Rüdiger Wenzke
Der 17. Juni 1953 im Kreis Zossen - Arbeiterdemonstrationen und Bauernproteste

Der 17. Juni 1953 gehört zweifellos zu den prägendsten Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mehrere hunderttausend Menschen in der DDR legten damals ihre Arbeit nieder und gingen auf die Straße, um gegen das stalinistische System im eigenen Land aufzubegehren. Demonstrationen Berliner Bauarbeiter am 16. Juni 1953 bildeten das Signal für Streiks, Proteste und Kundgebungen in anderen Städten der DDR. Tags darauf verbreitete sich die Erhebung der Arbeiter im ganzen Land. Nicht nur in den "Zentren der Arbeiterklasse", sondern überall in der DDR offenbarte sich in den Juni-Tagen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der SED-Politik.

Bis zum 23. Juni kam es im damaligen Bezirk Potsdam in 14 von 17 Kreisen - insgesamt in 53 Orten - zu Unruhen, Streiks und Protestkundgebungen (1). Demonstrationen wurden u.a. aus Brandenburg, Königs Wusterhausen, Luckenwalde, Premnitz und Werder gemeldet. In Teltow und anderswo wurden sogar Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) von den örtlichen Parteileitungen herbeigerufen, um die "Ordnung" wiederherzustellen (2). Viele Arbeiter aus dem Umland Berlins waren auch direkt in der "Hauptstadt der DDR" an Massendemonstrationen beteiligt.

Im Kreis Zossen gab es Aktionen in Dabendorf, Ludwigsfelde, Rangsdorf, Wünsdorf und Zossen. Arbeiter aus dem Funkwerk Dabendorf und von der Bauunion bildeten hier die Mehrheit der Protestierenden. Ihre Forderungen richteten sich vor allem gegen solche Maßnahmen der SED und des Staates, die seit 1952 die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verschlechtert hatten.

Bauern und Landarbeiter nahmen mancherorts an den spontanen Kundgebungen der Arbeiter teil. So versuchten Bauarbeiter ans Potsdam, Verbündete unter den Traktoristen und Schlossern in der Ludwigsfelder Maschinen-Traktoren-Station (MTS) zu gewinnen. In Zossen versammelten sich am 17. Juni Demonstranten, die sich für eine in freien Wahlen demokratisch legitimierte Regierung ohne die SED aussprachen. Sie unterstützten auch die Forderungen der Bauern nach Herabsetzung des Abgabe-Solls.

Am Abend desselben Tages kam es auf dem Zossener Bahnhof noch einmal "zu starken Menschenansammlungen", da man dort die Fernzüge angehalten hatte. "Als Vorsichtsmaßnahme" deklariert, sollten sie nicht weiter nach Berlin fahren. Um aber einen daraus entstehenden Verkehrsinfarkt noch rechtzeitig zu verhindern, wurde nach Rücksprache mit dem zuständigen Minister entschieden, die Züge doch planmäßig nach Berlin weiterzuführen (3). Insgesamt jedoch blieb es in den Städten und Gemeinden des Kreises am 17. und 18. Juni 1953 ruhig. KVP-Einheiten oder gar sowjetische Truppen griffen in unserem Kreisgebiet nicht ein.

Zumeist machten in diesen Tagen die Menschen auf dem Lande ihrem Unmut über die SED-Politik Luft, indem sie protestierend vor Gemeindeämter zogen, dort diskutierten oder spontan in einigen Betrieben und MTS zeitweilig die Arbeit niederlegten. Nicht selten drohte man auch besonders verhaßten SED-Funktionären oder Vorsitzenden von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) Prügel an.

Daß die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 durch die bewaffnete Gewalt der Herrschenden sowie die Einleitung des sogenannten "Neuen Kurses" in der Politik der SED die latente Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung, auch auf dem Lande, nicht schlagartig eindämmen konnten, zeigte sich in den folgenden Wochen. Bauern traten aus den LPG aus, verweigerten ihr Abgabe-Soll oder sagten auf Gemeindeversammlungen offen ihre Meinung. Bis zum 17. Juni 1953 gab es im Bezirk Potsdam 489 LPG, davon lösten sich 23 bis zum folgenden 10. Juli wieder auf. Dabei hatte der Kreis Zossen, neben Königs Wusterhausen und Rathenow, die meisten LPG-Auflösungen zu verzeichnen, nämlich einen Rückgang von 25 im Juni 1953 auf 17 im September des Jahres (4).

