Erich Luckey
Die Ereignisse des Jahres 1953 mit dem politischen und gesellschaftlichen Höhepunkt des 17. Juni - aus den Erinnerungen eines damaligen Studenten [Halle]

Nicht nur in den so genannten volkseigenen und staatlichen Betrieben der DDR, sondern auch an den Universitäten und Ingenieurschulen wurde die Ideologie des Marxismus-Leninismus verstärkt in das Lehr- und Ausbildungsprogramm hineingetragen. Ich selbst war damals Student im 3. Semester an der Fakultät für Maschinenbau an der Technischen Hochschule in Dresden. Meine gesellschaftliche Herkunft entsprach nicht der Mehrzahl meiner Kommilitonen, die als Arbeiter- und Bauernsöhne vor dem Studium die ABF (Arbeiter- und Bauernfakultät) besucht und somit den Zugang zum Studium erlangt hatten. Eine Lehre im Mitteldeutschen Braunkohlenrevier, eine Auszeichnung als Jungaktivist für besondere berufliche Leistungen im Tagebau und die zwangsweise Zugehörigkeit zur FDJ ermöglichten mir als Sohn von Eltern, die beide vom System zur unerwünschten Klasse der Intelligenz gezählt wurden, überhaupt den Zugang zu einem Studium.

Meine strikte Ablehnung, nach Aufnahme des Studiums in eines der neu erbauten Studentenheime in der Reichsstraße zu ziehen, brachte mir den ersten Tadel einiger linientreuer Kommilitonen ein und im Verlauf der ersten zwei Semester eine mir gegenüber kritische Haltung. Es war jedoch erträglich und ich fand genügend Studienfreunde, mit denen ich gemeinsam arbeiten konnte an der Universität und die Freizeit in der nahen Umgebung ausschließlich an Wochenenden verbringen konnte. Auch habe ich peinlich darauf geachtet, die von jedem Studenten verlangten monatlichen „freiwilligen" Arbeitsstunden am Wiederaufbau der Stadt zu erfüllen.

Die Situation an der Universität spitzte sich jedoch erheblich mit Beginn des Jahres 1953 zu. Die schriftlichen und mündlichen Prüfungen, vor allem im Fach Gesellschaftswissenschaften, wurden für jeden meiner Mitstudenten und für mich zu einem Prüfstein der Linientreue und Zugehörigkeit zur Arbeiter- und Bauernklasse. Das Urteil über mich muss nicht gut ausgefallen sein, denn ich wurde vor ein Gremium der FDJ-Hochschulleitung, die ihren Sitz in einem Gebäude neben der Mensa hatte, geladen. In einem regelrechten Verhör wurde ich von allen Seiten mit verfänglichen Fragen konfrontiert mit dem Ziel, meine innere Einstellung zu ergründen. Abschließend zeigte man sich entgegenkommend und gab mir die Chance, mich am Ende der Semesterferien im Juli/August einer Nachprüfung im Fach Gesellschaftswissenschaften zu stellen. Gleichzeitig wurde mir jedoch unmissverständlich eröffnet, dass eine Exmatrikulation bei Nichterfüllung der Leistungen nicht ausgeschlossen sei.

Mit dieser psychischen Belastung und unsicheren Zukunft, - meine durch den Tod meines Vaters alleinstehende Mutter war zwischenzeitlich 1952 offiziell mit meinen zwei jüngeren Brüdern in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt -, trat ich mein Pflichtpraktikum im Mai 1953 an. Mein Wunsch, nach Halle in das ZIS (Zentralinstitut für Schweißtechnik) delegiert zu werden, ging in Erfüllung. Hier konnte ich, so war dies meine Vorstellung, meine erlernten Kenntnisse und Praktiken als Betriebsschlosser in einer hoffentlich angenehmen und weniger politisch geprägten Atmosphäre vervollständigen. Meine Bitte, auch hier eine private Unterkunft in Halle-Trotha zugewiesen zu bekommen, wurde verständnisvoll aufgenommen und in einem angenehmen und geordneten Umfeld verlief das Praktikum - bis der Tag des 17. Juni 1953 anbrach.

