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Joachim Fiedler
Der 17. Juni 1953 in Leuna
Ich bin wie immer an dem Tag von Naumburg nach Leuna zur Arbeit mit der Bahn gefahren. Bin dann in meine Werkstatt. Ich war in der Siedlungswerkstatt, die außerhalb des Werkes lag. Hier war ich als Elektro-Monteur beschäftigt. Mein Arbeitsplatz war zur Zeit die Berufsschule vom Werk, da hatte ich Installationsarbeiten zu verrichten. Gegen 10 Uhr kam der Hausmeister Herr Uhnold zu mir und sagte, am Bau 24 Haupteingang vom Werk, ist eine Kundgebung, es soll jeder hinkommen. Da habe ich mich auf den Weg gemacht, hier stand der Lautsprecherwagen vom Werk und sehr viel Menschen.
Vom Werk Süd kamen die Arbeiter mit schwarz-rot-goldenen Fahnen und Gesang anmarschiert. Es wurden allerhand Forderungen an die Regierung Ulbricht und an die Werksleitung gestellt. Der alte Werksdirektor Dr. Eckard wurde von den Arbeitern auf den Schultern von seiner Wohnung ins Werk getragen. Der neue politische Direktor war schon verschwunden. Auf einmal wurde von einem Arbeiter in das Mikrofon gerufen: "Das Werk muß abgestellt werden." Das war für mich der Augenblick um einzugreifen. Ich bin an das Mikrofon und habe die Menge mit den Worten beruhigt: "Das Werk kann man nicht ganz abstellen, sondern nur auf halbe Kraft fahren, sonst geht unser Arbeitsplatz in die Luft." Das wurde verstanden.
Dann habe ich folgende Forderungen gestellt:
1. Freilassung aller politischen Häftlinge
2. Ein einiges Deutschland
3. Mehr Lebensmittel
4. Mehr Rente
5. Entfernung der politischen Spitzel in den Werkstätten
6. Herunter mit den Arbeitsnormen
Die Arbeiter hatten verstanden. Jetzt mußte ich die Menge von aufgebrachten Arbeitern noch wegbringen, sonst wäre wahrscheinlich ein Unglück geschehen. Da hörte ich, daß die Arbeiter von Buna nach Merseburg zogen. Ich habe sofort geschaltet und die Menge, das waren nicht bloß Arbeiter, sondern auch Anwohner von Leuna, zu einem Marsch nach Merseburg organisiert, um sich mit den Arbeitern von Buna zur Kundgebung zu treffen.
Von jeden Betrieb wurde ein Mann in den großen Saal im Bau 24 berufen. Jetzt wurde die Streikleitung gewählt.
Das waren folgende Werksangehörige:
Günter Rux, Elektriker,
Joachim Fiedler, Elektriker,
Otto Rohrbacher, Klempner,
Richart Kaufmann, Schlossermeister,
Josef Pucek, Kesselschweißer,
Hans Tippmann, Angestellter.
Als das alles geschehen war, wurde später mit dem russischen Werksdirektor eine Besprechung angesetzt. Bei der Besprechung mit dem technischen Direktor Dr. Wirth und dem russischen Direktor war ich dabei. Wir wurden gefragt, was wir wollten. Da die russische Besatzung im Manöver war, hatten wir freien Rücken. Wir haben gesagt, daß die Normen zu hoch sind und die politischen Aufpasser aus den Betrieben müssen. Bessere Lebensbedingungen. Von der russischen Besatzung wollen wir nichts, sondern von unserer Regierung. Er hat uns versprochen, etwas zu tun.
Nun war es Nachmittag geworden und die Arbeiter kamen von der Kundgebung von Merseburg zurück. Nun wurde gefragt: Wie geht es weiter? Wir halten unsere Forderungen aufrecht. Es sind in der Nacht einige Arbeiter dageblieben, um den Funktionären nicht den Platz zu überlassen.
