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Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Frankfurt (Oder), Gesamtanalyse des 17. Juni 1953 im Bezirk, Frankfurt (Oder), 24. Juni 1953
REGIERUNG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Ministerium für Staatssicherheit
Bezirksverwaltung Frankfurt/O.
- Leitung -
Geheime Verschlußsache
An die
SED-Bezirksleitung
Sekretariat
Berlin
Frankfurt/Oder, den 24.6.53
VII/c Wa./Kr.
Tgb.-Nr. 6/17/53
2 Exemplare je 17 Blatt
1. Exemplar 17 Blatt
[Eingangsstempel:
MfS - 3 -, GVS 5889
Tgb.Nr. GVS 56]
Betr.: Gesamtanalyse.
Bezug: Dort. FS. Nr. 581 v. 20.6.53.
Zu dem im Bezug genannten Fernschreiben wird folgendes berichtet:
1.) Wo liegen die Ursachen der entstandenen Situation:
Durch die von der Regierung der DDR in den letzten Wochen und Monaten erlassenen Gesetze und Anordnungen entstand eine Mißstimmung in den breitesten Kreisen der Bevölkerung. Davon wurden betroffen: Intellektuelle, Bauern, Gewerbetreibende, Handwerksmeister, sowie große Schichten der werktätigen Bevölkerung, speziell Bau- und Montagearbeiter, die nicht in ihren Heimatorten tätig sind. Die von Partei und Regierung gemachten Fehler wurden durch Beschlüsse und Verordnungen derselben größtenteils aufgehoben. Allerdings wurden diese Beschlüsse und Anordnungen nicht schnell und intensiv genug propagiert, so daß eine Änderung der vorhandenen Unzufriedenheit und Mißstimmung noch nicht im genügenden Maße in Erscheinung trat.
Diese gespannte innerpolitische Situation wurde vom Gegner und seinem Agentenapparat ausgenutzt, um den schon lange geplanten Tag "X" durchzuführen. Durch die sich im gesamten Weltgeschehen anbahnende Entspannung der politischen Lage sah sich der Gegner veranlaßt, durch provokatorische Maßnahmen und faschistische Putschversuche die Verhandlungsbasen zu zerstören.
In unserer Republik setzte er sich das Ziel, dies durch den Sturz der demokratischen Ordnung zu erreichen.
2.) Die Ausdehnung der feindlichen Aktionen auf das Gebiet der Republik.
Übersicht über die Entwicklung im Bezirk Frankfurt/Oder:
Am 16.6.53 legten in den Nachmittagsstunden die Bau-Arbeiter der Stalinallee teilweise die Arbeit nieder. Faschistische Terrorgruppen versuchten in Berlin, das öffentliche Leben zu behindern.
Von den Arbeitern, die in Berlin wohnen, aber in den Randgebieten Berlins arbeiten, wurden diese Ereignisse auf die einzelnen Baustellen in den Randgebieten Berlins übertragen. So begann die erste Streikbewegung in unserem Bezirk am 17.6.53 um 07.00 Uhr, also bei Arbeitsbeginn, in der VEB Bau-Union Spree in Strausberg. Von dieser Bau-Union werden in der Nähe des S-Bahnhofs Strausberg Bauten für das MfS ausgeführt. Es streikten dort ca. 700 Personen. Die Streikenden bemächtigten sich der vorhandenen LKWs sowie der Wagen der privaten Fuhrunternehmer, mit Hilfe derer sie dann die umliegenden Betriebe ihres Kreises sowie die anderen Kreise anfuhren, um die dortigen Arbeiter zum Streik aufzurufen. So fuhren sie u.a. zum VEB Ziegelwerk Herzfelde und zum VEB-Bau-Mechanik Herzfelde, wo aufgrund dessen ca. 500 Arbeiter die Arbeit niederlegten. Die Bauarbeiter von der Bau-Union Spree erklärten, daß der Streik das gewerkschaftliche Kampfmittel zur Durchsetzung der Forderungen der Arbeiter sei, bildeten auf der Baustelle eine Streikleitung und stellten daraufhin folgende Forderungen auf:
Volle Sicherheit für die Sprecher des Streiks - freie Rede- und Pressefreiheit - weg mit den Normen - einen Lohn, der den Preisen der DDR entspricht, und Angleichung der Löhne an das Niveau der Lebensmittel und Gebrauchsgüter - freie Wahlen für ganz Deutschland - Abzug aller Besatzungstruppen - weg mit der KVP - weg mit den Zonengrenzen - sofortige Wiedereinführung der 75%igen Ermäßigung der Arbeiterrückfahrkarten - Freilassung aller politischen Häftlinge, auch der, die über 3 Jahre Zuchthaus haben - Rückführung sämtlicher Kriegsgefangenen - Fortfall der Volkskontrolle.
