Gerd Langguth (Hrsg.) Berlin: Vom Brennpunkt der Teilung zur Brücke der Einheit, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1990, S. 56 ff. (Auszug)


IV. Kalter Krieg und Zweite Berlinkrise

Obwohl die Blockade im Mai 1949 endete und die Berliner Westsektoren Unterstützung durch die Westmächte und die sich bildende Bundesrepublik Deutschland erwarten konnten, war die Zukunft der Stadt nicht gesichert. Durch die doppelte Demontage, zunächst durch die Sowjetunion, dann durch die Westmächte, durch die Annullierung fast der gesamten Sparguthaben, durch die Notwendigkeit, zahlreiche Angestellte des öffentlichen Dienstes aus dem jetzt abgespalteten Sowjetsektor zu übernehmen und schließlich durch die Abwanderung fast aller Unternehmensleitungen nach Westdeutschland waren hoffnungslos erscheinende wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse entstanden 32. 1949/50 gab es in Berlin West 300.000 registrierte Arbeitslose. Eine Angleichung der Lebensverhältnisse Berlins an die Westdeutschlands, die sich rasch verbesserten, war nur mit einer erheblichen Phasenverschiebung möglich. Magistrat und Stadtverordnetenversammlung in den Westsektoren arbeiteten eine Verfassung aus, die Berlin den Status eines Landes und einer Stadt zugleich verlieh, was die Möglichkeit schuf, Rechte und Pflichten eines Bundeslands zu übernehmen. Der grundsätzliche Geltungsanspruch dieser Verfassung von 1950 für ganz Berlin blieb erhalten, wenn sie auch selbstverständlich im Ostsektor nicht in Kraft trat. Aus dem Magistrat wurde der Senat, aus der Stadtverordnetenversammlung das Abgeordnetenhaus 33.

Auf dieser neuen Grundlage konnte Berlin allmählich in die Bundesrepublik Deutschland hineinwachsen, obwohl es bis heute nach Alliiertem Recht kein Bundesland ist. Für die künftige Entwicklung entscheidend wurde das dritte Überleitungsgesetz im Jahre 1952 34. Danach verpflichtete sich Berlin, alle Bundesgesetze zu übernehmen, soweit diese nicht Status- oder Sicherheitsfragen betrafen, da für diesen Bereich auch weiterhin die Besatzungsmächte zuständig blieben. Andererseits verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, Berlin diejenigen Finanzzuschüsse zu gewähren, die für seine Entwicklung erforderlich waren, aber aus Berliner Hausmitteln nicht erbracht werden konnten. So konnten Wirtschaft und Finanzen in den Westsektoren stabilisiert werden. Mit seinen freieren Lebensverhältnissen und seinem allmählich wachsenden Wohlstand gewann Berlin eine zunehmende Anziehungskraft für Bewohner des Ostsektors der Stadt und der Deutschen Demokratischen Republik. Die folgenden Jahrzehnte zeigten, dass das kommunistische Herrschafts- und Wirtschaftssystem nicht bloß vorübergehend, sondern dauernd unterlegen blieb.

Hoffnungen, die Siegermächte könnten in sich absehbarer Zeit auf eine gemeinsame Deutschlandpolitik einigen, erfüllten sich nicht. Beide Teile Berlins wurden in eine sich verfestigende Staatsbildung in Deutschland-West und Deutschland-Ost einbezogen. Auch der Tod Stalins 1953 brachte keine Bewegung in die deutsche Frage. Rivalitätskämpfe in der Moskauer Führung schufen Unsicherheiten im Politbüro der SED, das zwischen einer Milderung und einer Verschärfung der kommunistischen Umgestaltungsmaßnahmen schwankte. So kam es im Ostsektor Berlins und in vielen Teilen der DDR am 16. und 17. Juni 1953 zu einem Arbeiteraufstand, der wirtschaftliche Ursachen hatte, aber bald politische Ausmaße annahm 35. Da weder die Polizei noch die in Aufstellung befindliche Armee der DDR als zuverlässig angesehen werden konnten, griff die sowjetische Besatzungsmacht mit eigenen Truppen ein und zerschlug die Bewegung. Dabei zeigte sich, dass die Westmächte den Besitzstand der Sowjetunion in Europa voll respektierten. Sie verzichteten nicht nur, was zu verstehen war, auf eine militärische Intervention, sondern enthielten sich auch jeder diplomatischen Beeinflussung ihres früheren Bündnispartners. So wurde die Spaltung Deutschlands verfestigt.