Die Stimmung in der Bevölkerung blieb gereizt. Kaum jemand glaubte an die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenslage ("Neuer Kurs"), zumal sich die materielle Versorgung weiter verschlechterte. Angesichts des Juni-Traumas für die SED war ein rigoroses Vorgehen gegen Kritik bei erneut aufkommender Mißstimmung unter der Bevölkerung vorprogrammiert. Das Überwachungssystem wurde perfektioniert. Schon bald lief es wieder auf Hochtouren.

Im Juli 1953 glaubten denn auch einige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), ein neues "Nest der Konterrevolution" in der Gemeinde Paplitz bei Baruth ausgemacht zu haben. In einem geheimen Bericht hieß es dazu: "Am heutigen Tag (13. Juli - d. A.) legten fünf Gemeindevertreter von Paplitz ihre Arbeit nieder und forderten den Rücktritt der Regierung. In beiden Fällen wurde eindeutig Kr. als Rädelsführer festgestellt. Von Kr. selbst ist bekannt, daß er in der Gemeinde das große Wort führt und sämtliche Maßnahmen der Regierung versucht mit Argumenten des Hetzsenders RIAS zu diskreditieren. Besonders enge Verbindungen unterhält Kr. mit dem Pfarrer des Ortes." (5)

Was war geschehen? Im Frühsommer 1953 wurden zwei Frauen aus Paplitz, die in West-Berlin Eier verkaufen wollten, von den DDR-Behörden gestellt. Sie erhielten für dieses "Verbrechen" aufgrund der seit 1952 verschärften Gesetze zur "Verhinderung der Spekulation mit Lebensmitteln und Industriewaren" Haftstrafen in Höhe von fünf bzw. fünfeinhalb Jahren. Die Paplitzer Bürger waren darüber zu Recht empört.

Am 10. Juli 1953 fand eine Bauernversammlung im Dorf statt, an der über 70 Einwohner teilnahmen. Offizieller Anlaß war eigentlich eine "propagandistische Aussprache" der Bauern über die Maßnahmen des "Neuen Kurses" auf dem Lande. Doch die anwesenden Landwirte dachten gar nicht daran, irgendwelche geschönten Stellungnahmen abzugeben. Die Versammlung wurde so - zum Entsetzen des anwesenden SED-Bürgermeisters - zu einem Forum der Unzufriedenheit der Paplitzer mit der offiziellen Politik. Ohne Scheu kritisierten sie die sogenannten "Erleichterungen" in der Pflichtablieferung, wandten sich gegen Bevormundungen bei der Einbringung der Ernte und traten offen gegen das anmaßende Verhalten von Funktionären auf. Ihren besonderen Unmut brachten sie aber über die Verurteilung der beiden Paplitzer Bäuerinnen zum Ausdruck.

Nicht vergessen war auch die im Jahre 1948 erfolgte Verhaftung eines damals gerade 15jährigen Jungen aus Paplitz, der unter fadenscheinigen Gründen von der sowjetischen Besatzungsmacht zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war.

Einstimmig beschlossen die Versammlungsteilnehmer, eine Resolution mit der Forderung nach Revision der Urteile zu verfassen und sie dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, der Staatsanwaltschaft Zossen sowie der Presse zu übergeben. Der Paplitzer Heinz Krüger ("Kr."), der für seine kritische Haltung gegenüber dem SED-Staat bekannt war und daraus auch keinen Hehl machte, übernahm gemeinsam mit dem Pfarrer des Ortes, Bernd Schulz, die Ausarbeitung der Resolution. Darin wurde die Freilassung der betreffenden Bürgerinnen bis zum 30. Juli des Jahres verlangt, ansonsten würden die Bauern im Dorf ihr Ablieferungssoll verweigern. In den Tagen darauf sammelte man Unterschriften, um der Resolution einen entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Inzwischen hatten jedoch schon Spitzel die "zuständigen Organe" der Staatssicherheit über die Vorgänge in Paplitz informiert. Kurze Zeit später griff die Stasi ein, um ein Exempel zu statuieren.