Ein Versuch der streikenden Bauarbeiter, mit Hilfe der bemächtigten LKWs nach Berlin durchzukommen, wurde durch die VP-Grenze und Soldaten der Sowjet-Armee verhindert.
Nach Auslösung der Streiks im Kreisgebiet Strausberg begaben sich die streikenden Bauarbeiter mit Hilfe ihrer LKWs nach der Stadt Fürstenwalde. Vorher versuchten sie noch, die Arbeiter von der Teer-Chemie Erkner zum Streik zu bewegen, die sich aber aufgrund guter politischer Arbeit im Betrieb nicht anschlossen. In der Bau-Union Spree Fürstenwalde wurden ca. 150 Personen zum Streik bewegt. Von hier begannen dann die Aktionen im Stadtgebiet Fürstenwalde. Sie marschierten in einem Demonstrationszug durch die Stadt in Richtung DEKA-Reifenwerk, wo von ihnen folgende Losungen mitgeführt wurden:
HO - k.o., freie Wahlen - Senkung der HO-Preise - wir brauchen keine Kanonen, gebt uns was zu futtern.
Nach Überwältigung der Wachen wurde das Fabriktor des DEKA gewaltsam erbrochen und die dort tätigen Bauarbeiter zum Streik aufgefordert, die sich fast alle unverzüglich anschlossen. Der Demonstrationszug bewegte sich dann weiter in Richtung Stadtinneres. Insgesamt streikten ca. 600 Arbeiter der Bau-Union Spree Fürstenwalde.
Dieser Streikbewegung schlossen sich an:
Gußstahl Fürstenwalde
Gaselan "
Zement-Phosphatwerke Fstw.
VEB Textil Fürstenwalde
Marienhütte
Kreisbaubetrieb
ca. 500 Personen
ca. 1.100 "
ca. 3.000 "
ca. 350 "
ca. 200 "
ca. 75 "
Gegen 14.00 Uhr folgten dann noch ca. 2 600 Personen aus dem DEKA-Reifenwerk. (Zu bemerken ist, daß alle Betriebe nicht restlos entblößt waren und in den wichtigsten Abteilungen gearbeitet wurde.)
Der Demonstrationszug bewegte sich weiter in das Stadtinnere. Als ein Teil der Demonstranten beabsichtigte, gewaltsam in die Stadtverwaltung und den Rat des Kreises einzudringen, um dort ihre Forderungen durchzusetzen, wurden sie von Angestellten und FDJlern dieser Betriebe daran gehindert. Die Situation spitzte sich so zu, daß es sich als notwendig erwies, sowjetische Truppen einzusetzen. U.a. kamen drei sowjetische Übungspanzer zum Einsatz, die den Demonstrationszug zerstreuten. Die Reste wurden durch die patrouillierenden Spähwagen aufgelöst.
Inzwischen waren die Bauarbeiter mit ihren LKWs in Richtung Rüdersdorf gefahren, drangen dort gewaltsam in das Zementwerk ein und bewegten dort ca. 800 Arbeiter zum Streik. Der Streik umfaßte die Arbeiter an den Kalk- und Ringöfen, sowie die Arbeiter des Beton- und Zementwerkes II. An den Öfen wurde so gearbeitet, daß sie nicht ausgingen.
Von Seiten der streikenden Zementwerker und der dortigen Bauarbeiter wurde eine Delegation unter Führung eines Mitgliedes der BGL zur Regierung abgesandt, um dort folgende Forderungen zu stellen:
Herabsetzung der Normen auf den alten Stand - Lohnzahlung alle acht Tage - Senkung der HO-Preise um 40% - schnellste Durchführung von geheimen Wahlen ohne Maßregelung der Werktätigen - Freilassung aller politischen Häftlinge - Öffnung des Zuganges nach Alt-Fiep - Aufhebung der Kontrollpunkte.
Die Delegation konnte an der Reise nach Berlin gehindert werden. Einige ihrer Mitglieder wurden festgenommen.
Die Streikbewegung im Kreise Eberswalde begann am 17.6.53 bei der Bau-Union Potsdam, die in der Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" am Werbellinsee tätig ist. Insgesamt streikten dort ca. 100 Personen. Von dort erfolgte seine Ausbreitung auf das EKM Finow und Kranbau Eberswalde, wo ca. 1.000 - 1.500 Personen streikten. Die ganze Bewegung fand innerhalb der Betriebe statt, so daß es zu keinerlei Demonstrationen in der Öffentlichkeit kam. Aufgrund der ersten Vorkommnisse wurden bereits von Seiten der Freunde sämtliche Betriebe des Ortes, auch die, die nicht die Absicht hatten zu streiken, besetzt, so daß es im Ort und darüber hinaus im gesamten Kreis zu keinerlei größeren Störungen kam.