Da die Eisenbahn nicht mitgestreikt hatte, kam am 18. Juni früh, als wir weiter verhandeln wollten, die russische Besatzung aus dem Manöver mit Panzer und Fußtruppen ins Werk. Ein Offizier fragte aus dem Panzer heraus, auf gut deutsch: "Was macht ihr hier?" Wir haben das alles erklärt, und er sagte: "Gut macht weiter, war bei uns in Rußland schon drei Mal." Aber dann kamen die Russen mit MP und Panzer und haben uns an die Arbeit getrieben. Einige Leute sind noch in der Nacht über Berlin in den Westen geflüchtet. Ich selbst habe meine Arbeit wieder aufgenommen. Es folgten nun Tage für mich mit dem Gedanken, was wird noch kommen. Auf einmal wurde der Justizminister Fechner abgesetzt und inhaftiert. Dann kam die "rote Hilde" (Benjamin) und hat uns alle überwachen lassen. Ich habe gemerkt, daß immer dieselbe Person auf meinen Arbeitsweg mit war. Später habe ich es erkannt - die Person war bei der Verhaftung dabei.
Meine Verhaftung erfolgte am 1.9.1953., um sechs Uhr früh in Naumburg, als ich zur Arbeit fahren wollte. Mit vier PKW war meine Straße von allen Seiten besetzt und von jeder Seite kamen zwei Mann auf mich zu. Sie fragten nach meinen Namen und sagten: "Sie sind verhaftet." - Wie einen Verbrecher hat man mich in einen PKW geschoben. Dann hat man mich nach Merseburg gebracht. Ich wurde noch nachts vernommen und am anderen Tag nach Halle in den Roten Ochsen gebracht, in Einzelhaft. Nun folgten Vernehmungen - Tag und Nacht, zu jeder Stunde wurde ich aus der Zelle geholt. Da wurde alles aufgerollt, was wir gemacht hatten. Man fragte uns auch immer wieder, wer aus dem Westen dahinter stecke, nach Namen wurde gefragt, aber da kannte ich keine, da die Leute alle aus dem Werk zusammen gestellt waren, so daß wir früher keine Verbindung hatten. Dann hat man mir zur Last gelegt, daß ich 1952 mit meiner Frau in Westberlin war. Schon hatte man einen Grund, mich mit der VOS und den freiheitlichen Juristen zusammenzubringen.
In der Zelle ein Stahlbett mit Strohsack, ein Kübel für die Notdurft, ein Schemel, ein Klapptisch. Tagsüber durfte man nicht auf das Bett. Essen durch die Türklappe. Wenn man Mittags zur Vernehmung mußte - ein bis zwei Stunden, das war die Regel - war das Essen kalt und nicht mehr zu genießen. Dann kam der Prozeß. Wir wurden in einen Gefangenenwagen mit Einzelzellen ins Gericht transportiert. Hier wurde ein Schauprozeß mit Öffentlichkeit durchgeführt. Hier haben wir unsere Angehörigen das erste Mal wieder gesehen, sowie alle anderen Angeklagten.
Wir waren angeklagt auf Verbrechen nach Artikel 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit KRD 38, Abschn. II, Art. 3.
"Der Strafsenat des Bezirksgerichts Halle/S. in der Sitzung 29., 30., 31. Dez. 1953, an der teilgenommen haben:
Oberrichter am Bezirksgericht Kretschmar als Vorsitzender,
Margarete Beer, Kaderleiterin Halle/Saale,
Kurt Kunert, Streckenmeister Halle/Saale,
Staatsanwalt Jürgens als Vertreter des Bezirksstaatsanwaltes,
Justizangestellter Ringelsbach als Protokollführer,
hat für Recht erkannt:
Der Angeklagte
Günther Rux 5 Jahre Zuchthausstrafe,
Joachim Fiedler 3 Jahre,
Richard Kaufmann 5 Jahre,
Josef Pucek 3 Jahre,
Hans Tippmann 2 Jahre und 6 Monate,
Otto Rohrbach 1 Jahr
mit Sühnemaßnahme für 5 Jahre.
Die Kosten tragen die Angeklagten."
Nach der Verurteilung kam ich zurück in den "Roten Ochsen" - erst in eine Einzelzelle, dann ein paar Tage später kam ich in eine Zelle, die mit vier Mann belegt war. Diese Männer hatten an der Kleidung rote Ringe - es waren zum Tode verurteilte, zum Teil Mörder. Ich brauche nicht zu sagen, was in mir vorging, aber es hat mir keiner etwas getan, als sie erfuhren, warum ich verurteilt worden war.
