Heinz Hildebrandt
Es war einmal ...


"ES WAR EINMAL..." - so beginnen die meisten deutschen Märchen. Das, was ich jetzt berichte, war kein Märchen, sondern Realität.

Das Kalenderblatt, welches ich soeben abgerissen hatte, zeigte den 17. Juni 1953 an. Ein Mittwoch. Die Sonne schien in das Küchenfenster meiner Oberförsterei, wo ich mit meiner Frau um 8.00 Uhr frühstückte. Dabei hörten wir vom Sender Rias unter anderem die Nachricht: " Der von den Bauarbeitern in der Stalinallee begonnene Streik und die Demonstrationen breiten sich auch in Mitteldeutschland aus ... ." - Streiks, Demonstrationen, hier bei uns??? Das war für mich als Oberförster die Frage. "Damit hast Du doch nicht zu tun. Du bist ein Grünrock und kein Bauarbeiter", waren meine Gedanken.

Es kam anders, denn ich sollte an diesem Tag um 10.00 Uhr im Amtsgericht Bitterfeld als Sachverständiger erscheinen. Weil mit einer kurzen Verhandlung zu rechnen war und sich ein herrlicher Sommertag anbahnte, schlug ich meiner Frau vor, dass sie auf meinem Dienstmotorrad mitkommen solle und wir nach der Gerichtsverhandlung zur Besichtigung der Mosigkauer fahren könnten. Mit dieser Vorstellung starteten wir nach Bitterfeld. Ich kam mit dem Motorrad nicht in die Stadt hinein, weil dort eine Demonstration ihren Anfang nahm. Also stellte ich das Motorrad ab und begab mich mit meiner Frau zu Fuß in das Stadtzentrum. Wir erlebten, wie die Chemiearbeiter des EKB (Elektrochemisches Kombinat), der Farbenfabrik in Greppin und der Filmfabrik ORWO in Wolfen sowie viele, viele Bürger in die Stadt zu einer Kundgebung auf den Binnengarten Wiesen strömten. Wir schlossen uns an und nahmen an der Kundgebung teil. Wir standen dort mit einigen Tausend Bitterfeldern und hörten die vorgetragenen Forderungen an die DDR-Regierung und die Ansprache von Herrn Fiebelkorn. Als schließlich die Nationalhymne, das Deutschlandlied, gesungen wurde, flossen bei den meisten die Tränen.

Nach dieser Demonstration marschierten wir zum Marktplatz, wo im Rathaus das Streikkomitee tagte. Vom Balkon des Rathauses wurden nochmals die Forderungen bekannt gegeben, die man per Telegramm den ostzonalen Regierungsmachthabern zugestellt hatte. Die Forderungen enthielten unter anderem: Rücktritt der Regierung, freie, geheime Wahlen für eine neue Regierung, die Herstellung der deutschen Einheit, Senkung der Arbeitsnormen, Senkung der HO-Preise.

Inzwischen war es Mittag geworden und die Kundgebung auf dem Marktplatz löste sich nach und nach auf. Nur etwa 300 bis 500 Demonstranten gingen zum Amtsgericht in die Lindenstraße. Meine Frau und ich befanden sich unter ihnen. Durch die Ereignisse war mein dortiger Gerichtstermin selbstverständlich ausgefallen. Diese Demonstrationsgruppe wollte das Gerichtsgefängnis, welches auf dem Hof des Amtsgerichtes lag, besetzen und die dort eingesperrten politischen Häftlinge befreien. Es hatte sich nämlich heraus gestellt, dass nicht nur in dem etwa zweihundert Meter entfernten Stasigefängnis politische Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen eingepfercht waren, sondern auch in dem von uns aufgesuchten Gefängnistrakt. Da die Gefängnisleitung das Eingangstor nicht öffnen und uns den Zutritt verwehren wollte, versuchten einige der aufgebrachten Demonstranten über die Mauer und über das eiserne Tor zu klettern.