Es gab Stimmen, die da forderten, die Russen mögen die Betriebe verlassen, da sie sonst nicht mehr arbeiten würden, und es genüge, wenn sie das Objekt von außen bewachen. Sie wollten nicht zur Arbeit angetrieben werden. Im EKM kam es am Abend des 17.6.53 zu größeren Diskussionen innerhalb der Belegschaft, in dessen Verlauf drei Mann beauftragt wurden, am nächsten Tag folgende Forderungen bei der Regierung in Berlin vorzutragen:
Herstellung der Einheit Deutschlands auf der Grundlage von geheimen Wahlen - Überprüfung der Regierung - Hebung des Lebensstandards des gesamten Volkes - Herabsetzung der HO-Preise um mindestens 50 % - Erhöhung der Renten- und Invalidenunterstützung - Einhaltung der Gesetzlichkeit und der Verfassung der DDR - Prämiensysteme der Betriebe ändern - jeder Arbeiter wird nach seinen Leistungen bezahlt, und der Überschuß wird auf die Belegschaft verteilt.
Zur Abreise der Delegation nach Berlin ist es nicht gekommen.
Im Walzwerk Finow verfaßte man u.a. folgende Resolution:
"Wir Kumpel des Walzwerkes Finow freuen uns darüber, daß uns die Sowjetarmee durch unsere erwiesene Arbeitsdisziplin volles Vertrauen geschenkt hat. Unsere Verpflichtung soll daher sein, daß wir durch organisierten Selbstschutz die Wachsamkeit noch mehr erhöhen, daß wir die Arbeitsplätze nicht verlassen und weiterhin unseren Betrieb vor Agenten und Saboteuren schützen. Des weiteren werden wir nicht dulden, daß es innerhalb unseres Betriebes durch äußere und innere Einflüsse gelingt, den Arbeitsablauf zu stören."
Die Resolution wurde von allen Kollegen der Schicht unterschrieben.
Die Streikbewegung in der Stalinstadt:
Am 16.6.53 wurde geplant, für den 17.6.53 gegen 11.00 Uhr eine Versammlung der Bauarbeiter von Stalinstadt durchzuführen. Als sich die Arbeiter bereits zur Versammlung formierten, wurde sie kurzfristig und ohne jede Angabe eines Grundes abgeblasen. Das führte zu den ersten Unruhen unter den bereits versammelten Bauarbeitern.
In der darauffolgenden Zeit kam es jedoch wieder zur Normalisierung der gesamten Lage.
Gegen 14.00 Uhr legten die Bauarbeiter, die mit dem Bau des Hochofens V beschäftigt sind, die Arbeit nieder. Ebenfalls legten die Arbeit nieder die dortigen Stahlbauer von EKM Bitterfeld, Stahlbau Magdeburg und Stahlbau Bergmann-Borsig Berlin.
Von dort aus marschierten sie in Richtung Sinteranlage, forderten die Arbeiter der Hochöfen und Sinteranlage auf, die Arbeit niederzulegen. Bei allen Öfen einschließlich der Sinteranlage kam es zu keiner einzigen Arbeitsniederlegung. Die Hüttenwerker des EKS zeigten im Verlauf dieser Dinge eine vorbildliche Disziplin und übernahmen selbst den Schutz ihrer Öfen, indem die abgelöste Schicht die Wache übernahm. Eine ähnliche Lage war auch im Hüttenzementwerk Ost. Jedoch schlossen sich diesen Streikenden die Bauarbeiter der Bau-Union Spree an, die am Aufbau der Walzstraße und des Stahlwerkes tätig sind. Von dort marschierten die Streikenden in einer Stärke von ca. 400 - 500 Mann in die Stalinstadt, wo sie alle Bauarbeiter aufforderten, die Arbeit niederzulegen. Es gab eine ganze Reihe Fälle, wo die dortigen Bauarbeiter gewaltsam gezwungen wurden, ihre Arbeit niederzulegen. Dann setzte sich der Zug, der inzwischen eine Stärke von ca. 2.000 Mann erreicht hatte, in Richtung Fürstenberg in Bewegung. Vorn weg marschierten Zimmerleute, bewaffnet mit Äxten und Knüppeln. Die Spitze der Demonstranten forderte:
Freie Wahlen - weg mit der Regierung - wir unterstützen Berlin - Herabsetzung der HO-Preise - weg mit der KVP - weg mit den Normen - usw.