Bei ihren Versuchen, wenigstens eine beschränkte Souveränität zu erreichen, musste die Bundesrepublik Deutschland die Interessen der Westmächte beachten. Auch diese waren nicht bereit, dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht zu gewähren. Sie lockerten die Bestimmungen des Besatzungsstatus nur in eben dem Umfange, in welchem die Bundesrepublik in ein zunächst nur wirtschaftliches, dann aber auch politisch-militärisches System des Westens übertrat. So entstand stufenweise die Europäische Gemeinschaft 36, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen her war. Nach dem Scheitern eines Vertrages über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde die Bundesrepublik Deutschland auch Mitglied der Organisation des Nordatlantik-Vertrages (NATO) 37. Durch eine von den Vertragspartnern nicht beanstandete Erklärung der Bundesrepublik wurde Berlin Bestandteil der Europäischen Gemeinschaft 38. Zum Schutzbereich der NATO gehört die Stadt aber lediglich durch die Tatsache, dass deren Mitglieder USA, Großbritannien und Frankreich Besatzungsmächte in Berlin sind und in ihrem jeweiligen Sektoren Streitkräfte unterhalten.

Eine analoge Entwicklung vollzog sich im Ostsektor. Auch die DDR und, allerdings bis in die späten siebziger Jahre hinein mit einem Sonderstatus, die acht Verwaltungsbezirke des Sowjetischen Sektor traten in den von der Sowjetunion geführten Bock ein. Allerdings hat auch die Sowjetunion bis zur Gegenwart ihre Rechtsansprüche aus den Kriegsabmachungen der Sieger gegenüber Deutschland als Ganzem wie gegenüber der DDR aufrechterhalten, obwohl beiden deutschen Teilstaaten 1954/1955 von ihren jeweiligen Besatzungsmächten Souveränität zu gesprochen wurde.

Die sowjetische Führung hat offenbar seit 1955 vornehmlich an die Behauptung des von Stalin geschaffenen Herrschaftsbereichs in Europa gedacht und daher Freiheitsbewegungen in Deutschland, in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei unterdrückt, anstatt sie für eigene Interessen einzusetzen. Der in dieser Zeit zur Macht aufsteigende Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, hat zwar versucht, den Stalin-Mythos, zuerst auf dem XX. Parteitag im Jahre 1956, zu zerschlagen, entwickelte aber kein konsequentes Programm der Umgestaltung der Innen- wie der Außenpolitik. Vielleicht vorhandene innenpolitische Wirkungsmöglichkeiten nahm er sich, als er nach den sensationellen Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt seit 1957 die neue Machtstellung seines Landes nicht zu umfassenden Verhandlungen mit den Westmächten ausnutzte, sondern diese durch das November-Ultimatum von 1958 schroff herausforderte.

In Noten an die drei Westmächte erklärte Chruschtschow 39 die interalliierten Abmachungen über Berlin einseitig für erledigt und verlangte gleichzeitig den Abzug der Truppen aus ihren Sektoren innerhalb von sechs Monaten. Diese drei Sektoren sollten sodann eine entmilitarisierte freie Stadt bilden, die ihre Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland aufzugeben hätte. Der sowjetische Politiker nutzte damit den "Sputnik-Schock", der die Bevölkerungen und die Regierungen vor allem der angelsächsischen Staaten erfasst hatte. Diese wären offenbar zu weitreichenden Zugeständnissen bereit gewesen, welche die Sicherheit Berlins gefährdet hätten. Chruschtschow aber waren diese Zugeständnisse nicht weitreichend genug. Zwar machte er deutlich, dass er auf der Abzugsfrist von sechs Monaten nicht bestehe, ließ aber in den Forderungen nicht wesentlich nach. So entstand noch einmal eine westliche Einheitsfront, die das Ultimatum gegenstandslos machte, obwohl es nicht zurückgezogen wurde.

Für Berlin, das sich in den fünfziger Jahren konsolidiert hatte und relativ stabile wirtschaftliche Verhältnisse aufwies, begannen erneut unruhige Jahre. Auch die Bevölkerung der DDR wie die des Ostsektors von Berlin musste sich nun mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass die ganze Stadt in absehbarer Zeit von Westdeutschland abgeschnürt werden könnte. Die bis dahin eher beiläufige, wenn auch immer fühlbare Abwanderungsbewegung nach Westdeutschland entwickelte sich ähnlich zu einer Massenflucht, besonders als die Sowjetunion und die DDR ihre Politik verschärften.
Anmerkungen

32 Dazu Günter Braun, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft. Lehren und Erkenntnisse, hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin 1987, S. 223 ff.

33 Text bei I. von Münch (Anm. 2), S. 158 ff.

34 Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966 (Anm. 2) S. 186 ff.

35 Zur Bewertung H. Weber (Anm. 6), S. 128

36 Vgl. Claus Schöndube (Hrsg.). Europa. Verträge und Gesetze, Bonn 1982

37 Unüberholt Gerhard Wellig. Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 19433-1955. Die internationalen Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967

38 Erklärung vom 9. Dezember 1957, in: Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966 (Anm. 2), S. 183

39 Reden, Erklärungen und Noten, in: ebd., S. 296 ff.