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[Anonymus]
Tag des Aufstandes - Tag der Einheit
Ein Bericht für viele: 17. Juni 1953 in Brandenburg an der Havel/Von * * *
Das Aufbegehren gegen die kommunistischen Machthaber in der Sowjetzone, das die Bevölkerung der Sowjetzone und Berlins am 17. Juni 1953 auf die Straßen trieb, hat nichts von seinem geschichtlichen Sinn verloren. Für die Sowjetzone war dieser Tag eine Bestätigung ihrer inneren Freiheit, für den Westen bleibt er der Appell, jegliche Möglichkeit für die Wiedervereinigung zu nützen. Der folgende Bericht aus der Feder eines Augenzeugen soll uns die Geschehnisse des 17. Juni, so wie sie sich in einer Stadt in der Sowjetzone abspielten, in Erinnerung rufen.
Einer der Schwerpunkte des Volksaufstandes am 17. Juni war die alte "Chur- und Hauptstadt" Brandenburg. Nur 60 Kilometer von Berlin entfernt, lag sie früher fast im Vorfeld der deutschen Hauptstadt; heute liegt sie isoliert mitten in der Sowjetzone. Was sich am 17. Juni 1953 in der über 1.000 Jahre alten Havelstadt ereignete, das spielte sich an jenem denkwürdigen Tage ähnlich in anderen Orten Mitteldeutschlands ab. Doch haben wir mit Ausnahme der Geschehnisse in Ost-Berlin und in Görlitz bisher von keiner Stadt in der Sowjetzone gerade so viele Einzelheiten über die Vorgänge des Volksaufstandes wie über Brandenburg. Dieser Bericht mag deshalb als Beispiel für das Aufbegehren der nun seit elf Jahren unterdrückten Brüder und Schwestern in der Sowjetzone dienen. Ohne Zweifel haben die denkwürdigen Vorgänge des 16. Juni in der Ost-Berliner Stalinallee auch in Brandenburg das Signal zum Aufstand gegeben, doch darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß die Volkserhebung in der alten Havelstadt bereits am 12. Juni begonnen hatte, einen Tag nach der Verkündung des sogenannten neuen Kurses.
Am 12. Juni zogen die Arbeiter der großen Speditionsfirma von August Taege, der einzigen, die noch nicht in "Volkseigentum" übergeführt worden ist, vor das Amtsgericht in der Steinstraße und forderten unter Hinweis auf den neuen Kurs die sofortige Freilassung ihres dort wegen "Wirtschaftsverbrechens" inhaftierten Chefs. Über 100 Menschen sammelten sich in kurzer Zeit vor dem Amtsgericht an und stürmten, als ihre Forderungen zunächst nicht erfüllt wurden, das kommunistische Jugendklubhaus "Philipp Müller". Als FDJ-Angehörige die Demonstranten "aufklären" wollten, bezogen sie Prügel; der FDJ-Kreisvorsitzende mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Am Abend gaben die Kommunisten nach und entließen den Fuhrunternehmer.
Der Erfolg des 12. Juni war in der Bevölkerung noch lebendig, als vier Tage später über den RIAS die Meldungen von den Ereignissen in Berlin bekannt wurden, die sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiteten. Überall bildeten sich noch am Abend des 16. Juni Diskussionsgruppen; es war sicher, daß am nächsten Tag auch die Brandenburger dem Aufruf der Ost-Berliner Bauarbeiter zum Generalstreik folgen würden. Die führende Rolle spielten dabei die Arbeiter des Stahlbaus Brandenburg und die der Bauunion im Stahlwerk. Hier war zunächst die Erbitterung gegen die steigenden Normen bei geringerer Bezahlung der erste Anlaß zur Erhebung.
Stahlarbeiter und Arbeiter der Bauunion versammelten sich am17. Juni um 7.00 Uhr auf dem Rundplatz des Stahlwerkes und erklärten sich mit den Streikenden solidarisch. Alles geschah in mustergültiger Ordnung und Disziplin. Auf Veranlassung der Streikleitung wurde eine Jugendbrigade im Walzwerk zurückgelassen, die die angeblasenen Siemens-Martin-Öfen unter Feuer halten sollte. Um 8.00 Uhr marschierten dann über 3.000 Arbeiter des Stahl- und Walzwerkes zur Innenstadt. Kommunistische Losungen wurden heruntergerissen, und auf ein umgedrehtes kommunistisches Transparent wurde der Spruch geschrieben: "Acht Jahre erduldeten wir Eure Qualen, jetzt fordern wir freie Wahlen." Der Zug ging zunächst die Magdeburger Straße entlang, die vom Altstadt-Bahnhof an auf beiden Seiten mit Kasernen eingerahmt ist, in denen seit 1945 sowjetische Einheiten stationiert sind. Doch alles ging gut, es fiel kein Schuß. Durch Telefon und Boten hatten die Arbeiter des Stahl- und Walzwerkes inzwischen mit den anderen Brandenburger Betrieben und den Werken der näheren Umgebung, wie den optischen Werken in Rathenow, dem Kunstseidenwerk "Friedrich Engels" in Premnitz und dem Reichsbahnausbesserungswerk in Kirchmöser Verbindung aufgenommen und ebenfalls zum Streik aufgerufen.