Auf dem Marktplatz der Stadt Fürstenberg angelangt, verschafften sie sich dann gewaltsam Einlaß in die Kreisleitung der Partei und wurden tätlich gegenüber den dortigen Funktionären. Sie schlugen mit Flaschen und Knüppeln auf die dort Anwesenden ein. Im weiteren Verlauf drangen sie in die Zimmer der unteren und oberen Stockwerke und zerrissen die Bilder und warfen die vorhandenen Akten auf die Straße.
Der Ingenieur XY [Name geschwärzt] vom EKS, der sich unter diesen Provokateuren befand, forderte ein Mitglied der KPKK in der Kreisleitung auf, die Parteidokumente herauszugeben. (XY befindet sich in Gewahrsam.) 10 Angehörige der VP drangen dann in das Parteihaus ein und begannen, es von den Banditen zu säubern. Die Menge warf daraufhin mit Pflastersteinen und Flaschen nach den Angehörigen der VP, wobei auch sämtliche Fenster des Hauses zertrümmert wurden.
In dieser Situation trafen die Freunde der dortigen Kommandantur mit drei Wagen ein, wo dann der Platz gemeinsam mit der VP und den Freunden gesäubert wurde.
Man kann sagen, daß sich die Haupträdelsführer des Überfalles in unserem Gewahrsam befinden.
Die Einwohner der Stadt Fürstenberg erklärten sich mit diesen Vorgängen nicht solidarisch und verurteilten im Gegenteil die begangenen Handlungen.
Am 18.6.53, 08.00 Uhr begann ein Streik in der Schuhfabrik Storkow Krs. Beeskow mit 400 Personen. Aufgrund guter Aufklärung erklärte man sich jedoch dort bereit, die Arbeit am 19.6.53 wieder aufzunehmen.
Ebenfalls am 18.6.53 streikten 30 Arbeiter von der Bau-Union Potsdam in Beeskow. Dieselben sind am Bau der Brücke beschäftigt.
Am 18.6.53 stellten die Arbeiter bei der Bau-Union Dresden, Rostock, Schwerin und Halle, die an dem Autobahnobjekt Frankfurt/Oder tätig sind, folgende Forderungen, die sie in einem Telegramm an den Bundesvorstand des FDGB, Gen. XY [Name geschwärzt], schicken wollten:
Sofortige Abhaltung freier Wahlen - fort mit den Zonengrenzen - weg mit den Normen und Festsetzung auskömmlicher Stundenlöhne - Entlassung aller politischen und wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilter Häftlinge - zur Hebung des Lebensstandards eine allgemeine Preissenkung um 40 % - weg mit der bisherigen und Einsetzung einer provisorischen Regierung bis zu den unter 1) geforderten Wahlen.
Bei Nichtannahme dieser Punkte drohten sie, am 19.6.53, 12.00 Uhr in den Streik zu treten. Der Streik konnte aufgrund der Aufklärung verhindert werden. Die beiden Hauptinitiatoren wurden in Haft genommen.
Nach den vorliegenden Zahlen haben am 17. und 18.6.53 ca. 15.000 Personen, einschließlich derer, die nur kurze Zeit die Arbeit niederlegten, gestreikt.
In der Zeit vom 17.6. - 24.6.53 wurden im Bereich der Bezirksverwaltung von den Organen der Staatssicherheit, der VP und den Freunden 175 Personen festgenommen.
Die Verkehrs- und Versorgungsbetriebe wurden von den Streiks nicht erfaßt, so daß keine nennenswerten Stockungen auftraten.
In den Randgebieten Berlins, in den Orten Herzfelde, Bernau und Strausberg kam es zu einigen Fällen von übermäßigen Käufen.
Am 19.6.53 wurde die Arbeit in allen Betrieben wieder aufgenommen. Die gesamte Lage im Bezirk hat sich wieder völlig normalisiert.
3.) Welche Geschlossenheit, Aktivität und Kampfkraft entwickelte die Partei zur Zerschlagung der feindlichen Aktionen:
Man muß feststellen, daß von Seiten der Partei die gesamte Situation vorerst nicht richtig eingeschätzt wurde, und daß es anfangs zu einem gewissen Durcheinander gekommen war. Später hatte jedoch die Bezirksleitung der SED die Dinge fest in der Hand. Die einzelnen Kreissekretäre erhielten laufend Anweisungen, wie sie sich in der gegebenen Situation zu verhalten haben. Die Überwachung geschah durch Instrukteure. In besonders gefährdete Kreise schickte man Instrukteure, die sich sehr aktiv einsetzten. Nach Angabe von Seiten der Partei befanden sich ca. 2.000 Agitatoren im Einsatz.