Als ich am Morgen zum Arbeitsbeginn ins ZIS kam, war alles anders als noch am Vortag. Wir saßen in einem Pausenraum, lauschten den Nachrichten aus dem Lautsprecher, wo immer die Meldungen auch herkamen, und jeder einzelne ordnete seine politische Zugehörigkeit. So weit ich mich erinnern kann, war es die Mehrzahl der Mitarbeiter und Praktikanten am Institut, die sich spontan entschloss, in das Stadtzentrum von Halle zu marschieren. Es war ein weiter, aber auch bewegender Fußmarsch, denn von allen Seiten schlossen sich in Scharen Werktätige und Bewohner der Betriebe und Stadtteile von Halle an. Gegen 12.00 Uhr erreichten wir den Marktplatz und in der Masse der Demonstrierenden hatte sich sehr schnell meine Gruppe zerstreut. Jedoch war man in diesem Trubel von Menschen und den später auch tönenden Lautsprechern nicht alleine.

Ich schloss mich sehr schnell einer Gruppe von Jugendlichen an, die den Marktplatz verließen mit dem Ziel, das Tor des Frauengefängnisses in der Kleinen Steinstraße aufzubrechen. Auf dem Weg dorthin nahmen wir auf einem Trümmergrundstück einen hölzernen Telegrafenmasten auf. Ich merkte sehr bald, dass ich im Kreise von Studenten der Universität Halle war, mit denen ich nun zu diesem gewaltigen Eingangstor der Haftanstalt zog. Dort wurden wir mit Jubel empfangen, denn ohne diesen gewaltigen Telegrafenmasten war das Eingangstor nicht zu brechen. Nicht gleich, doch nach immer wieder neuen Anläufen, zeigte sich, dass auch dieses Gefängnistor unseren Anstrengungen nicht standhalten konnte. Eine gewaltige Menschenmenge strömte in den Innenhof und begann, in die Gebäude einzudringen, um die laut rufenden Gefangenen zu befreien.

Mit der Gruppe von Studenten, denen ich mich angeschlossen hatte, zog ich weiter durch die Straßen. Es war eine nicht zu beschreibende Aufbruchstimmung, doch bekenne ich, auch eine gewisse Angst und Sorge, wie wird die allgegenwärtige Staatsmacht reagieren. Von allen Seiten hörte man auch vereinzelte Schüsse, die nichts Gutes ahnen ließen.

Am Marktplatz wieder angekommen, war die Zahl der Demonstranten sichtlich geringer und plötzlich waren wir im Schussfeld von Polizisten oder linientreuen Funktionären, die aus nicht auszumachenden Gebäuden schossen. Wir warfen uns auf den Boden und robbten aus dem Zentrum des Marktes an den Rand in schützende Gebäude. Ziemlich erschöpft von dem Geschehen des Tages zogen wir dann gemeinsam zur Universität, um uns den Aktionen der Studentenmehrheit anzuschließen, zu denen es dann allerdings durch die verhängte Ausgangssperre nicht mehr kam.

Ich weiß mich noch zu erinnern, dass ich am Abend Mühe hatte, mein Quartier in Halle-Trotha unbehelligt von der inzwischen verhängten Ausgangssperre zu erreichen.

Der Ausbildungs- und Lehrbetrieb war in den folgenden Tagen im ZIS sehr eingeschränkt, so dass ich nach ordnungsgemäßer Abmeldung mich wieder an die Technische Hochschule in Dresden begab.

Der Anfang des neuen Semesters verlief unerwartet gelöst und gelockert. Ich brauchte keine Nachprüfung im Fach Gesellschaftswissenschaften zu machen und auch von einer drohenden Exmatrikulation war keine Rede mehr. Man ließ die Zügel seitens der Hochschulleitung sichtlich lockerer gemäß dem bekannten marxistisch-leninistischen Leitsatz: zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück.

[Quelle: Bericht von Erich Luckey, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]