|
Gabriele Schnell
Der 17. Juni 1953 in Rathenow
17. Juni 1953
Mit Beginn der Frühschicht treten die Arbeiter der Rathenower Optische Werke (ROW) in den Streik. Um 7.10 Uhr versammelt sich die Belegschaft auf dem Werkshof und hält eine Protestversammlung ab.
Bald bilden die Arbeiter einen Demonstrationszug und marschieren in das Stadtzentrum. An der Spitze des Zuges fährt ein Traktor.
Der Kreisgerichtsdirektor Langnickel beobachtet das Geschehen:
"Der Demonstrationszug zog an sämtlichen öffentlichen Gebäuden, u.a. auch am Kreisgericht, vorbei. Die streikenden Arbeiter demonstrierten unter folgenden Losungen:
Wir fordern eine HO-Preissenkung
Gebt uns Butter
Hinweg mit der Volksarmee
Entlasst die politischen Häftlinge
Weg mit dem Spitzbart
Weg mit unserer Regierung
Wir fordern freie Wahlen
Im Allgemeinen war der Demonstrationszug diszipliniert ... An dem Demonstrationszug beteiligten sich unter anderem die Arbeiter aus folgenden Betrieben:
Rathenower Optische Werke,
VEB Kesselschmiede,
MEWA Reißverschluss,
Deutsche Notenbank,
LBH Gespannfahrzeugbau,
Handelsorganisation,
Konsum
und ein großer Teil kleiner Betriebe."
In der Nähe des Stadthauses werden Rufe nach dem einstigen Bürgermeister Paul Szillat laut. Der ehemalige Sozialdemokrat ist in der früheren SPD-Hochburg Rathenow sehr beliebt. Wie andere vormalige Sozialdemokraten wurde Paul Szillat 1950 aus politischen Gründen verhaftet.
Einige Demonstranten wollen dann die Tür des Amtsgerichtes gewaltsam öffnen. Mehrere ROW-Arbeiter schreiten beruhigend ein. Einer ruft: "Es ist nicht unsere Aufgabe, zu zerstören, sondern wir wollen in Ruhe und Ordnung für unsere gerechten Forderungen eintreten!"
Der Demonstrationszug der Arbeiter wird zu einer Demonstration der gesamten Bevölkerung. Er endet auf dem Karl-Marx-Platz, wo sich bis zu 20.000 Menschen versammeln. Kurt Wetzel, Sprecher der ROW-Arbeiter, klettert auf den Traktor und bittet "den alten erprobten sozialdemokratischen Kämpfer Karl Renziehausen" um eine Ansprache. Der angesehene ehemalige SPD-Mann, der "wegen antidemokratischen Verhaltens" 1950 aus der SED ausgeschlossen wurde, wiederholt die Forderungen und ruft zur Fortsetzung der Streiks in den Betrieben auf.
Zum Abschluss singen die Menschen das Lied "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Sie reichen sich die Hände, als sie die dritte Strophe anstimmen:
"Brüder, in eins nun die Hände.
Brüder, das Sterben verlacht.
Ewig der Sklav`rei ein Ende.
Heilig die letzte Schlacht!"
Danach gehen die Belegschaften zurück in die Betriebe, bilden Streikleitungen und stellen betriebliche Forderungen auf.
Gegen 12.00 Uhr verlässt der Betriebsschutzleiter des HO-Kaufhauses Wilhelm Hagedorn seinen Arbeitsplatz. Bereits kurz nach Kriegsende war er in Rathenow als Mitarbeiter der politischen Polizei tätig: "Durch diese Tätigkeit wurde er bei der Bevölkerung unbeliebt und zum Teil verhasst", heißt es in einem Volkspolizei-Bericht. Er selbst soll damit geprahlt haben, dass er 300 "Faschisten" und "imperialistische Agenten" entlarvt habe und abholen ließ.
Eine junge Frau ruft auf der bevölkerten Straße: "Dieser Mann da ist Hagedorn, der hat meinen Mann ins Konzentrationslager gebracht, haltet ihn auf, diesen Verbrecher!"
Menschen umringen Wilhelm Hagedorn. Einige schlagen auf ihn ein. Wilhelm Hagedorn flüchtet sich in das Molkereigebäude. Ein Krankenwagen fährt vor. Der Verletzte steigt ein. Aufgebrachte Menschen holen ihn wieder heraus. Zwei 18-jährige schlagen mit Knüppeln auf Wilhelm Hagedorn ein, treiben ihn zum Havel-Kanal und stoßen ihn ins Wasser. Die Zuschauer beobachten, dass der nun Schwerverletzte an das andere Ufer schwimmt. Dort bergen ihn Volkspolizisten und bringen ihn ins Krankenhaus. Am Nachmittag stirbt Wilhelm Hagedorn an den ihm zugefügten Verletzungen.
Gegen 14.00 Uhr marschieren sowjetische Truppen in die Stadt ein. Um 15.00 Uhr befiehlt der sowjetische Stadtkommandant den Betriebsleitern die sofortige Arbeitsaufnahme.
Die Staatssicherheit veranlasst Massenverhaftungen.
Kurt Wetzel und Karl Renziehausen flüchten, vermutlich in der Nacht, in den Westen.
18. Juni 1953
In den Rathenower Optischen Werken (ROW) setzen die Arbeiter den Streik fort. Um 10.40 Uhr meldet die Volkspolizei:
"Im ROW-Rathenow (VEB) wird weiterhin gestreikt. Ebenfalls im Sägewerk Milow. Die Streikenden fordern die Freilassung der Festgenommenen. Festnahmen erfolgen laufend."
Am 22. Juni verurteilt der 6. Strafsenat des Bezirksgerichtes Potsdam fünf Hauptangeklagte im Fall Hagedorn. Zwei 18-jährige erhalten die Todesstrafe, drei weitere Rathenower Freiheitsstrafen zwischen acht und zwei Jahren. Gegen die Todesstrafen legen die Verteidiger Berufung ein. Selbst das SED-Politbüro erhebt Einspruch.
Am 27. Juni wandelt das Oberste Gericht der DDR die Todesstrafen in Zuchthausstrafen von 15 Jahren um.
[Quellen:
BStU, Ast. Potsdam, Allg. S 1/53, Bd. III, IV, IX; BLHA, Rep. 530, Sign. 1011; BStU, Ast. Potsdam, AU, 271/53; BStU, Ast. Potsdam, STA 4511; AdSD, SPD-PV Ostbüro, 0434b, 17.6.1953, Nr. 1677.; AdSD, SPD-PV Ostbüro, 0434b, 17.6.1953, Nr. 1679.; Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Bonn 1996.]
| |