"Kr." wurde am 22. Juli 1953 mit einem "großen Aufgebot an Einsatzkräften", wie sich Heinz Krüger heute rückblickend erinnert, verhaftet. Ohne Rücksicht auf seine schon damals angeschlagene Gesundheit transportierte man ihn nach Potsdam und steckte ihn ins Stasi-Gefängnis.

Dort begannen noch in der Nacht die Verhöre, in denen Heinz Krüger des Verstoßes gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung (sogenannte Boykotthetze) beschuldigt wurde. Fragen zur Person, zum Ablauf der Ereignisse in Paplitz sowie zu seinen "Hintermännern" in West-Berlin standen im Mittelpunkt der ersten Vernehmungen. Aufgrund der Haft und der Verhöre verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends.

Während eines weiteren Verhörs am 23. Juli erlitt der Inhaftierte einen Magendurchbruch. Buchstäblich in letzter Minute wurde er in ein Krankenhaus eingeliefert. Couragierte Ärzte erklärten den Patienten nach seiner schweren Operation auf Monate hinaus für haft- und vernehmungsunfähig. Da auch Paplitzer Bürger die Entlassung Heinz Krügers aus dem MfS-Gewahrsam forderten, stellte die Stasi im Frühherbst 1953 die Untersuchung "des Falles" erst einmal ein.

Obwohl sich dadurch die Lage in Paplitz beruhigt hatte, sahen sich die SED-Funktionäre und Staatsorgane doch veranlaßt, weitere Konzessionen zu machen. Schon bald darauf kamen die beiden verurteilten Bäuerinnen im Rahmen einer generellen Überprüfung von rechtskräftigen Urteilen wieder auf freien Fuß. Das war den Forderungen der Paplitzer Bürger und nicht zuletzt dem Engagement von Heinz Krüger und seinen Mitstreitern zu verdanken.

Heinz Krüger indessen blieb als politisch unbequemer Bürger im Blickfeld der Stasi. Daß ihn die Mitarbeiter des MfS nicht mehr aus den Augen ließen, bekam der durch die haftbedingte Krankheit schwerbeschädigte Mann noch oft, vor allem bei der Arbeitssuche, zu spüren. Heute lebt Heinz Krüger, der seiner politischen Einstellung und seiner christlichen Grundüberzeugung trotz aller Schikanen seitens der DDR-Behörden treu geblieben ist, als Rentner in Paplitz (6).

Die hier skizzierten Ereignisse vom Juni 1953 im Kreis Zossen und die Vorgänge in Paplitz vom Juli desselben Jahres stellen mehr als nur Fußnoten in der "großen Geschichte" der ersten Erhebung gegen das stalinistische System dar. Sie sind ebenso untrennbar mit der über 40jährigen Geschichte unseres Kreises verbunden, die es gilt, im Interesse einer notwendigen konkret-historischen Aufarbeitung neu zu befragen und kritisch zu bewerten.

Anmerkungen:

1) Siehe dazu Torsten Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991, S. 290. Hier sind auch weitere Ausführungen zu Ursachen und Verlauf sowie den Auswirkungen der Juni-Erhebung in der DDR zu finden. Literarisch verarbeitet wurde sie von Stefan Heym, 5 Tage im Juni, Frankfurt am Main 1977.
2) Siehe dazu Bundesarchiv/Militärisches Zwischenarchiv Potsdam, Pt 3436, Bl. 109.
3) Siehe dazu Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam, MDI, 8/361, Bl. 130.
4) Siehe dazu ebenda, 8/309, Bl. 170ff.
5) Zwischenarchiv Normannenstraße, Information 1020, 22. Juli 1953, zitiert nach Armin Mitter, Die Ereignisse im Juni und Juli 1953 in der DDR. Aus den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beiträge zur Wochenzeitung Das Parlament, B 5/91, 25.1.1991, S. 31-41.
6) Ich danke Herrn Heinz Krüger, Paplitz, für die mir gewährte freundliche Unterstützung.

[Quelle: Kulturamt des Kreises Zossen (Hrsg.), Heimatkalender für den Kreis Zossen, 36. Jg. 1993, S. 33-38. - Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Dr. Rüdiger Wenzke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam.]