|
Gabriele Schnell
Der 17. Juni 1953 in Oranienburg - Hohen Neuendorf - Glienicke/Nordbahn
16. Juni 1953
Um die Mittagszeit treten die Bauarbeiter der Bau-Union Zehlendorf im Kreis Oranienburg in den Streik. Sie solidarisieren sich mit den Streikenden in Berlin. Das tun am Nachmittag auch die Beschäftigten der Reichsbahn-Bau-Union Naumburg.
"Seit Oktober 1952 lebte und arbeitete ich mit anderen Frauen und Männern auf der Baustelle Mühlenbeck im Norden Berlins bei der Reichsbahn-Bau-Union Naumburg. Viele Menschen waren in jenen Jahren auf gleichen Baustellen rund um Berlin damit beschäftigt, einen Eisenbahnring zu bauen. Dass dieser Ring eine verkehrstechnische Voraussetzung für den späteren Mauerbau war, ahnte von uns niemand.
Ein bunt gemischtes Völkchen lebte in den Baubaracken oder wohnte in einem der vielen Einfamilienhäuser in Schildow oder Mühlenbeck zur Untermiete. ... Es wurde sehr hart und zum Teil unter schweren Bedingungen gearbeitet - aber auch gut verdient. ... Wir erhielten nicht nur Freifahrscheine für die Bahn zur Wochenendheimfahrt, sondern noch zusätzlich zum Lohn eine Art Trennungsentschädigung. ... Dieses Trennungsgeld war so hoch, dass man ... damit auskam. Der eigentliche Lohn wurde an die Familien geschickt ... oder auf die hohe Kante gelegt ... .
Und genau hier ... hatten Partei- und Staatsführung unter Walter Ulbricht angesetzt: Sie erhöhten nicht nur die Normen ..., sondern sie kürzten auch noch die Auslösung um zum Teil bis zu 50 Prozent ... und trafen damit eine Arbeiter-Elite, die Bauarbeiter, besonders empfindlich." [Zeitzeugen-Bericht von Joachim Rumpf, 1990 (Auszug)]
Die Arbeiter der Reichsbahn-Bau-Union Naumburg beschließen, am nächsten Tag zu streiken und nach Berlin zu marschieren.
17. Juni 1953
Mit Schichtbeginn setzen die Beschäftigten der Bau-Union Zehlendorf ihren Streik fort. Im nördlichen Berliner Umland legen die Belegschaften zahlreicher Betriebe die Arbeit nieder. Volkspolizei versucht in den Betrieben, die Streikenden zur Arbeitsaufnahme zu bewegen.
In einer Volkspolizei-Meldung um 13.30 Uhr heißt es:
"Ca. 1.000 Mann vom Bahnbau Oranienburg haben zwei Volkspolizisten in die Flucht gejagt und sind dabei, Richtung Frohnau [Westberlin, d. Vf.] zu marschieren."
Seit dem späten Vormittag ist der Zugverkehr zwischen Oranienburg und Westberlin unterbrochen.
Die Beschäftigten der Reichsbahn-Bau-Union Naumburg, die sich zu Arbeitsbeginn in der Hauptstraße von Schildow versammelt haben, sind unterwegs nach Berlin.
"Einige Kollegen hatten ein Transparent vom Maifeiertag übermalt und unsere Forderungen nach Rücknahme der Regierungsbeschlüsse draufgeschrieben. Als sich unser Demonstrationszug in Bewegung setzte, gingen die Mitglieder der Bauleitung, die Frauen und Männer aus dem Baubüro und der BGL [Betriebs-Gewerkschafts-Leitung] -Vorsitzende voraus. Der Parteisekretär war nicht erschienen. Der lange Marsch ins Zentrum, durch Niederschönhausen und Pankow und ab U-Bahnhof Vinetastraße die ganze Schönhauser Allee entlang, begann." [Zeitzeugen-Bericht von Joachim Rumpf, 1990 (Auszug)]
An den gesperrten Straßen und Wegen nach Westberlin kommt es zu Menschenansammlungen. Seit 1952 riegeln Stacheldraht, Barrieren und Sperrgräben das Staatsgebiet der DDR an der Grenze zu Westberlin ab. Die Menschen lassen ihrem Zorn über die Teilung des Landes freien Lauf. In Glienicke/Nordbahn reißen Frauen und Männer Absperrzäune aus Stacheldraht nieder.
18. Juni 1953
Auf der Baustelle des Flugplatzes Oranienburg nehmen die Arbeiter der Bau-Union Leipzig die Arbeit wieder auf.
In Hohen Neuendorf streiken die Arbeiter der Bau-Union dagegen weiter. Auch im VEB Pumpenwerk in Oranienburg wird der Streik fortgesetzt. Während einer Versammlung stellt die Belegschaft eine Resolution mit folgenden Forderungen auf:
"Rücktritt der Regierung und freie Wahlen,
die Entwaffnung der KVP [Kasernierte Volkspolizei, d. Vf.],
die Reduzierung der Volkspolizei auf ein erträgliches Maß".
Später besetzt Volkspolizei das Werk und zwingt die Arbeiter zur Arbeitsaufnahme.
[Quellen:
BStU, Ast. Potsdam, Allg. S, 1/53, Bd. III, IV, IX; Zeitzeugen-Bericht von Joachim Rumpf, 1990; BStU, Ast. Potsdam, STA 4400, Bd. 1; Zeitzeugen-Bericht von Joachim Kullmann, damals 17-jähriger Oberschüler, 2003.]
| |