Viele Parteiorganisationen erkannten nicht die Schwere der Situationen und zeigten schwankende und versöhnlerische Tendenzen.
So gaben die Genossen der Bau-Union Spree Strausberg ein sehr schlechtes Beispiel. Sie kapitulierten vor den aufgehetzten Bauarbeitern und unternahmen nichts, um diesen Horden entgegenzutreten, sondern bestiegen fast ausnahmslos die von ihnen requirierten Fahrzeuge.
In der Wohngruppe Herzfelde hatten die Genossen Angst, die an die HOs geschmierten Parolen zu entfernen.
Ein positives Beispiel gab die Betriebsgruppe der Ziegelwerke Herzfelde, die sofort nach Abfahrt der Streikenden die Wachen zum Schutz des Betriebes einteilten.
Von den Streikenden der Bau-Union Spree wurde auf ihrer Fahrt nach Rüdersdorf der Wagen des 2. Sekretärs der Kreisleitung Strausberg an der Weiterfahrt zu behindern versucht und zwei Schüsse auf denselben abgegeben, wovon einer in unmittelbarer Nähe der hinteren Sitze in die Karosserie einschlug.
4.) Wie wurden die staatlichen Organe ihrer Verantwortung in dieser Situation gerecht:
Bei Bekanntwerden des Kommuniques des Ministerrates vom 11.6.53 wurde eine Dienstversammlung beim Rat des Bezirkes Frankfurt durchgeführt, auf der alle Fragen erörtert wurden, die mit dem Kommunique im Zusammenhang standen. U.a. wurden die Fragen der Republikflüchtigen geklärt. Die Finanzabteilung wurde angewiesen, in besonderen Fällen 10,00 DM zur Überbrückung auszuzahlen. Ferner wurden die Fragen der devastierten Wirtschaften und der Wirtschaften Republikflüchtiger besprochen, und es wurden Anweisungen gegeben, in diesen Fragen schnellstens Maßnahmen einzuleiten.
Alle Räte der Kreise wurden zusammengefaßt, wo ihnen die Beschlüsse auf der Ratssitzung bekanntgegeben und erläutert wurden.
Zur Aufklärung und Anleitung der Kreise wurden Instrukteure nach dort geschickt, die täglich Operativ-Meldungen
a) über die Rückkehr der Republikflüchtigen,
b) über neu hinzugekommene aus Westberlin abzugeben haben.
Während der Aktion vom 17.6. - 21.6.53 haben alle Angestellten ihre Aufgaben gewissenhaft gelöst.
Im Kreise Beeskow trat auf einer Bürgermeistertagung ein Bürgermeister auf und brachte zum Ausdruck, daß er keinen Ernteplan aufstellen wird. Von den anderen Bürgermeistern, die dort anwesend waren, erntete er mit dieser Bemerkung Beifall. Daraus geht hervor, daß viele Bürgermeister mit diesen Plänen nicht einverstanden sind.
Vom Rat des Bezirkes wurden in diesen Tagen folgende Maßnahmen angeordnet:
a) Verstärkung des Betriebsschutzes des Hauses des Rates des Bezirkes.
Dasselbe hat zu geschehen in den Häusern der Räte der Kreise.
b) Die BPO beim Rat des Bezirkes hat sofort bei Bekanntwerden, daß ein Demonstrationszug der Streikenden der Bau-Unionen aus Güldendorf im Anmarsch sei, Maßnahmen eingeleitet, um den Demonstranten entgegenzutreten. Alle Mitarbeiter haben sich damit einverstanden erklärt. Nur einige, weibliche Angestellte, unterlagen ängstlichen Schwankungen und baten um Freistellung.
5.) Auftreten der Leitungen und Mitglieder der Massenorganisationen, besonders der Gewerkschaften und der Jugend:
Im Bezirksvorstand des FDGB wurde ein Operativstab eingerichtet, der stündliche Berichte aus den Kreisen entgegennahm. In die Schwerpunkte des Bezirkes wurden Instrukteurbrigaden geschickt. Von Seiten der Leitungen hat sich niemand gesträubt, an den Einsätzen teilzunehmen. Die Einsätze erfolgten in Zusammenarbeit mit der Partei. Aus den Betrieben ist bekannt, daß die Gewerkschaftsleitungen, die einen guten Kontakt mit den Arbeitern hatten, zu Streikversammlungen hinzugezogen wurden.
Aus dem EKM Finow wird berichtet, daß der BGL-Vorsitzende die Streikforderungen insofern abschwächen konnte, daß die Forderung "Abtritt der Regierung" gestrichen wurde. Die wirtschaftlichen Forderungen blieben jedoch aufrechterhalten. Es wurde festgestellt, daß die Genossen der Gewerkschaftsleitungen in den Diskussionen mit den Arbeitern keine Parteiabzeichen trugen.
