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Peter Schlabinger
Der 17. Juni 1953 in Brandenburg/Havel
An eben diesem 17. Juni 1953, ich war gerade 17 Jahre alt, arbeitete ich als Maurer auf der Baustelle Volkspolizeikreisamt in der Magdeburger Straße in Brandenburg/Havel. Ich hatte im Rundfunk nichts gehört von den Ereignissen in der Berliner Stalinallee und war äußerst überrascht, als ich auf der Magdeburger Straße vom Stahl- und Walzwerk (das war der mit Abstand größte Betrieb in Brandenburg) her eine riesige Menschenmenge auf uns zu kommen sah. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, dass diese Leute Plakate, Spruchbänder mit sozialistischen Parolen und Fahnen herunterrissen. Schnell hatte sich auf unserer Baustelle herumgesprochen, was da in Berlin passiert war, und wir machten etwas, was Bauleute eigentlich sonst nicht tun: wir ließen den Beton in den Mischmaschinen und schlossen uns der Menschenmenge an.
Von Streik, ja von Revolution war die Rede, und die Massen wälzten sich durch die Straßen Brandenburgs. Alles, was an Sozialismus erinnerte, wurde unter frenetischem Jubel der Massen heruntergerissen. Alle auf dem Weg in die Stadtmitte liegenden Betriebe wurden angelaufen und die Arbeiter zur Arbeitsniederlegung aufgefordert. In der alten Schiffswerft an der Havel stellten Demonstranten die Maschinen ab und forderten die Arbeiter auf, mit zu machen.
Erstes Ziel war das Kreisgericht in der Steinstraße. Dort waren inzwischen die politischen Gefangenen befreit worden (auch ein Schulfreund von mir war darunter. Er machte das einzig richtige. Er setzte sich sofort nach Westberlin ab), und die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. Auf einem umgestürzten Gefängniswagen stand ein stadtbekannter verhasster Richter mit einem Strick um den Hals und sollte erhängt werden. Irgendwie gab es aber ein paar Besonnene, die die ganze Sache verhinderten.
Die ganze Stadt war in Aufruhr. Als nächstes ging es zur SED-Kreisleitung. Das Gebäude war inzwischen erstürmt worden und es zeigte sich, wie aufgestaute Wut und Hass zu blindwütigem Handeln befähigt. Unschuldige Schreibmaschinen, Büromöbel und alles, was nicht niet- und nagelfest war, flog aus den Fenstern in einen vorbei fließenden Bach. Als würde man damit das Rad der Geschichte stoppen. Die Genossen hatten längst das Weite gesucht.
Dann zum Rat der Stadt am Puschkinplatz. Inzwischen hatten die Russen eingegriffen und sich dort mit Mannschaftswagen und Panzern positioniert. Und dort passierte dann etwas, was mir möglicherweise viel Ungemach in meinem Leben erspart hat.
In meinem jugendlichen Übermut versuchte ich, von einem Russen-LKW eine Kiste Munition zu entwenden. Warum und wofür, wusste ich in diesem Moment gar nicht. Vielleicht um die Russen am Schießen zu hindern? Sie hatten ja noch gar nicht geschossen. Ein alter Arbeiter beobachtete mich dabei und ich habe bis heute seine Worte nicht vergessen: „Junge, mach Dich nicht unglücklich. Das bringt nichts ein."
Also, ich habe auf ihn gehört und die Sache sein lassen und habe seither das Gefühl, mir eine Menge Probleme erspart zu haben.
Trotzdem war alles wie ein Rausch. Viele glaubten, jetzt ändert sich etwas in Richtung Freiheit, höhere Löhne, besserer Lebensstandard. Obwohl politisch noch unerfahren, hatte ich aber gleich das Gefühl, dass das eine unorganisierte Revolution war, die keine Aussicht auf Erfolg hat. Das hatten wir ja schließlich von Lenin gelernt.
Ganz am Rande erwähnt - und das haben sicher schon viele vergessen -, hatte der 17. Juni 1953 dann noch große Auswirkungen auf ein wichtiges sportliches Ereignis. Im Berliner Olympiastadion war für den 21. Juni das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem 1. FC Kaiserslautern und dem VfB Stuttgart angesetzt. Fritz Walter und Co! Wer wollte das nicht sehen. Viele Karten gingen im Vorverkauf in den Osten. Aber inzwischen war Ausnahmezustand und alle Grenzübergänge waren zu! Mein Freund und ich, ausgemachte Fußballfans, fuhren auch ohne Eintrittskarte erst einmal nach Potsdam, und dort hatte sich herumgesprochen, dass nur für Karteninhaber die Glienicker Brücke geöffnet wird.
Na wir haben dann auf dem schwarzen Markt noch einen billigen Stehplatz ergattert und waren happy. Dieser Tag war schön, aber alles in allem hatte dieser Versuch einer sanften Revolution keinen großen Erfolg. Wieder hatte sich ein Wort Lenins bewahrheitet:
Die Zeit für eine Revolution muss reif sein! Das war sie dann aber Gottseidank 1989, sechsunddreißig Jahre später. Aber am Monument Kommunismus gekratzt hatten wir schon. Ja und heute bin ich glücklich, dass ich das noch erleben durfte.
[Quelle: Schriftlicher Zeitzeugenbericht von Peter Schlabinger, Berlin, Jg. 1936; Kopie im Archiv des ZZF.]
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