Es blieb bei dem Versuch, denn plötzlich hörte man aus der Richtung des Bahnhofes ein lautes Motorengeräusch. Offene Lastwagen mit Sowjetsoldaten, die ihre Kalaschnikows auf uns gerichtet hatten, fuhren im Schritttempo auf uns zu. Auf dem Trittbrett des ersten LKW's, auf dessen Führerhausdach ein MG montiert war, stand ein junger Oberleutnant und schrie uns auf Deutsch an: "Bürger! Räumen Sie sofort den Platz vor dem Gericht! Verlassen Sie sofort den Platz! In fünf Minuten lasse ich scharf schießen!"

Seine drohenden Worte bewirkten, dass alle Versammelten die Lindenstraße fluchtartig verließen. Meine Frau und ich hatten hinter einer dicken Linde Deckung gesucht, das Ganze beobachtet und mit als die letzten Bürger die Straße verlassen. Ein Traum von deutscher Einheit und von Freiheit wurde hier, jetzt und überall in der Ostzone durch die Sowjetarmee begraben. An einen militanten Widerstand war unsererseits nicht zu denken, denn das hätte unabsehbare Folgen für uns gehabt. Mit einer unbeschreiblichen Wut im Bauch fuhr ich mit meiner Frau zurück nach Burgkemnitz in meine Oberförsterei.

Ich möchte an dieser Stelle ein Gerücht, welches im Umlauf war und noch ist, gleich klar stellen: Ich gehörte in Bitterfeld nicht der Streikleitung an und war dort auch kein sogenannter Rädelsführer. Diese Behauptung trifft nicht zu und ich will damit nicht in die Rolle eines Volkshelden schlüpfen. Richtig war, dass ich seit Gründung des Ministerium für Staatssicherheit im Februar 1950 ein aktiver Gegner des DDR-Regimes geworden bin. Von den dreizehn mir unterstellten Mitarbeitern (Revierförster, Förster, Lehrausbilder, Platzmeister) konnte ich über die Hälfte auf meine Seite ziehen.

Nach der Rückkehr in meine Oberförsterei - kurz vor 16.00 Uhr - begab ich mich sofort in das Dienstzimmer und wurde dort von meinem Büroangestellten Werner Liebe begrüßt: "Gut, das Sie da sind, denn vom Forstamt hat eine Frau angerufen und verlangt, dass Sie Ihre Revierförstereien zum Streiken auffordern sollen. Die Oberförstereien Tornau und Pratau sind ebenfalls aufgefordert und streiken. Weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte, habe ich nichts unternommen. Deshalb wird in der Oberförsterei Burgkemnitz gearbeitet." Meine Antwort: "Dann sind wir als Streikbrecher eine unrühmliche Ausnahme. Jetzt hat es keinen Sinn mehr etwas zu unternehmen, denn es geht auf den Feierabend zu und außerdem ist alles durch die Sowjetmacht gescheitert. Aber wissen Sie was? Das Sch.....bild mit dem Ulbricht, das hänge ich jetzt ab und es kommt, solange ich hier Oberförster bin, nicht wieder an die Wand." Kaum ausgesprochen, lag das Konterfei von dem "Spitzbart" samt seinem zertöpperten Bilderrahmen in der Kohlenkiste. Schade um den schönen Bilderrahmen.

Mehr hatte ich direkt mit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 nicht zu tun. Das dicke Ende kam erst nach reichlich einem Jahr. Und das entwickelte sich für mich so: Durch das Eingreifen der Sowjets und den von ihnen angeordneten Ausnahmezustand war der Volksaufstand schnell beseitigt. In den Betrieben wurden Versammlungen durchgeführt, in denen die Ereignisse im Sinne der kommunistischen Machthaber ausgewertet wurden. Zu einer solchen Versammlung kam es auch Ende Juni 1953 in dem staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Dübener Heide in Tornau. Diese Versammlung wurde auf Veranlassung des hauptamtlichen SED-Parteisekretärs Andersen durchgeführt. Es handelte sich bei ihm um einen Forstmeister aus Söllichau. Man hatte ihm die Parteifunktion übertragen, weil er forstfachlich eine Niete war.