Der Gewerkschaftssekretär vom Kreisvorstand Fürstenwalde wird von den Arbeitern gezwungen, mit zu demonstrieren, wo er das Transparent "Die HO macht uns k.o." tragen mußte. Angeblich wurde er im Verlauf der Demonstration von Rowdies überwacht.
Die FDJ kam in diesen Tagen nur sehr schwach zum Vorschein. Zu erwähnen sei noch, daß junge FDJler, die von der Partei als Agitatoren eingesetzt wurden, keinen guten Anklang bei den Arbeitern fanden.
Viele Demonstranten in Stalinstadt setzten sich unter anderem auch mit Mitgliedern der FDJ zusammen, die auch gewaltsam mit in das Gebäude der Partei eindrangen.
6.) Taktik und Methoden des Feindes:
Es konnte festgestellt werden, daß von Seiten der Streikleitungen bezüglich ihrer Forderungen so vorgegangen wurde, daß sie erst ökonomische Forderungen wie: weg mit den Normen, Senkung der HO-Preise usw., propagierten, die natürlich bei den Massen Anklang fanden, und dann geschickt die politischen Forderungen mit den ökonomischen verbanden.
Eine weitere Taktik war, daß man die Hausfrauen aufputschte und sie zu Angsteinkäufen veranlaßte mit dem Ziel, die Versorgung lahmzulegen.
7.) Analyse der Zusammensetzung der Rädelsführer:
Durch die Untersuchungen wurden bis jetzt 6 Rädelsführer ermittelt:
XY, Beruf: Zimmermann, 53 Jahre alt, 1950 aus der Partei ausgeschlossen.
XY, Beruf: Kaufmann, Mitglied der AGL, 63 Jahre alt, kleinbürgerlicher Herkunft, seit 1940 Mitglied der NSDAP, vorbestraft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
XY, Beruf: Ingenieur, 36 Jahre alt, entstammt einer großbäuerlichen Familie, 1949 Eintritt in die SED, 1952 Austritt.
XY, Beruf: Arbeiter, 29 Jahre alt, bei der faschistischen Wehrmacht, vor seiner Beschäftigung in Fürstenberg war er einige Tage bei der VP tätig.
XY, Beruf: Arbeiter, 21 Jahre alt, kleinbürgerlicher Herkunft, aus der FDJ ausgetreten, arbeitete seit März 1953 in Rüdersdorf, kam von Leipzig aus väterlichem Geschäft.
XY, Beruf: Transportleiter bei der Bau-Union, 29 Jahre alt, kleinbürgerlicher Herkunft, 1943 angeblich zur SS gezogen, 1951 zu 13 Monaten Zuchthaus wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilt, ging von 1945 bis 1950 keiner Beschäftigung nach.
8.) Die Entwicklung der Massenstimmung seit der Veröffentlichung des Kommuniques des Politbüros, besonders seit der faschistischen Provokation:
Im allgemeinen ist zu sagen, daß sich die Bevölkerung zu den Beschlüssen des Ministerrates positiv äußert. Das geht aus den verschiedenen Berichten von GI und aus Briefauszügen hervor.
So schreibt der Arbeiter XY:
"Heute früh hörte ich im Radio von den neuesten Beschlüssen des Polit-Büros. Sollte sich die ganze Situation bei uns doch noch entspannen? Es sieht doch so aus. Das Gespenst eines neuen Krieges ist doch für unser beider Zukunft das Schlimmste gewesen."
Der Arbeiter YZ schreibt:
"Haben Oma und Dedy an mich gedacht, als die Regierungsbeschlüsse veröffentlicht wurden? Ich hatte ihnen gesagt, daß die Sowjets zum Nachgeben bereit wären, um das notwendige Klima für eine Viererkonferenz zu schaffen. Nun ist es bereits eingetreten. Der von dem Semjonow diktierte innenpolitische Kurs läuft praktisch darauf hinaus, den von Ulbricht geplanten Aufbau des Sozialismus abzubremsen. Wenn man bedenkt, was dazu alles geopfert werden muß (Prestige, Reorganisation der Oberschulen usw.), so ist das ein sehr großes Entgegenkommen an den Westen. Wahrscheinlich werden die Sowjets einen neuen, großzügigen Vorschlag zur Regelung der Deutschlandfrage machen, und zwar frühestens zur Bermuda-Konferenz, spätestens während der Bonner Bundeswahlen."
