|
C h e f
der Bezirksbehörde der VP
Suhl/Meiningen
Meiningen, den 29. Juni 1953
Da/Bi.
An den
Chef der Deutschen Volkspolizei
Genossen Generalinspekteur M a r o n
B e r l i n
über den Operativstab
Betr.: Auswertung der Ereignisse seit dem 16. Juni 1953.
Bezug: Dortiges Fernschreiben Nr. 581/53 vom 21.6.1953.
zu 1.)
In der Nacht vom 16. zum 17.6.1953 begannen die Provokationen im Bereich der BDVP Suhl.
- Im Bereich des VPKA Hildburghausen, Oberneubrunn, verließen in der Nacht vom 16. zum 17.6.1953 ca. 17-20 Personen eine Gastwirtschaft und zogen, mit einem Feuerwehrhorn ausgerüstet, durch den Ort und riefen Losungen, die erkennen ließen, daß sie ihre Selbständigkeit als Gemeinde zurückhaben wollten und die Eingemeindung des Ortes Oberneubrunn ablehnen, aus. Es kam zu keinen Ausschreitungen. Ein Eingreifen der Volkspolizei war nicht erforderlich, da diese "Demonstration" keinen Anklang bei der örtlichen Bevölkerung fand.
- Am 17.6.1953 wurde im Bereich des VPKA Hildburghausen - Eisfeld, Zweigstelle der Firma Carl Zeiss, Jena - eine Betriebsversammlung durchgeführt aufgrund allgemeiner Unruhe im Betrieb. Die Betriebsversammlung verlief im Beisein des Sekretärs der IG-Metall im allgemeinen ruhig, jedoch entschloß sich die Nachtschicht, nach der Betriebsversammlung in Streik zu treten, indem sie äußerte, daß sowieso kein Material da sei und sie somit auch nicht arbeiten würden. Bei der Schicht handelt es sich um ca. 35 Arbeiter. Es entstand ein Arbeitsausfall von ca. sechseinhalb Arbeitsstunden. Das Einschreiten der Volkspolizei war nicht erforderlich, da es zu keinerlei Ausschreitungen kam und es der Bezirksleitung der Partei durch den Einsatz von Instrukteuren und Entsendung von Delegationen gelang, die Forderung der Arbeiter zu überprüfen bzw. zu realisieren und die Arbeit am 18.6. im Betrieb wieder völlig normal verlief.
- Am 18.6.1953 wurden im Bereich des VPKA Hildburghausen, Hellingen, vier Provokateure vom MfSt in Verbindung mit der Abteilung K festgenommen. Es handelt sich hierbei um folgende Personen:
Otto W., ehem. faschistischer Offizier, jetzt Lagerhalter der BHG, parteilos Ernst Sch., Mittelbauer, parteilos Edwin K., Mittelbauer, parteilo Alfred St., Mittelbauer, parteilos. Die Provokateure versuchten in einer Versammlung der Haus- und Hofgemeinschaften Funktionäre des Partei- und Staatsapparates zu kritisieren und sodann zum Sturz der Regierung aufzurufen. Nach der Festnahme der Provokateure war die Ruhe im Ort sofort wiederhergestellt.
- Am 19.6.1953 wurde auf der Hauptstraße von Meiningen ein Drehorgelmann festgenommen und dem VPKA zugeführt. Dieser sang Hetzlieder gegen die Partei und Regierung. Der Drehorgelmann war, wie die Überprüfung ergab, in der Zeit vom 16.6. bis zu seiner Festnahme in Berlin, Jena, Weimar und Meiningen tätig gewesen.