In der Belegschaftsversammlung wurde von ihm der Volksaufstand gebrandmarkt und ein inzwischen verhafteter Waldarbeiter zu einem faschistischen Volksschädling und Haupträdelsführer erklärt, der eine harte Strafe verdient hätte. Er stellte den Antrag, den betreffenden Waldarbeiter Hermann Richert nachträglich fristlos zu entlassen. Der hauptamtliche BGL-Vorsitzende Oswald Hader, welcher rechts neben mir saß, schwieg, als uns der Parteivorsitzende zur Diskussion aufgefordert hatte. Anders hatte ich das von ihm auch nicht erwartet, denn er war kein kommunistischer Scharfmacher. Weil sich keiner der Versammlungsteilnehmer zu Wort gemeldet hatte, herrschte eine merkwürdige Stille im Saal. Das nutze ich zu einem im Flüsterton gehaltenem Gespräch mit dem BGL-Vorsitzenden aus: "Oswald, Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich jetzt rede. Ich werde vorschlagen, dass wir sofort eine Geldansammlung für die Frau und die Kinder unseres Arbeitskollegen durchführen." Der von mir Befragte stimmte zu und sprach darüber, weshalb in der Oberförsterei Burgkemnitz zufälligerweise nicht gestreikt wurde. Danach drückte ich mein Unverständnis wegen der Inhaftierung des Waldarbeiters Richert aus. Ich begründete mein Unverständnis mit diesen Worten, die ich noch in Erinnerung habe: "Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kollege Richert kann nie ein Haupträdelsführer gewesen sein. Gegen eine solche Behauptung spricht:
  1. Richert hat zur Zeit andere Sorgen als sich mit derartigen Dingen zu befassen, da seine Frau schwer krank ist und er zusehen muss, wie er damit klar kommt.
  2. Wie wollte oder konnte er den Streik im gesamten Forstwirtschaftsbetrieb überhaupt organisieren? Das geht nur mit einem Telefon. Ein solches besitzt er nicht und an ein Telefon im Forstamt kam er nicht heran. Wenn per Telefon zur Streikbeteiligung aufgerufen worden ist, dann nicht durch ihn. Das Telefongespräch, das mein Büroangestellter während meiner Abwesenheit entgegen genommen hat, kam übrigens von einer Frau.
  3. Richert ist wegen Fehlens eines motorisierten Fahrzeugs zur Durchführung einer solchen Handlung überhaupt nicht in der Lage, denn er besitzt bekanntlich nur ein altes, klapperiges Fahrrad und sonst nichts. Und als Letztes:
  4. Meiner Meinung nach ist unser Arbeitskollege gar nicht intelligent genug, um einen Streik zu organisieren. Er ist ein einfacher, fleißiger, gewissenhafter Waldarbeiter und fürsorglicher Familienvater. Sein Einfluss war nicht so groß, dass er bei einem Aufruf zum Streik Mitmacher gefunden hätte. Der oder die sogenannten Haupträdelsführer waren andere. Ihn hat man als billiges Opferlamm ausgesucht, weil ein Schuldiger gefunden werden musste. Herr Parteisekretär Andersen! Ich bleibe dabei: Richert ist unschuldig. Liebe Kollegen, ich rufe Euch jetzt zu einer Geldspende für Richert´s Familie auf. Ich gehe jetzt im Raum herum. Bitte werft Euer Scherflein in meinen Försterhut!"
Danach ging ich zum Einsammeln der Spenden mit meinem Hut durch die Stuhlreihen. Ich habe die Geldsumme nicht gezählt, die in meinem Hut gelandet ist. Ohne zu zählen überreichte ich vor den Augen der Versammlungsteilnehmer den Betrag dem Lohnbuchhalter Ludwig Dutz. Er händigte sofort nach der Versammlung der Frau des Inhaftierten das Geld aus. Ich habe ihn mir ausgesucht, weil er als Heimatvertriebener mit der Familie Richert befreundet war und ich mich als Überbringer nicht wichtig machen wollte.