Nach drei Wochen wurde ich aus der Zelle geholt und in einen anderen Block verlegt. Da kein Elektriker da war, wurde ich den Halleschen Kleiderwerken zu geteilt und mußte Reparaturen und neue Installationen verrichten, an den Bändern der Schneiderei. Da habe ich ein paar Mark verdient, davon wurden die Kosten und Sozialversicherung abgezogen. Dann habe ich auch den ersten Besuch von meiner Frau erhalten. Hier habe ich erfahren, was man noch alles gemacht hatte - Haus- und Wohnungsdurchsuchung. Dabei hatte man einen Karton Unterwäsche (neu), eine Briefmarkensammlung und eine Münzsammlung (Weimarer Republik, ,Drittes Reich' und Kaiserreich), den Führerschein (LKW, PKW) sowie sämtliche Sportabzeichen beschlagnahmt. Man hat gesagt, das sei nicht mehr zeitgemäß. Ohne Quittung.
Ein Artikel im "Leuna-Echo" ging auf uns los; wir seien die Agenten Adenauers: "Leunaarbeiter schlagt den Klassenfeind. Hinweg mit den Provokateuren des Tages X. Sie haben in unserem Werk nichts zu suchen. Die Entfernung der Agenten und Provokateure sichert unsere friedliche Aufbauarbeit zur Verwirklichung der deutschen Einheit." Also wir waren die Staatsfeinde Nr. l.
1954 wurden die Männer alle verlegt, und es blieben nur noch 30-40 Männer als Handwerker da. Der "Rote Ochse" wurde zum Frauengefängnis. Wir Handwerker kamen in Block C, in einen kleinen Teil, der abgeschlagen war. Wir waren dann zu fünf Mann auf der Zelle. Ich wurde dann - da ich als einziger Elektriker für die Schneiderei da war - auch nachts aus der Zelle geholt, um Reparaturen an den Bändern in der Schneiderei durchzuführen. Und das immer mit einem Wachtmeister. Wegen des 17. Juni wurde ich ab und zu von einigen Wachleuten angepöbelt - ich habe nie etwas dazu gesagt.
Am 31.8.1956 wurde ich entlassen - ich mußte meine Strafe voll absitzen, andere haben Strafnachlaß bekommen, wahrscheinlich weil sie sich mit dem Personal gut verstanden haben. Mein Urteil hatte man mir abgenommen und auch bei der Entlassung verweigert. Als ich wieder nach Naumburg kam, habe ich mich gleich wieder um Arbeit bemüht. Die Leuna-Werke haben mich abgelehnt, die Halleschen Kleiderwerke haben auch abgelehnt, andere Versuche waren ebenso zwecklos. Dann mußte ich mich bei der Stasi in Naumburg zweimal in der Woche zur Vernehmung melden. Das war zuviel für mich - keine Arbeit und überwacht. So habe ich mit meiner Familie am 7. Oktober 1956 die DDR verlassen, mit Glück und Hilfe von Freunden - dem Hausarzt und einem Tierarzt aus Ostberlin.
Nachdem ich mir nach der Wende meine Stasiakte und mein Urteil besorgt hatte, stellte ich fest, daß ich auch Überwachung von Post und Telefon hatte. Es wurde jeder Brief geöffnet.
In der Bundesrepublik bin ich gut aufgenommen worden; nur die kleineren Behörden machten Schwierigkeiten. Dann später, nach einem Jahr, hatte ich voll Fuß gefaßt. Nur eines wurde bis jetzt von keiner Regierung eingelöst: Volle Befriedigung der politischen Häftlinge.
Jetzt bin ich 85 Jahre und hoffe, daß von Seiten der Regierung noch etwas geschieht. Versprochen war es, aber dabei ist es geblieben. Man hat nur immer große Veranstaltungen für die Öffentlichkeit gemacht, aber ohne uns mal dabei zu haben. Das ist sehr schlecht - Versprechen kann man viel, man sollte es aber auch halten.
Das war der 17. Juni 1953, der für die Freiheit war, aber sehr schlecht geendet hat.
Ludwigshafen, 12. Mai 2002
Joachim Fiedler
[Quelle: Bericht von Joachim Fiedler, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2002]
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