Im Allgemeinen war die Lage im Bezirk ruhig. Obwohl in den verschiedensten Variationen versucht wurde, Provokationen zu entfachen, so wurden beispielsweise in verschiedenen Fällen anonyme Anrufe an BPO-Sekretäre und sonstige Funktionäre festgestellt, in denen man zu Solidaritätsstreiks für die Berliner Arbeiter aufforderte. In keinem Fall gelang es, durch diese Maßnahmen Provokationen oder Streiks zu entfachen. Im Bereich des VPKA Hildburghausen waren starke Auflösungserscheinungen der LPG's zu verzeichnen. In einer Bezirksleitungssitzung der Partei wurde die Lage der LPG's im Bezirksmaßstab kritisch behandelt; daraufhin wurden Partei-Instrukteure entsandt, um diese Erscheinungen abzustoppen, was auch gelang. Bei der Analyse zeigte sich, daß es sich in der Hauptsache um solche LPG's handelte, die in administrativer Form in den letzten Wochen gebildet wurden. Die Ursachen der Auflösung sind in der mangelhaften Unterstützung, wirtschaftlichen Schwierigkeiten usw. zu suchen. Zu Provokationen vor Haftanstalten ist es in keinem Fall gekommen. Die Ursachen liegen hauptsächlich in den schnellen, unbürokratischen Entlassungen, die auf Initiative des Chefs der BDVP durchgeführt wurden, die teilweise gegen den Willen der zögernd arbeitenden Staatsanwaltschaft gingen.
zu 2.)
Die Alarmierung der verantwortlichen VP.-Offiziere (Abteilungsleiter) der BDVP wurde durch den Chef der BDVP am 17.6.1953, 04.00 Uhr, durchgeführt. Hier wurden die zu treffenden Sofortmaßnahmen festgelegt. Die Alarmierung der VP.-Angehörigen erfolgte ab 06.00 Uhr.
zu 3.)
Der Chef der BDVP befand sich ständig beim Kampfstab der Bezirksleitung der Partei. Als kommandierender Chef wurde Gen. VP.-Kdr. R. mit dem Polit-Stellvertreter, Gen. VP.-Oberrat B. eingesetzt. Des weiteren befanden sich der Leiter des verstärkten Operativstabes sowie die Abteilungsleiter K und S ständig am Sitz der BDVP. Die übrigen verantwortlichen Offiziere der BDVP waren als Instrukteure in den einzelnen VPKÄ eingesetzt sowie Leiter von Einsatzgruppen.
Mit Sonderaufträgen waren beauftragt: Abteilungsleiter SV, Abteilungsleiter BS und Referatsleiter PM 2.
zu 4.)
Die Alarmierung der Ämter erfolgte nach den in der Leitungssitzung festgelegten Sofortmaßnahmen am 17.6.1953, 07.00 Uhr.
Die VPKA-Leiter erhielten ein Blitz-Fernschreiben mit folgendem Wortlaut:
"Betr.: Durchführung von Sicherungsmaßnahmen im Rahmen des erhöhten Dienstes.
Im Maßstab der Deutschen Demokratischen Republik ist zu verzeichnen, daß der Klassengegner unter Zugrundelegung der Maßnahmen unserer Regierung seine Arbeit insbesondere in den Industriezentren usw. durch Hetze, Gerüchtemacherei und Aufwiegelung begonnen hat. Es macht sich daher erforderlich, besondere Sicherungsmaßnahmen zu treffen:
Sie werden hiermit angewiesen, folgende Maßnahmen durchzuführen:
- Im gesamten Bereich des VPKA ist der erhöhte Dienst durchzuführen. Die Abteilungen S, BS und SV treten sofort in den Zweiteilungsdienst.
- Öffentliche Gebäude von Bedeutung, wie Partei, Kreisrat usw. sowie wichtige Versorgungsbetriebe, wie Telegrafenamt, Gaswerk, Wasserwerk usw. sind in den erhöhten Dienst einzubeziehen.
- Die freiwilligen Helfer der VP sind zum Einsatz zu bringen und im Rahmen der erhöhten Wachsamkeit schwerpunktmäßig zu verwenden.
- Besonderes Augenmerk ist auf größere Industriebetriebe sowie die Grenze zu legen. Zwischenfälle irgendwelcher Art sind sofort dem Operativstab zu melden.
- Aus den tagesdiensttuenden Abteilungen im VPKA ist eine Einsatzreserve zu bilden in Stärke von 1:15, die nach Möglichkeit nur aus männlichen VP.-Angehörigen besteht. Diese Einsatzreserve ist von 17.00 - 08.00 Uhr im VPKA abrufbereit unterzubringen.