Nach der Betriebsversammlung erarbeitete ich mit dem BGL-Vorsitzenden ein Schreiben an die Stasi wegen der Freilassung Richert's und den Text für eine Unterschriftensammlung des in meinen Augen unschuldig Verhafteten. Richert wurde tatsächlich danach aus der Haft entlassen und hat sich schnell in die BRD abgesetzt. Er ließ seine älteste Tochter zurück, die den Vorgang in einem Dokumentarfilm des WDR aus der Sendereihe "Menschen hautnah - Ein unbequemer Demokrat" bestätigt hat. Von der Existenz dieser Tochter in Schköna (Dübener Heide) habe ich erst nach der Wende erfahren.

Ist mit der Geldsammlung für mich das Kapitel 17. Juni 1953 zu Ende? Nein! Jetzt fängt es erst richtig an. An und für sich hatte ich befürchtet, dass man mich auch verhaften würde, denn bei der Demonstration in Bitterfeld war ich der Stasi bestimmt durch meine grüne Forstuniform aufgefallen. Ein anderer Grund war mein Auftreten in der Belegschaftsversammlung. Wegen dieser Befürchtung wollte ich eigentlich die DDR verlassen. Diesen Plan ließ ich fallen, weil meine Frau an ihrem schmucken Elternhaus in Wernigerode hing, welches sie erben sollte. Dann hatte sie auch noch Bedenken wegen der Unterbringung in einem Flüchtlingslager. Ich selbst ließ von der Flucht ab. Ich hatte mir gesagt: eine Flucht in den Westen ist keine Lösung des Problems. "Bleib in Deiner Heimat und bekämpfe vor Ort den Kommunismus. Wenn Sie Dich bis jetzt nicht verhaftet haben, dann brauchst Du davor keine Angst mehr haben." Ich blieb also in der DDR und leistete gegen das SED-Regimes passiven und aktiven Widerstand. Dabei wurde ich von mehreren Revierförstern unterstützt.

Ab Anfang 1954 hatte ich das Gefühl, dass mich die Stasi intensiv observierte. Oft standen der ABV oder Polizeihelfer in der Nähe der Oberförsterei und beobachteten das Grundstück. Das ging bis zu meinem Urlaub Ende Juli bis Anfang August 1954. Ich verbrachte den Urlaub mit meiner Familie bei meinen Schwiegereltern in Wernigerode und bei meinen Eltern in Langein. Dort wurde ich ohne Haftbefehl von der Stasi am 11. August 1954 um 19.30 Uhr festgenommen und nach Halle in den sogenannten Glaspalast transportiert. Dort wurde ich unter Misshandlungen (Schläge, Tritte vor die Schienenbeine, Blendung der Augen durch Jupiterlampen) vernommen. Auch das Wachpersonal (Schließer) prügelte, wie es ihnen in den Sinn kam. Die Misshandlungen wurden durch Schlafentzug, durch Einpferchen in eine Dunkelzelle beziehungsweise in eine Stehzelle und durch Verabreichen von versalzendem Mittagessen bei gleichzeitigem Entzug von Getränken vervollständigt. Mit den Misshandlungen wollte man von mir ein Geständnis erpressen, dass ich im Auftrag der KgU (Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit) gehandelt hätte, dass der Chef jener Gruppe Rainer Hildebrandt mit mir verwandt sei und dass der ehemalige Nazigauleiter von Mecklenburg, Hildebrandt, mein Onkel sei und dass ich für die Organisation Gehlen arbeiten würde. Die angedichtete Verwandtschaft traf nicht zu, für Gehlen gab es keinen Beweis. Nach etwa einer Woche wurde ich nachts in die Untersuchungshaftanstalt des MfS, in den Roten Ochsen, geschafft. Hier wurde mir erst der Haftbefehl gezeigt. Nicht ausgehändigt. Es stand darauf, dass ich als Agent für den imperialistischen Geheimdienst zu verhaften sei. Die Verhöre im Roten Ochsen wurden nicht mit der Brutalität wie im Glaspalast durchgeführt. Von meinem ständigen Vernehmer wurde ich nie geschlagen, sondern nur in Einzelteilen von den Schließern. Allerdings kam es zu einer sehr schweren Misshandlung durch den Anstaltsleiter Werner Luther und durch zwei sowjetische Offiziere. Sie schlugen mich bis zur Besinnungslosigkeit zusammen, weil ich einen in meine Zelle eingeschleusten Spitzel entlarvt hatte.