Auf dem Bahnhof hatten dies schon die Eisenbahner besorgt, die sich sofort den Demonstranten anschlossen. Der aus Magdeburg kommende Personenzug, der 10.23 Uhr nach Potsdam weiterfahren sollte, blieb stehen, und die Reisenden und das Zugpersonal schlossen sich der Volkserhebung an. Auch die Straßenbahnen der Stadt hatten inzwischen ihren Betrieb eingestellt, das Personal marschierte im Demonstrationszug. Über die Große Gartenstraße, den Trauerberg und die Jakobstraße ging es weiter über die Wilhelmsdorfer zur Göttinger Landstraße. Hier erklärten sich die Bauarbeiter der Bauunion Süd und die Angestellten der Konsum-Zentrale mit den Streikenden solidarisch. In allen Betrieben war die Arbeit niedergelegt worden, und fast alle Geschäfte hatten geschlossen. Das erste Ziel war damit erreicht, die gesamte Bevölkerung hatte sich gegen die SED erhoben. Nun strömte alles in die Steinstraße, um die Häftlinge zu befreien und die SED-Gebäude zu räumen. An der Franz-Ziegler-Straße löste sich eine Gruppe heraus, um zur Ziegler-Schule zu marschieren, in der inzwischen die Kinder alle Stalinbüsten und kommunistischen Schulbücher auf die Straße geworfen hatten. Dieser Teilzug marschierte dann weiter über die Wredowbrücke zur Feinjutespinnerei und stürmte die Ortskrankenkasse; die hier untergebrachten kommunistischen Dienststellen wurden ausgeräumt.
Der Hauptzug der Demonstranten vereinigte sich auf der Steintorbrücke mit denjenigen Arbeitern, die in der Kirchhofstraße den zweiten Werkeingang zum Schlepperwerk eingerammt hatten. Zunächst wurde von den Demonstranten die in der Kirchhofstraße gelegene Kreisleitung der SED gestürmt und das gesamte Mobiliar und alle Akten in die Unterhavel am Jungfernsteg geworfen. Die SED-Funktionäre waren alle geflüchtet und hatten entweder im Stadthaus oder im "Volkspolizeikreisamt" Unterschlupf gesucht. Die sechs Kriminalpolizisten, die noch in der Kreisleitung waren, wurden entwaffnet; ihre Pistolen wurden ebenfalls in die Havel geworfen. Mit einer nie gekannten Begeisterung ging es dann weiter zur Steinstraße vor das Amtsgericht, wo vor fünf Tagen die erste größere Demonstration seit 1945 stattgefunden hatte. Als die Demonstranten das Tor verschlossen fanden, stiegen sie durch ein Fenster und öffneten es selbst. In den Räumen des Amtsgerichts fanden sie auch den durch seine grausamen und harten Urteile berüchtigten Staatsanwalt Bechtel. Er mußte die Akten der Häftlinge herausgeben und die Zellen aufschließen. 16 wegen Wirtschaftsverbrechens inhaftierte Personen wurden befreit; sie erhielten vom Streikkommando ihre Personalausweise und ihre abgenommene Kleidung zurück; nur einer blieb im Gefängnis zurück, ein Gewohnheitsverbrecher, der mehrere Diebstähle auf dem Kerbholz hatte. Jedesmal, wenn einer der Häftlinge aus dem Gefängnistor herauskam, wurde er mit Jubel begrüßt und auf den Schultern der Arbeiter davongetragen. Auf dem umgestürzten Gefängniswagen in der Steinstraße gab die Streikleitung Anweisungen für die Demonstranten. Etwa 10.000 Menschen standen vor dem Amtsgericht. Immer wieder riefen sie: "Acht Jahre erduldeten wir eure Qualen, jetzt fordern wir freie Wahlen!" Immer lauter wurde ihre Forderung: "Wir verlangen von Bechtel Rechenschaft!"