- Für diese Einsatzreserve ist ein fahrbereiter MTW mit Fahrer zur Tag- und Nachtzeit bereitzuhalten.
- Zur Ausrüstung der Einsatzreserve sind Pistolen und Gummiknüppel sowie Taschenlampen bereitzulegen, jedoch noch nicht zur Ausgabe zu bringen.
- Die Einsatzreserve muß zur Nachtzeit kaserniert schlafen, so daß der Tagesdienst gewährleistet ist. Falls die Kräfte reichen, sind zwei Einsatzreserven zu bilden, die sich in der benannten Zeit im Zweiteilungsdienst ablösen.
- Der VPKA-Leiter und sein Vertreter lösen sich ebenfalls zur Nachtzeit ab, so daß das VPKA ständig mit einem qualifizierten Offizier besetzt ist.
- Der Operativstab ist, falls erforderlich, zur Nachtzeit durch eine geeignete Schreibkraft zu verstärken.
- Zusatzverpflegung ist an alle im erhöhten Dienst stehenden VP.-Angehörigen zu verausgaben.
- Bei der BDVP sind ähnliche Maßnahmen zur Durchführung gelangt und folgende Abteilungen sind auch zur Nachtzeit mit einem verantwortlichen Offizier besetzt: K, TD, S, SV, F, PM, PV und PS.
- Mit der Partei und dem MfSt ist ständig Verbindung zu halten.
Es ist anzunehmen, daß die Maßnahmen des erhöhten Dienstes für einige Tage bestehen bleiben. Für die Aufhebung dieser Maßnahmen ergeht ein besonderer Befehl des Chefs der BDVP Suhl."
zu 5.)
Die Verbindung zu den anderen Dienststellen wurde sofort hergestellt. Einheiten der kasernierten Volkspolizei sind nicht im Bezirk untergebracht, dafür wurde eine enge Verbindung mit der Grenzpolizei hergestellt, die sich in diesen Tagen besonders bewährte und vor allem den Beweis geschaffen hat, daß die Soldaten der Grenzpolizei und die Genossen der territorialen Volkspolizei, wenn es darauf ankommt, fest zusammenstehen und alle kleinen Tagesschwierigkeiten, die sonst hin und wieder auftraten, vergessen sind.
zu 6.)
Im Bezirk ergaben sich als Schwerpunkte:
das Zentrum der Waffenindustrie Suhl,
die Industrie in Sonneberg, unmittelbar an der D-Linie,
sowie die großen Kalischächte, darunter der größte Schacht Europas wie Merkers im Kreis Bad Salzungen, die teilweise ebenfalls unmittelbar an der D-Linie gelegen sind.
zu 7.)
Eine Bekämpfung der Schwerpunkte machte sich nicht erforderlich, jedoch wurden vorbeugende Maßnahmen in Form von Konzentrationen bewaffneter Sicherungskräfte durchgeführt.
[...]
[zu] 15.)
Die Erfahrungen des Einsatzes der Volkspolizei zeigten, daß
- die Bewaffnung der Genossen Volkspolizisten äußerst unzureichend war, so daß beispielsweise nur ein Zug der Wacheinheit mit Karabiner ausgerüstet werden konnte; ferner besteht ein Mangel an Pistolenmunition, vorwiegend Kaliber 7,65. Es ist zu verzeichnen, daß alle Offiziere nur über vier Schuß Munition verfügen, wovon man durchschnittlich noch 1-2 Schuß als Blindgänger betrachten muß aufgrund der erheblichen Überlagerung.
Durch Anlieferung automatischer Waffen seitens der HVDVP am 29.6. wird bewiesen, daß diese Frage von der HVDVP anerkannt wurde.
- Die Fahrzeugfrage konnte, besonders der Einsatz von MTW's und Spezialfahrzeugen wie Sanka, Lautsprecherwagen usw., als ausreichend bezeichnet werden. Insbesondere macht sich ein Mangel von Krädern bemerkbar und es mußte in vielen Fällen ein Ausweg durch den Einsatz von Privat-Maschinen der VP.-Angehörigen sowie Fahrzeugen der GST gesucht werden.
