Lothar Herbst
Die Ereignisse des 17. Juni 1953 in Friedersdorf und Bitterfeld

[Auszüge aus der Ortschronik von Friedersdorf]


Der Aufstand am 17. Juni 1953 in Bitterfeld wurde durch die Klugheit und Führungsfähigkeit der Streikführer aus dem Stadium der Spontaneität herausgehoben. Die Streikführer bildeten einen legalen freiheitlichen Rat von Bitterfeld, der die Macht übernahm und ein klares Programm formulierte.

Sprecher des Kreisstreikkomitees war Wilhelm Fiebelkorn. In Ergebnis des Krieges kam er 1945 nach Friedersdorf. Gedient hatte er bei der Kriegsmarine. Als Untermieter wohnte er im Hause Rudolph, heute Hinsche, Windmühlenweg 20. Er heiratete in Friedersdorf und wurde Teilnehmer am l. Neulehrerlehrgang, der am 2.1.1946 in der Helene-Lange-Schule in Bitterfeld begann. Für seine Entwicklung als Lehrer war nach seinen Angaben der in Friedersdorf wohnende Lehrer Alwin Freydank ausschlaggebend. Fiebelkorn bekam eine Anstellung als Lehrer in der Comeniusschule in Bitterfeld und verzog nach Bitterfeld in die Anhaltsiedlung.

Am 16. Juni erfährt Wilhelm Fiebelkorn in Friedersdorf vom Streik der Berliner Bauarbeiter. In der Frühe des 17. Juni entscheiden sich die Arbeiter der Bitterfelder Großbetriebe für den Streik. Der bekannteste Streikführer im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld ist der Sandersdorfer Paul Othma. Paul Othma führt den Marsch der Streikenden nach Bitterfeld an. Sie haben sich eingehakt und gehen langsam Richtung Bitterfeld. Gegen 9.30 Uhr erreichen sie die Eisenbahnbrücke (Überbau) an der Comeniusschule. Fiebelkorn beendet den Unterricht und reiht sich ein. Die Streikenden werden von der Bevölkerung jubelnd begrüßt. Fiebelkorn formuliert während des Marsches Texte für Sprechchöre. Gegen 10.30 Uhr erreichen die Streikenden die Binnengärten. Paul Othma besteigt einen Traktor und spricht zu ihnen. Dann steigt Fiebelkorn auf den Traktor und spricht zur Bevölkerung über das dringliche Freiheitsbegehren, über Demokratievorstellungen und den Willen zur deutschen Einheit. Er formuliert 18 Forderungen und läßt über jede abstimmen. Der weitere Verlauf der Ereignisse ist bekannt.

Gegen 16.00 Uhr erreicht die Streikenden die Meldung, in Berlin herrsche Ausnahmezustand, es werde geschossen. Der Streikführer Horst Sowada will nach Berlin zum RIAS und fährt mit seinem Motorrad los. Fiebelkorn schlägt vor, die Arbeiter in den Betrieben über die neue Lage zu unterrichten und rät, den Streik abzubrechen. Unter dem Einfluß des Streikführers Göricke entscheidet sich die Mehrheit der Streikführer, den Streik fortzusetzen.

Gegen 17.00 Uhr erreichen vier Panzer und vier vollbesetzte Mannschafts-Lastwagen der Roten Armee die Stadt Bitterfeld. Die Soldaten besetzen den Bahnhof, die Post und das Gefängnis und bringen Maschinengewehre in Stellung. Die Streikführer verlassen das Rathaus und fahren in die Betriebe. Gegen 17.30 Uhr verläßt auch Fiebelkorn mit den letzten Streikführern das Rathaus. Im Treppenhaus treffen sie auf sowjetische Soldaten, die das Gebäude besetzen. Ein Major brüllt Fiebelkorn an, bezeichnet ihn als deutsches Schwein, tritt ihn in den Hintern und wirft ihn raus. Dann brüllt er: "Wo ist Fiebelkorn?" Da ihn niemand verrät, kann Fiebelkorn gegen 19.00 Uhr die Filmfabrik Wolfen erreichen. Er trifft auf Streikführer und vertritt die Meinung, die sowjetischen Panzer hätten die Erhebung niedergewalzt. Die Streikführer müßten versuchen, so schnell wie möglich Westberlin zu erreichen, wenn sie ihre Freiheit behalten wollten. Doch die Streikführer, allen voran Paul Othma, vertreten die Meinung: "Wir haben keine Verbrechen begangen, wir streiken weiter."

Fiebelkorn kehrt nach Bitterfeld zurück und findet seinen Hauseingang bewacht. Durch Zufall trifft er auf Horst Sowada, der seine Berlinfahrt unterbrochen hatte. Beiden gelingt es, mit dem Motorrad die Muldebrücke zu passieren. Fiebelkorn übernachtet bei Bekannten in Mühlbeck, Horst Sowada bei seinem Freund Erwin Ostermann in der Golpaer Straße in Friedersdorf. Am anderen Morgen erscheint die Polizei vor dem Hause Ostermann. Sowada gelingt die Flucht. Doch die Polizisten wollten Erwin Ostermann verhaften, der sich am Streik beteiligt hatte. Da sie ihn nicht kannten, nahmen sie versehentlich seinen Vater mit. Sowada holt Fiebelkorn ab. Beide fliehen mit dem Motorrad über Dessau und erreichen 10 Tage später Westberlin. Fiebelkorn wurde in Bitterfeld mit viel Kraftaufwand gesucht. Er wurde zum Tode verurteilt. Einige Male wurde der Zeitpunkt seiner Erschießung öffentlich bekanntgegeben. Die Flucht rettete ihm das Leben.

Auch im Reichsbahnkraftwerk Muldenstein und in den Friedersdorfer Ziegelwerken hatten die Belegschaften den Streik beschlossen. Von der Belegschaft des Kraftwerkes beteiligten sich die Arbeiter Gerhard Hörold und Willy Ohmes nicht am Streik. Sie erklärten, sie seien für die DDR. Niemand hat ihnen deshalb etwas getan. Die Streikenden formierten sich zu einem Demonstrationszug und gingen zum Friedersdorfer Gemeindeamt. Hier riefen sie in Sprechchören ihre Forderungen. In das Amt gelangten die Streikenden nicht. Der Bürgermeister Otto Stöbe und der Standesbeamte Adolf Stiemer waren herausgetreten und hatten sich die Forderungen der Streikenden angehört. Nach etwa einer Stunde gingen die Streikenden zurück in die Betriebe. Auch hier brach der Streik zusammen, nachdem der Ausnahmezustand ausgerufen worden war.

Als Streikführer waren tätig: Erwin Süßmilch, Rudi Zielonka, und Erwin Herbst. Erwin Süßmilch, Streikführer im Kraftwerk Muldenstein, verließ etwa eine Woche nach dem Aufstand den Ort Richtung Westberlin. Rudi Zielonka versteckte sich einige Tage im letzten Haus der Karl-Liebknecht-Straße, ehe er nach Westberlin gelangen konnte. Erwin Herbst, ein Streikführer in den Muldensteiner Rohrwerken, verließ ebenfalls eine Woche nach dem Streik den Ort und lebt heute in Westfalen.


[Quelle: Bericht von Lothar Herbst, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2002]