten Stunden des siebzehnten Juni. Mittags überwogen Erstaunen, Angst und Erschrecken, am späten Nachmittag vergebliches Warten auf Zeichen oder Wunder und am Abend begann die Sorge um die eigene Zukunft und das Schicksal all derer, die sich „zu weit aus dem Fenster gelehnt" hatten. Das Gefühl des Triumphs konnte sich nicht einstellen, da die Teilnahme an Streik und Demonstration in der DDR keineswegs als Heldentat galt. Im Gegenteil: Noch Jahre später entschied die Prüfung der Frage: „Wo waren Sie am siebzehnten Juni?" über Aufstieg und Fall in beruflichen Karrieren.

6.
Beweggründe und Verlauf des siebzehnten Juni 1953, so wie ich ihn erlebte, erlauben nicht, von einem Volksaufstand gegen das herrschende Regime zu sprechen etwa mit dem Ziel, die DDR abzuschaffen. Dieses Ziel bestand ja nicht einmal im Sommer und Herbst 1989. Gewiß mögen jene singenden Menschen am Alexanderplatz andere Motive gehabt haben, sich an den Protesten gegen die als ungerechtfertigt empfundenen wirtschaftlichen Veränderungen zu beteiligen. Auch bei denen, die unmittelbar die Bedrohung der russischen Panzer erlebten, dabei vielleicht sogar verletzt wurden oder gesehen hatten, wie andere Menschen verletzt oder gar getötet wurden, mögen aus dieser Situation heraus einen Motivwechsel erfahren haben.

Verallgemeinernd läßt sich in diesem Zusammenhang festhalten, dass wir in allen Protestaktionen, an denen sich viele Menschen beteiligen, stets Einzelne oder Gruppen finden können, die eigene Ziele verfolgen. Es sind nicht selten jene, die die radikalen Außenflügel besetzen und damit unter Umständen die ganze Bewegung diskriminieren und den Kritikern oder der Staatsgewalt Angriffsflächen anbieten. Gerade auch aus dieser Erkenntnis heraus hat ja die Friedensbewegung seit den siebziger Jahren, nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der Friedensforschung, den konsequent friedfertigen Protest und Widerstand kultiviert.

In einem weiten Verständnis sind selbstverständlich die Ereignisse dieser Junitage 1953 von politischer Bedeutung gewesen und hatten erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen Lebens in der DDR der fünfziger Jahre. Die Motive jedoch, die meine Kolleginnen und Kollegen und mich bewogen, an dem Streik teilzunehmen und in die Stadt zu ziehen, waren eindeutig wirtschaftlicher Natur und hatten nicht die Änderung der politischen Machtverhältnisse zum Ziel. Insofern reagierten die deutschen Machthaber einschließlich der Besatzungstruppen nach meiner Meinung unnötig scharf und verkannten völlig den Charakter dieser spontanen Bewegung, die eigentlich nur der „Besitzstandwahrung" galt. Doch an den (Über-)Reaktionen der Staatsgewalt hat sich ja bis heute nichts geändert, da können wir hinschauen, wo wir wollen. Doch das ist ein neues Thema und soll hier nicht weiter verfolgt werden ...

Dass in der Bundesrepublik dieser Tag zum „Tag der deutschen Einheit" und zu einem Feiertag gemacht wurde, ist vor den Hintergrund des Kalten Krieges erklärlich und hatte vermutlich nur einen symbolischen Charakter. Mit dem bevorstehenden realen Tag der deutschen Einheit entfällt für mich endgültig die Legitimation für einen Feiertag am siebzehnten Juni.

7.
Für mich tut sich abschließend und vergleichend noch eine interessante Frage auf: sollen wir Deutsche nun jenen neunten November (ausgerechnet dieses makabre Datum!) von 1989 zum neuen Feiertag küren? Setzte nicht jene gewaltfreie Revolution, die von Leipzig ausging, einen neuen Akzent in die Geschichte unseres Volkes, das bisher noch nie eine Revolution erfolgreich zu Ende beziehungsweise an das beabsichtigte Ziel gebracht hat? Ich denke, man sollte zu dieser Frage zuerst einmal die hören - und zwar nur diejenigen, - die diese Revolution unter Inkaufnahme aller Nachteile und Risiken vorbereiteten und anführten. Die Namen der einzelnen Persönlichkeiten, der Gruppen und Institutionen sind ja hinreichend bekannt: seit Jahr und Tag berichteten unsere Medien eingehend über deren Aktivitäten und Nöte. Diese Menschen müssen gefragt werden: ist jetzt erreicht, was Ihr wolltet? Ihr habt die Massen in Bewegung gesetzt - wohin? Seht ihr Gründe zum Feiern und Erinnern?

Eine Antwort auf diese Fragen aber können die betroffenen Frauen und Männer wahrscheinlich erst geben, wenn sie und wir alle erfahren haben, ob jener neunte November ein Datum ist, an dem eine (um es sehr allgemein zu sagen) „bessere" Zukunft für unser Volk und alle anderen Völker begann. Ich denke, wir sollten den „Revolutionären" also noch etwas Zeit lassen mit dieser Entscheidung. Oder werden die möglicherweise gar nicht gefragt?

Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die drei denkwürdigen Ereignisse:
  • der achte Mai 1945 - leider nur in der DDR als „Tag der Befreiung" gewürdigt;
  • der siebzehnte Juni 1953 - als Beweis des Mutes von Deutschen, sich in einem totalitären Staat, aus welchen Gründen auch immer, widersetzen zu können;
  • der neunte November 1989 als historische Erfahrung, dass unter bestimmten Bedingungen (hier: Nichteinmischung von Außen) eine friedliche Revolution zu Erfolgen führt
eingebunden werden in den Tag, der die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bringt und mit diesem Datum den gegenwärtigen Prozeß, die Beendigung der Nachkriegsperiode, abschließen wird.

Manuskript abgeschlossen: 8. Mai 1990 Dr. Joachim Rumpf