Daneben gibt es natürlich auch negative Äußerungen, die in den meisten Fällen darauf abzielen, daß man sagt, "Beschlüsse ganz schön, aber wird man sie durchführen." Es gibt eine ganze Menge von Briefen, in denen man die Worte lesen kann: Die Hoffnung ist wohl da, allein mir fehlt der Glaube, oder die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Äußerungen gibt es auch dahingehend, indem man sagt, daß das Vertrauen der Massen zur Regierung erschüttert sei und auch nicht wieder richtig gefestigt werden kann. Die SED hätte ihr Prestige verloren.
Andere Schichten der Bevölkerung äußern sich so, daß es eine Selbstverständlichkeit sei, daß die Regierung solche Maßnahmen ergreift. Irgend etwas mußte ja kommen.
Die Stimmen zu der faschistischen Provokation sind, man kann sagen, zum größten Teil positiv. Das geht schon daraus hervor, daß von jeweils 10 Briefen 8 davon meistens positiv sind. Man verurteilt die Provokateure, verurteilt ihre Handlungsweise bezüglich des Zertrümmerns von Einrichtungen und begrüßt die Maßnahmen der Regierung und der Sowjetarmee betr. Erschießung solcher Banditen.
In Stalinstadt und dem EKS hat sich auf verschiedenen Stellen die Arbeitsproduktivität gerade in der letzten Zeit erhöht. Die Hüttenwerker haben in diesen Tagen den höchsten Abstich erzielt.
Daneben gibt es negative Stimmungen, die sich besonders um die Verhafteten drehen. Viele Stimmen behaupten, daß man zu viele Unschuldige verhaftet hätte. In Stalinstadt äußerten sich einige Brigaden der Bau-Union dahingehend, daß man nochmals die Arbeit niederlegen will, wenn man ihre Kollegen nicht freigibt.
9.) Die Auswirkung der Ereignisse auf die Produktion, die Erfassung, den Handel und den Verkehr:
In den unter Punkt 2) genannten Betrieben ist die Produktion für ca. 2 Tage mehr oder weniger vollständig ausgefallen. Günstig für die Ziegelindustrie und die Baustellen war, daß es am 17.6.53 sehr stark regnete, so daß die Produktion sowieso teilweise eingestellt wurde. Die Auswirkungen auf die Produktion im Industrie- und Bauwesen sind vorhanden. Die Belegung durch Zahlenmaterial ist z.Zt. nicht möglich.
Alle Kreise melden jedoch übereinstimmend, daß die Arbeiter bemüht sind, die ausgefallene Arbeitszeit durch Überstunden wieder wettzumachen. Stalinstadt meldet, daß ein solches Arbeitstempo bei verschiedenen Betrieben und Bauobjekten bis jetzt noch nicht dagewesen ist. Dasselbe trifft zu auf die Hüttenwerker.
Der öffentliche Verkehr der Reichsbahn sowie die öffentlichen Versorgungsbetriebe, Elektrizität- und Wasserwerke wurden von diesen Dingen nicht betroffen. Dort wurde überall normal gearbeitet.
Bis auf vereinzelte Angsteinkäufe im Gebiet von Bernau und Herzfelde, auf Stockungen in der Kartoffelversorgung in Eberswalde und Freienwalde, traten auf dem Gebiete des Handels und der Versorgung keine Störungen auf.
Im Bezirksmaßstab liegen keine Anzeichen vor, daß unsere Bauern ihrer Ablieferungspflicht nicht nachkommen. Obwohl die Ablieferungspflicht in einigen Gebieten etwas schleppend vor sich geht, sind doch die Ursachen dafür bei den Erfassungsorganen zu suchen, die angeblich noch keine neuen Richtlinien über die Erfassung und die Methoden der Erfassung haben.
Die Meldungen über das Zurückgehen der Milcherfassung entsprechen nach den durchgeführten Überprüfungen nicht den Tatsachen.
10.) Die Einwirkungen der Streiks und Provokationen auf das Land:
Bis auf kleine, unbedeutende Vorkommnisse in den landwirtschaftlichen Gebieten unseres Bezirks kann man die Lage als normal bezeichnen. In keinem Ort traten die Bauern organisiert zusammen, um die Arbeit niederzulegen. In einigen Kreisen gibt es vereinzelte Austritte aus LPGs. Die LPG Gusow, Seelow, forderte am 17.6.53 eine Verminderung ihres Solls um 50%. In der MTS Trebnitz, Seelow, stellte die Schmiedeabteilung die schriftliche Forderung auf höhere Löhne.