Da man mir eine Agententätigkeit nicht beweisen konnte, wurden in meiner Anklageschrift die Geldsammlung für den Waldarbeiter Richert und meine Flugblattaktionen vorgeworfen. Die Geldsammlung wurde als ein Sympathiebeweis für den Volksaufstand am 17. 06. 1953 und die Flugblattaktionen als Boykotthetze gegen die DDR bewertet. Aufgrund dieser Anklagepunkte wurde ich von dem I. Strafsenat des Bezirkes Halle nach § 38 der Kontrollratsdirekte zu einer Haftstrafe von 25 Monaten und zu den obligatorischen Sühnemaßnahmen verurteilt. Mit mir zusammen stand der mir unterstellte Revierförster Wilhelm Hoffman aus Rösa vor Gericht. Er erhielt als mein Komplize eine Haftstrafe von 12 Monaten. Durch die Kontrollratsdirektive wurde ich zu einem unverbesserlichen Neonazi und zu einem Neomilitaristen abgestempelt. Beides war ich gewiss nicht.

Die obligatorischen Sühnemaßnahmen trafen mich sehr hart. Es gehörten nämlich unter anderem dazu:
- Berufsverbot in der Fortwirtschaft,
- Verbot der Fahrerlaubnis für alle Klassen,
- Verdienstbeschränkung.

Diese Sühnemaßnahmen wirkten übrigens bis zur Wiedervereinigung Deutschlands.

Aus meiner Strafverbüßung möchte ich unbedingt berichten, dass ich Zeuge war, wie der Kamerad Wilhelm Grattenauer aus Wengeldorf (bei Halle) an einem Magendurchbruch wegen bewusst unterlassener beziehungsweise zu spät eingeleiteter medizinischer Hilfe qualvoll gestorben ist.

Nach meiner vorzeitigen Haftentlassung wegen einer allgemeinen Amnestie im September 1955 wurde ich zu einem noch größeren Gegner des Kommunismus. Ich begann mit der Stasi ein regelrechtes Katz- und Mausspiel. Das führte unter anderem dazu, dass ich 1958 vom MfS liquidiert werden sollte. Dieses und die Namen der auf mich angesetzten Spitzel sowie noch vieles mehr erfuhr ich durch meine Akteneinsicht. Wegen meines Leidensweges in der DDR gehörte ich natürlich zu denen, welche die DDR-Regierung beseitigen wollten und schließlich beseitigt haben. Ich hatte das große Glück, indem ich 1990 Landtagsabgeordneter geworden bin und als Alterspräsident des Landtages von Sachsen-Anhalt den ersten frei gewählten Landtag seit der Weimarer Republik eröffnen durfte. Das war zweifelsfrei der glücklichste Moment in meinem politischen Leben. Die nächsten Sternstunden waren meine juristische sowie berufliche Rehabilitierung und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse.

Der ranghöchste Spionageoffizier im MfS, der Chef der Auslandsspionage und die rechte Hand von Erich Mielke, Markus Wolf, stellt sich in seinem Buch "In eigenem Auftrag" die Frage: Haben wir umsonst gelebt? Ich antworte: Ja, er hat umsonst gelebt! Er gehört zu den Menschen (ich hätte statt Mensch einen anderen Begriff verwenden sollen!), welche der ostdeutschen Bevölkerung die Unfreiheit mit all ihren schlimmen Folgen beschert hat. Wir, die wir für die deutsche Einheit im Herbst 1989 mit der Losung "Wir sind das Volk" auf die Straße gegangen sind, haben nicht umsonst gelebt. Wir haben friedlich die Freiheit und die Einheit erstritten. Darauf können alle stolz sein, die das eingeleitet haben. Und ich gehöre zu diesem Personenkreis. Die erzwungene Freiheit ist für mich eine Entschädigung für alle im SED-Staat erlittenen Erniedrigungen, für die Stasihaft, für die Misshandlungen und für die in der Haft eingebüßte Gesundheit.

Der 17. Juni 1953 war ein Meilenstein für unsere Freiheit und für die Wiedervereinigung.

[Quelle: Bericht von Heinz Hildebrandt, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]