[Anonym]
Streikbericht aus Brandenburg (Premnitz) [1953]


[Erläuterung: Bei dem folgenden Dokument handelt es sich um einen anonymisierten Bericht, der im Archiv des DGB abgelegt wurde.]

Berichter ist bei der Bauunion Brandenburg (8.000 Belegschaftsmitglieder), Baustelle Premnitz Wohnungsbau (150 Belegschaftsmitglieder), beschäftigt. Zur Baustelle Premnitz gehört auch der Industriebau, der im Kunstseidenwerk Premnitz (6.000 Belegschaftsmitglieder) arbeitet. Als der Berichter am 17. Juni 1953, morgens um 6.30 Uhr, zur Arbeitsstelle kam, wurde dort schon nicht mehr gearbeitet. Die Arbeiter waren sich bereits einig geworden, daß sofort ein Streikkomitee gebildet werden muß. Die anderen in der Nähe liegenden Baustellen wurden benachrichtigt und je zwei Mann pro Brigade wählen das Streikkomitee, das 10 Mann umfaßt. Das Streikkomitee stellt die bekannten Forderungen auf, die gegen 9.00 Uhr den versammelten Arbeitern (250 bis 300) verlesen und von ihnen gebilligt werden. Während der Verlesung kommt ein gewisser N. vom Kunstseidenwerk und will beschwichtigend reden. Man läßt ihn aber nicht zu Worte kommen, und er muß unverrichteter Dinge wieder zurückgehen.

Als die Arbeiter erfahren, daß das Kunstseidenwerk die Tore verschlossen hat und niemand herausgelassen wird, beschließen sie, sofort einen Demonstrationszug zum Kunstseidenwerk zu bilden. Sie führen Plakate mit den Forderungen mit sich. Der Berichter holt noch die Arbeiter von den anderen Baustellen und begibt sich ebenfalls zum Kunstseidenwerk. Dessen Arbeiter sowie die Bauunion-Arbeiter waren bereits versammelt. Es sprachen der Streikleiter L. von der Bauuion und O. (oder J.) vom Kunstseidenwerk. Betriebsdirektor W. und Parteisekretär F. versuchten, gegen den Streik zu reden. Man läßt sie aber kaum zu Worte kommen. Es wird ein gemeinsames Streikkomitee bebildet, das den Beschluß faßt, nicht eher zu arbeiten, bis alle Forderungen erfüllt sind. Dem Beschluß wurde seitens aller Arbeiter Folge geleistet. Der Berichter ging dann zur Baustelle und organisierte dort die Streikposten. Auch die nächsten Schichten des Kunstseidenwerkes erklärten sich solidarisch.

Am 18. Juni morgens erfuhr der Berichter auf der Baustelle, daß der Streikleiter L. und der Streikleiter O. in der Nacht verhaftet worden seien. Im Kunstseidenwerk waren morgens die Tore schon durch Russen besetzt Zur Baustelle kommen ebenfalls Russen. Der Berichter sowie sein Kollege W i l l e werden von den Kollegen der Baustelle beauftragt, zum Kunstseidenwerk zu fahren und Aufklärung zu verlangen, wo sich die verhafteten Kollegen befinden. Auf die Bitte des Berichters spricht der Oberbauleiter telefonisch mit dem Parteisekretär F. und stellt die Frage, wo die Verhafteten seien. F. antwortet, daß sich das seiner Kenntnis entziehe. Daraufhin läßt der Berichter durch den Oberbauleiter dem F. sagen, daß, wenn die Leute nicht freigegeben werden, weitergestreikt wird. Die Arbeiter des Kunstseidenwerkes stellen die gleichen Forderungen für ihre verhafteten Kollegen. Es wurde dementsprechend außer den lebenswichtigen Arbeiten (Viskose, Explosionsgefahr) nicht gearbeitet. Danach ging der Berichter zurück zur Baustelle. Dort wird von den Arbeitern die Forderung erhoben, daß der Direktor der Bauunion, Nationalpreisträger T i l l e, zur Baustelle kommt. Zu 14 und 15 Uhr kommt er und spricht zu den Arbeitern. Er versucht zu schlichten und verspricht, mit den Forderungen zur Regierung zu gehen und auch für die Freilassung der Verhafteten einzutreten, sagt aber, daß gegen die Provokateure vorgegangen wird. Daraufhin ruft ihm ein Mann aus dem Büro (SED-Mitglied, Name nicht bekannt) zu, wenn die Verhafteten freigegeben werden, wird gearbeitet, sonst nicht. Daraufhin gingen die Arbeiter nach Haus.

Am 19. Juni ging Berichter erst um 9.00 Uhr zur Arbeitsstelle, da er Urlaub hatte. Es waren inzwischen Zivilisten (SSD?) eingetroffen und wiesen auf die Folgen des weiteren Streiks hin. Die Kollegen nahmen nunmehr die Arbeit langsam wieder auf. Der Berichter erfuhr noch, daß auch sein Kollege W. verhaftet ist. Er selbst verläßt wieder die Arbeitsstelle. Er blieb bis zum 22. Juni 1953 abends zu Haus. Gegen 21.15 Uhr fuhr ein russischer Lkw vor, Truppen umstellen das Haus, ein russischer Offizier, 2 russische Soldaten und 1 Dolmetscher kommen in die Wohnung und nehmen ihn zur Kommandantur mit. Nach einem halbstündigen Aufenthalt im Keller in der Kommandantur wird er zum Verhör geholt (ein russischer Offizier, ein Dolmetscher), wo ihm sofort auf den Kopf zugesagt wird, daß er den RIAS gehört habe. Er leugnet das und sagt ihnen, daß die gesamte Streikbewegung aus den Arbeitern selbst heraus gekommen sei. Das Verhör dauert von 10.00 Uhr abends bis morgens 7.00 Uhr. Gegen Morgen muß er ein acht Seiten umfassendes, in russischer Sprache geschriebenen Protokoll unterschreiben, dessen Inhalt ihm nur von dem Dolmetscher vorher mündlich mitgeteilt worden ist. Dann konnte er gehen.

Am gleichen Tage mittags verläßt er mit seiner Familie (Frau und einem 9jährigen Jungen) Brandenburg und kommt unangefochten über die Sektorengrenze nach Westberlin.

K. war Mitglied der BGL. Die gesamte BGL stand auf Seiten der Arbeiter. Der BGL-Vorsitzende war auf Dienstreise. Es ist unbekannt, ob er mitgemacht hätte. Gewerkschaftlich war er aber in Ordnung.

[Quelle: AdsD-FES, DGB-Archiv/DBG-BV/Internationale Abteilung/Abt. Ausland, 5/DGAJ000060.]