Einige Großbauern bekamen durch die faschistischen Provokationen Mut. In der Gemeinde Biesenbrow äußerte sich einer: Jetzt kommen die Verhältnisse von 1945 wieder. Gegenüber dem Bürgermeister tat er folgende Äußerung: Die Regierung, die uns regiert, hat keine Ahnung, alle gehören ins Zuchthaus, dorthin, wo sie die angeblichen Genossen hingebacht haben. Die bisherigen Wahlen waren nur Zwangsmaßnahmen und keine Wahlen auf freiwilliger Basis. Die Wahlen in Westdeutschland dagegen sind gerecht, und nur Adenauer ist derjenige, der das deutsche Volk vor der Versklavung retten kann. Wir haben hier eine Arbeiterregierung, aber wenn die Arbeiter die Freiheit wollen, werden gegen sie Panzer aufgefahren.
Über das Verhalten der Klein- und Mittelbauern liegen keine Meldungen vor.
Im ganzen Bezirk ist nichts bekannt, daß die Bauern neue politische Losungen wie - freie Marktwirtschaft - usw. aufgestellt haben.
Aktionen der Bauern gegen die Maßnahmen der Regierung sind im Bezirk keine vorhanden.
11.) Intelligenz, Schulen und Kirchen und ihr Verhalten in dieser Situation:
Die Intellektuellen in den Betrieben zeigten zum größten Teil eine unentschlossene Haltung, obwohl es auch Ingenieure in Stalinstadt gegeben hat, die mehr oder weniger aktiv an den Provokationen teilnahmen. Der Techn. Direktor im XY-Werk [geschwärzt], YZ [Name geschwärzt], hat sich zur gesamten Situation folgendermaßen geäußert: Ich sehe mehr und mehr ein, daß ich ohne die Partei nichts machen kann. Ich verpflichte mich, meine ganze Kraft noch mehr zum Wohle unseres Volkes einzusetzen.
Werkleiter XY: Ich bin bis heute noch nicht damit einverstanden, daß man sowjetische Truppen zum Schutz des Werkes eingesetzt hat. Zumindest hätte man mich vorher verständigen müssen.
Einige Ärzte im Stadtkrankenhaus Fürstenwalde wollten das Krankenhaus zum Teil räumen, um Betten für verwundete Demonstranten freizubekommen.
Der Direktor der Oberschule XY [geschwärzt] äußerte sich, daß man nicht so viel von Provokationen, sondern mehr von den Fehlern unserer Regierung sprechen sollte.
Ein Optiker in Frankfurt/Oder äußerte sich so, daß man 1848 die Revolution auch als Putsch von Seiten der Regierung hingestellt hat. Jetzt macht man das genauso. Damals sollten es ausländische Emissäre ausgelöst haben und heute amerikanische Agenten.
Die Kirchen im Bezirk Frankfurt/Oder nehmen zu diesen gesamten Ereignissen eine abwartende Haltung ein. Stimmungen darüber gibt es bisher keine.
12.) Verhalten der Blockparteien:
Die DBD nahm eine positive Haltung ein und hatte mit unserer Partei einen guten Kontakt in diesen Tagen. In Strausberg z.B. fanden täglich Absprachen zwischen dem Sekretär der DBD und unserem Kreissekretär statt, wo die gemeinsamen Aufgaben koordiniert wurden. Auch die Funktionäre der NDPD verhielten sich zu diesen Ereignissen positiv, indem sie ihren Parteiapparat zur Aufklärung der Massen einsetzten.
Anders sah es mit der CDU und der LDP aus. Uns wurde bekannt, daß hauptamtliche Funktionäre der LDP und CDU zum Kommunique folgendes erklärten: Ganz gut das Kommunique, aber wir sind skeptisch. Bei euch in der Partei sitzen zu viele kleine Hitler, die die Beschlüsse der Regierung und der Partei unten nicht richtig durchführen.
In den Tagen vom 16.6. - 20.6.53 traten die CDU und LDP als Partei überhaupt nicht in Erscheinung.
[Unterschrift]
(Grünler)
Leiter der Bez.-Verwaltung
Nachtrag zu Punkt 8): Über die Entwicklung der Massenstimmung:
Zur Entwicklung der Massenstimmung ist noch hinzuzufügen, daß sich große Teile der Bevölkerung, besonders auch die Hüttenwerker vom EKS, folgendermaßen äußern:
"Kaum sind die ganzen Ereignisse vorbei, schon beginnt man wieder in Presse und Radio mit der Schönfärberei und mit Phrasen zu dreschen." So äußern sich die Hüttenwerker, daß sie zwar in den Tagen des 16. und 17.6.53 gestanden haben, aber sie deshalb noch lange nicht "rot" seien.
Man sollte mit beiden Beinen auf der Erde bleiben.
[Quelle: BStU, MfS, SdM Nr. 249, Bl. 16-33; vom BStU aus Gründen des Datenschutzes geschwärzte Namen wurden durch fiktive Anfangs-Großbuchstaben ersetzt.]
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