- Das Nachrichtenwesen war den Aufgaben gewachsen, jedoch zeigte sich eine Überbelastung der Fernschreiber. Insbesondere in den ersten Tagen war eine Überschneidung in der Berichterstattung zur HVDVP zu verzeichnen, die den obengenannten Nachrichtenablauf wesentlich störte. Erst ein Befehl des Gen. Chefinspekteur Grünstein brachte eine klare Linie, in dem festgelegt wurde, daß nur ein Situationsbericht der HVDVP zuzuleiten ist.
Besonders bei den Sicherungsmaßnahmen gegen den geplanten Reichsbahnstreik traten derartige Überschneidungen in Erscheinung. So gingen beispielsweise bei der BDVP innerhalb kurzer Zeit vier Blitz-Fernschreiben ein, welche einander ähnlich waren und eine dreimalige Verschiebung einer Vollzugsmeldung usw. mit sich brachten. Eine ähnliche Erscheinung war bei der BDVP zu verzeichnen. Dieser Mangel entstand dadurch, daß anfangs keine genaue Befehlsgebung über den Fernschreibverkehr an die VPKÄ ergangen war.
- Die Versorgung der VP.-Angehörigen durch die Abteilung Intendantur war gut und trug wesentlich dazu bei, die Einsatzfreudigkeit der Genossen Volkspolizisten zu erhöhen und zu erhalten. Insbesondere wirkte sich auch die neue Einkleidung der VP.-Angehörigen in dieser Richtung aus.
Es zeigte sich, daß die Wacheinheit als die stärkste Reserve der BDVP angesehen wurde. Eine volle Motorisierung wurde durch Einsatz von MTW durchgeführt; dies gab die Möglichkeit, Einheiten der Wacheinheit schwerpunktmäßig einzusetzen.
Die Frage der mangelhaften Bewaffnung ist jetzt durch die Zuteilung der automatischen Waffen gelöst worden, so daß wir in Zukunft in der Wacheinheit zwei MP-Züge zur Verfügung haben.
In der gesamten Einsatzzeit zeigte sich, daß die in der Volkspolizei durchgeführte Ausbildung und Schulung dazu beigetragen hat, die Disziplin in starkem Maße zu erhöhen. Als wesentlicher Mangel wurde jedoch erkannt, daß in der Ausbildung die polizeitaktischen Maßnahmen, wie Räum- und Sperrketten, wenig Beachtung finden.
Des weiteren wurde festgestellt, daß die praktische Ausbildung mit der Waffe, insbesondere mit der Pistole, bei weitem verstärkt werden muß. Es zeigt sich auch, daß die Genossen Volkspolizisten erforderlichenfalls den Gummiknüppel nicht unter Berücksichtigung der dafür erforderlichen Gesichtspunkte handhaben und auch hierin keinerlei Technik besitzen.
Ein weiterer Mangel sind bei Einsätzen mit Gummiknüppel die Dienstmützen der Volkspolizisten, die keinen Kopfschutz für die Volkspolizisten darstellen und somit die Gefahr von Kopfverletzungen groß ist, was die Einsatzfähigkeit der Genossen Volkspolizisten stark behindert.
In dieser Frage müßte seitens der Polizeiführung eine Lösung gefunden werden.
Insgesamt kann man somit in der Frage der Ausbildung feststellen, daß in Zukunft die Ausbildungspläne diese Dinge berücksichtigen müssen und es wird vorgeschlagen, eine Überprüfung derselben vorzunehmen.
Chef der BDVP Suhl
Dahl
VP.-Inspekteur
[Quelle: BArch, DO-1/11.0/306, Bl. 347-354 (Auszüge); Namen von den Hg. anonymisiert; vollständig veröffentlicht in: Torsten Diedrich/Hans-Hermann Hertle (Hrsg.), Alarmstufe "Hornisse". Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953, Berlin 2003.]
| |