Bechtel wurde auf die Straße gezerrt und erhielt zuerst eine ordentliche Tracht Prügel. Aus einer Zelle holte man auch den "Volksrichter" Brenkendorf [richtig: Benkendorff, d. Hg.], der sich in seiner Angst hatte dort einschließen lassen. Beide wurden zum Neustädtischen Markt geschleppt, der durch den Krieg schwer verwüstet war und von den Kommunisten als Aufmarschplatz benutzt wurde. Hier mußten beide auf der Tribüne Rede und Antwort stehen. Inzwischen hatten einige der Demonstranten die nur wenige Meter entfernt liegende Kreisleitung des FDGB gestürmt: ein historisches Gebäude, wo schon 1849 die Brandenburger Bevölkerung die Freilassung ihres Oberbürgermeisters und Revolutionärs von 1848, Franz Ziegler, gefordert hatte. Dort wurden ebenfalls alle Akten auf die Straße geworfen und angezündet. Vom Neustädtischen Markt zog der Demonstrationszug zur Langen Brücke und in die Altstadt zurück, und zwar zum alten Zuchthaus. Hier befand sich das "Volkspolizeikreisamt", in das die SED-Funktionäre der Havelstadt geflüchtet waren. Ständig telephonierte von hier der SED-Sekretär Fricke nach Hohenstücken und forderte den Einsatz des dort stationierten KVP-Pionierregiments.
Der Kommandeur der KVP aber weigerte sich, seine Leute auf deutsche Arbeiter schießen zu lassen. Darauf erschien ein russischer Oberst in Hohenstücken, der den Kommandeur zu überreden versuchte. Doch vergebens; er erhielt lediglich die Zusicherung, daß seine Einheit in Hohenstücken bleiben und auch nicht für die Arbeiter Partei ergreifen werde. Darauf ließen die Sowjets Artillerie im Bohnenländer Wald auffahren und die Rohre auf Hohenstücken richten. Die Demonstranten versuchten, das "Volkspolizeikreisamt" im alten Zuchthaus zu stürmen. Die SED-Funktionäre setzten zunächst die Hausfeuerwehr in Aktion, doch die Schläuche wurden von den Arbeitern durchgeschnitten. Plötzlich wurde aus dem "Volkspolizeikreisamt" geschossen. Die Arbeiter suchten Schutz hinter dem historischen Plauer Torturm und in Humboldthain. Ihre Wut und Erbitterung kannte nun keine Grenzen mehr. Sie wollten das nur 100 Meter entfernt liegende Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft anzünden, doch die Streikleitung hinderte sie daran und forderte sie nur auf, das Propagandamaterial zu vernichten. Gegen 15.00 Uhr gelang es den Arbeitern, in das erste Stockwerk des alten Zuchthauses einzudringen.
Plötzlich erschienen von der Magdeburger Straße her sowjetische Panzer. Durch Lautsprecher ließ der sowjetische Stadtkommandant von Brandenburg den Ausnahmezustand verkünden und forderte die Bevölkerung auf, sofort die Straßen zu räumen. An allen wichtigen Stellen und Plätzen der Stadt wurde sowjetisches Militär eingesetzt. Der Demonstrationszug mußte zur Steinstraße zurückweichen, und hier dauerte es noch bis in die späten Abendstunden, bis es der "Volkspolizei" und der Roten Armee gelang, die Menge zu zerstreuen. Der Streik wurde durch das brutale Eingreifen der Sowjets niedergeschlagen. Die SED-Funktionäre kamen aus ihren Verstecken hervor und schon in der Nacht jagten die Wagen des SSD durch die Straßen, um die "Streikführer" zu verhaften. Sie mußten aber vom SSD am nächsten Tage wieder entlassen werden, nachdem die Arbeiter sich geweigert hatten, weiter zu arbeiten, bevor ihre eingekerkerten Kollegen wieder freigelassen würden. Auf Anweisung der Sowjets mußte der SSD vorerst nachgeben. Als sich die SED-Funktionäre wieder stark fühlten, setzte eine Verhaftungswelle ein, der nach bisherigen Meldungen allein 67 Arbeiter in Brandenburg zum Opfer fielen. Der VP-Kommandeur von Hohenstücken wurde ebenfalls verhaftet. Während ein Teil der nach dem 17. Juni verhafteten Arbeiter in diesen Tagen aus den Gefängnissen entlassen wurde, fehlt vom KVP-Kommandeur des Pionierregiments Hohenstücken bisher jede Spur.
[Quelle: Der Tagesspiegel, 17. Juni 1956, S. 3.]
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